3. Orbitale Autoimmunerkrankungen
A. Eckstein, M. Oeverhaus, K. Al-Ghazzawi, I. Neumann
Klinik für Augenheilkunde, Sektion Orthoptik, Orbitazentrum, Universität Duisburg
Essen
Orbitale autoimmune Entzündungen lassen sich nach der Pathogenese/Pathohistologie
unterscheiden in vaskulitische, granulomatöse, histiozytäre, idiopathisch
fibrosierend-sklerosierend, IgG4-lymphoplasmazelluläre Entzündungen und Kollagenosen
und die Endokrine Orbitopathie siehe [Abb.
4]. Die Abbildung wurde modifiziert nach Klingenstein et al 2021 und Gordon
2006 [60]
[61].
Abb. 4 Übersicht über entzündliche autoimmune Augenhöhlenerkrankungen.
Am häufigsten ist die Endokrine Orbitopathie, gefolgt von IOI, IgG4 RD und
GPA.
Die häufigste Form ist die Endokrine Orbitopathie (EO), die meist im Zusammenhang
mit
einer Autoimmunthyreopathie vom Typ Morbus Basedow assoziiert ist und bei voller
Symptomausprägung ein charakteristisches klinisches Bild aufweist. Unter den
zahlreichen weiteren Autoimmunerkrankung der Orbita, die mit oder ohne systemische
Beteiligung auftreten können, folgen mit absteigender Häufigkeit die idiopathische
orbitale Inflammation (IOI), früher auch orbitaler Pseudotumor genannt, die
sogenannten IgG4-assoziierten Erkrankungen (IgG4RD) und Granulomatose mit
Polyangiitis (GPA).
3.1 Diagnostik
Die klinische Untersuchung der Patienten umfasst Sehschärfeprüfung,
Pupillentestung, Untersuchung der Okulomotorik, Exophthalmometrie, Erhebung des
Lidbefundes, Spaltlampen-Untersuchung, Tonometrie, Fundus-Untersuchung und
Funktionsuntersuchungen bei Verdacht auf Nervus opticus Kompression (Farbsehen,
OCT, Gesichtsfelduntersuchung).
Klinisch verhalten sich die Erkrankungen sehr ähnlich, so dass die Diagnose nur
durch eine Biopsie gestellt werden kann. Lediglich bei einer EO, einer
klassischen Myositis und bei vorbekannter Autoimmunerkrankungen ist dies nicht
erforderlich. Zusammen mit umfangreichen Laboruntersuchungen und Bildgebung wird
die Diagnose gestellt ([Tab. 5]
Tab. 5 Laboruntersuchungen bei orbitalen
Autoimmunerkrankungen.
BB und Diff BB, Routine
|
CRP und BSG
|
Autoantikörper: ANCA-IFT, Anti-MPO, Anti-PR3, ANA-IFT,
Anti SS-A,
|
SS-B, anti-dsDNA, anti-CCP, CTD-Profil…Rheumafaktor
|
ACE, siL2r, Parathormon (für Sarkoidose)
|
Immunfixation
|
Lysozym, C3 und C4
|
IgG Subklassen è IgG4
|
Wenn Muskeln isoliert verdickt: TSH, TRAK, TPO Ak,
Myositisblot
|
Da immunsuppressive Therapie geplant:
|
Serologie (Hepatitis, anti-Hbs, anti-Hbc, HbsAg,
anti-HCV, HIV), Quantiferon Test
|
3.2 Durchführung der Biopsien
Die Biopsien werden normalerweise unter Vollnarkose durchgeführt, wobei der
chirurgische Zugang durch die Lokalisation der Entzündung bestimmt wird.
Eade et al. 2018 empfiehlt: die Oberlidhautfalte für Läsionen im Bereich des
Levator palpebrae und Rectus superior, eine laterale Kanthotomie für den
lateralen Rectus, ein „swinging eyelid“ Zugang des Unterlides oder einen unteren
Bindehautfornix-Zugang für Läsionen in Bereich der unteren Orbita und
transkarunkulär für mediale Läsionen. Die Entfernung von Knochen ist selten
erforderlich, um eine adäquate Probe zu erhalten [62]. Ein ähnliches Vorgehen empfiehlt
Mombaerts et al (2016): Hautfaltenschnitt am oberen Augenlid für die oberen
Massen (z. B. Tränendrüse) und transkonjunktival für die unteren [63]. Als Akronym formuliert sie die
wichtigsten Regeln die man dabei einhalten sollte: NAILS:
Für intrakonale Läsionen, die schwer zugänglich sind und bei denen in der
Vergangenheit die HNO, Kieferchirurgie oder Neurochirurgie mit großen Zugängen
bemüht werden mussten, sind inzwischen erfreulicherweise navigierte Techniken
entwickelt worden. Ein Beispiel ist die Feinnadelbiopsie mit PET/CT/MRI
image-guided navigation mit einer 14-Gauge-Nadel mit 15cm Länge (Temno needle
von CareFusion, Inc., Cardinal Health, Dublin, OH) sowie eine koaxiale
18-Gauge-Nadel mit 6cm Länge (Temno Evolution, Cardinal Health, Dublin, OH)
[64]. Eine weitere Option ist die ist
die Nutzung der Endoskopie bei transnasalen Zugängen aber auch für tiefe
Biopsien mit schlechter Sicht. Unadkat et al. (2018) beschreiben eine navigierte
endoskopische transnasale Technik für intrakonale Läsionen anhand von 21
Patienten. Dabei ergab sich lediglich bei 2 Patienten ein unspezifisches
Ergebnis [65].
3.3 Endokrine Orbitopathie
A. Eckstein, M. Oeverhaus, K. Al-Ghazzawi, I. Neumann
Klinik für Augenheilkunde, Sektion Orthoptik, Orbitazentrum, Universität Duisburg
Essen
3.3.1 Definition
Die endokrine Orbitopathie (EO) ist eine Autoimmunerkrankung der Augenhöhle
und dabei eine Manifestation des Morbus Basedow (im Englischen: Graves‘
orbitopathy/Graves‘ disease, Thyroid Eye Disease). Alle Symptome stehen im
kausalen Zusammenhang mit Antikörpern gegen den TSH-Rezeptor (TSHR) und sind
Folge einer unterschiedlich stark ausgeprägten Infiltration der Orbitagewebe
mit immunkompetenten Zellen, vornehmlich T-Zellen. Das klinische Bild der EO
ist sehr variabel wobei zahlreiche Risikofaktoren den Krankheitsverlauf
beeinflussen.
3.3.2 Pathophysiologie
Von zentraler Bedeutung für die Pathogenese ([Abb. 5]) dieser Erkrankung ist das
Auftreten von gegen den TSH-Rezeptor gerichteten Autoantikörpern (Anti TSHR
AK = TRAK). Diese Antikörper sind häufig stimulierende Antikörper und führen
somit zu einer Hyperthyreose [66]. Der
TSH-Rezeptor wird auch an vielen Geweben außerhalb der Schilddrüse
exprimiert, insbesondere Orbitafibroblasten weisen den TSH-Rezeptor in
größerem Ausmaß auf. Die Bindung der TRAK stimuliert hier nicht nur den
TSHR, sondern gleichzeitig auch den IGF1R (Insulin ähnlicher Wachstumsfaktor
1 Rezeptor), was zu einer Sekretion von Hyaluronsäure führt [67]
[68]
[69]
[70]
[71]. Eine der Hauptfunktionen von Hyaluronsäure besteht darin,
Wassermoleküle anzuziehen und zu binden, was in einer Volumenzunahme des
Augenhöhlengewebes resultiert. Darüber hinaus wird durch die Ansammlung von
extrazellulärer Matrix in den Augenmuskeln eine kontraktile Fibrose
induziert. Die TSHR Stimulation führt des weiteren zu Fettgewebsvermehrung
[72]
[73].
Abb. 5 Pathogenese der Endokrinen Orbitopathie. Zentrale
Pathomechanismen: cross talk zwischen TSHR und IGF1R
Hyaluronsäureproduktion; direkte Stimulation des TSHR Adipogenese,
Infiltration autoreaktiver T Zellen und myeloider Zellen
Inflammation
Zusätzlich zu den TRAK spielen pathologisch aktivierte T-Zellen eine zentrale
Rolle für die Entstehung der EO, wie bei vielen anderen
Autoimmunerkrankungen. Lokale Rückkopplungsschleifen zwischen orbitalen
ortsständigen CD34-Fibroblasten und CD34+-infiltrierende Fibrozyten haben
einen entscheidenden Einfluss auf Effektor-T-Zellen und beeinflussen das
Muster der Zytokinproduktion in der Orbita [74]
[75]
[76].
Darüber hinaus findet die Volumenzunahme in der knöchern begrenzten Orbita
statt. Dies kann insbesondere bei festen Orbitasepten zu Kompression der
orbitalen Gewebe führen. Die Kompression beeinträchtigt den orbitalen
venösen und lymphatischen Abfluss, was zu einer Gewebehypoxie führt. Die
Gewebehypoxie wiederum führt zur Freisetzung von Zytokinen wie RANTES oder
IL6 durch TNF-alpha [77]. In
fortgeschrittenen Krankheitsstadien kann die Volumenzunahme zu einer
Minderperfusion am Sehnerven führen, was die Sehfunktion mindert (dysthyroid
optic neuropathy DON genannt). Daher sind Entzündungssymptome bei Patienten
mit kardiovaskulären Risikofaktoren wie Rauchen und Diabetes signifikant
stärker ausgeprägt, was unter anderem auch mit der Gewebehypoxie
zusammenhängen wird.
3.3.3 Epidemiologie/Alter/Gender
Es liegen nur begrenzte Informationen über die Inzidenz von der EO vor. In
drei populationsbasierten Auswertungen wurde eine Inzidenz für Frauen
zwischen 3,3–16/100000 Einwohner/Jahr und für Männer von 0,9–2,9/100000
Einwohner pro Jahr ermittelt. Damit liegt das Verhältnis von Frauen zu
Männern zwischen 3,6 bis 5,5:1 [78]
[79]
[80]. In einem tertiären
Überweisungszentrum lag die Rate bei n=4260 Patienten bei 4,8:1. Männer
waren bei der Erstmanifestation der TED signifikant älter (51,8 vs. 49,9
Jahre, p<0,01) und zeigten deutlich häufiger schwere Stadien (61% vs.
53%, p<0,0001) [82]. In einer
kürzlich publizierten Metaanalyse wurden 57 Studien unterschiedlichster
Perspektiven mit 26.804 Patienten ausgewertet. Die gepoolte Gesamtprävalenz
einer Schilddrüsen-Augenerkrankung bei Morbus Basedow betrug 40% (95%
Konfidenzintervall: 0,32 bis 0,48) [83]. Patienten, die bei der Diagnose eines Morbus Basedow keine
EO aufwiesen und in tertiären Zentren behandelt wurden, entwickeln zu 15%
eine EO [84].
3.3.4 Risikofaktoren
Eine ganze Reihe von Risikofaktoren sind mit der Manifestation/einem schweren
Verlauf der EO assoziiert:
Aus der genauen Betrachtung der Pathogenese erschließen sich die
Risikofaktoren für einen schweren Verlauf der EO. Hohe TRAK Spiegel sind mit
einem schweren Verlauf assoziiert [84]. Es sind Cut-off-Spiegel (für die neuesten Generationen der TRAK
Assays) zur Verlaufsbeurteilung der Schilddrüsenerkrankung als auch der
Augenerkrankung sind verfügbar [84]
[85]
[86]
(
[Abb. 6]
) . Die
schwierige Einstellung der Schilddrüsenfunktion als Risikofaktor für das
Auftreten einer EO und einem schwereren Verlauf steht natürlich damit in
direktem Zusammenhang mit den TRAK-Spiegeln [83]. Auch Ödeme, als Zeichen der Anwesenheit von
Entzündungszellen und Entzündungsmediatoren, zeigen an, dass es zu einem
schwereren Verlauf kommen kann [83].
Natürlich spielen auch Faktoren eine Rolle, die den Effekt der Hypoxie
potenzieren, wie Rauchen [87]
[88], Diabetes und höheres
Patientenalter [81]. Hohe
Cholesterinspiegel sind ebenfalls mit einer erhöhten Prävalenz einer EO
assoziiert [89]. In zwei großen
Kohorten Studien zeigte sich, dass Einnahme von Statinen das Risiko für das
Auftreten einer EO bei bekannter Schilddrüsenüberfunktion vom Typ Basedow
reduziert [90]
[91]. Nach einer Radiojodtherapie können
die TRAK-Spiegel durch die schlagartige Freisetzung großer Mengen
immunogenen Materials beträchtlich ansteigen [92]. Das erklärt, warum nach einer
Radiojodtherapie eine EO neuauftreten oder fortschreiten kann [93]
[94], insbesondere bei Rauchern. Eine Autoimmunthyreoiditis kann
auch als Nebenwirkung von Medikamenten auftreten, die die Reaktivität des
Immunsystems beeinflussen, wie Immun-Checkpoint-Inhibitoren [95] oder Interferon-alpha (IFNα)
(insbesondere bei der chronischen Hepatitis C Infektion tritt in ca. 3% ein
M. Basedow auf) [96]. Medikamente
können auch mit einer Jodexposition einhergehen, z. B. Amiodaron und
beschleunigen dadurch die Manifestation bei genetischer Veranlagung [97]. Dabei ist eine Hashimoto
Thyreoiditis viel häufiger als ein Morbus Basedow.
Abb. 6 Schwellenwerte der TRAK Spiegel zur Vorhersage eines
milden und schweren Verlaufs der EO gemessen mit den aktuell derzeit
meist verwendeten Assays, die zur TRAK Messung genutzt werden (A:
TRAb Elecsys, B: TRAb IMMULITE und C: TSAb bioassay Thyretain).
Weißes Areal: Bereich der TSHR Autoantikörper Spiegeln, die mit
einem milden Verlauf assoziiert sind. Graubereich: Werte, die keine
Zuordnung erlauben. Blaues Areal: Hohe TRAK Werte, die mit einem
schweren Verlauf der EO assoziiert sind. Alle Grenz-(cut off) werte
sind gegen die EO-Dauer über den Zeitraum von 24 Monaten aufgetragen
– unterschiedliche Cut off Werte je nach Dauer der EO. (aus Stöhr et
al 2021 HMR [85]).
Familien-und Populationsstudien bestätigen einen starken genetischen Einfluss
und die Vererbbarkeit von Schilddrüsenautoimmunerkrankungen. Je mehr
Familienmitglieder betroffenen sind, umso höher ist das Risiko und desto
früher die Krankheitsmanifestation. Es finden sich Assoziationen zu
schilddrüsenspezifischen Genen (Tg, TSHR) und zu Genen, die für die
Reaktionen des Immunsystems eine Rolle spielen (FOXP3, CD25, CD40, CTLA-4,
HLA), wobei HLA-DR3 das höchste Risiko trägt [98]
[99].
Als Umweltfaktor spielt Stress eine große Rolle. Vor und auch nach Ausbruch
der Erkrankung haben EO-Patienten mehr einschneidende und belastende
Situationen im Leben erlitten als normale Kontrollpersonen [100]
[101]
[102].
3.3.5 Klinik
Die EO führt zu typischen Symptomen, die jedoch beim einzelnen Patienten
individuell in stark variierendem Ausmaß und sehr häufig auch asymmetrisch
zwischen den Seiten auftreten können. Verschiedene Phänotypen und die
resultierenden therapeutischen Konsequenzen werden in Uddin et al. 2018 sehr
anschaulich beschrieben [103].
Die Diagnose wird erschwert, wenn keine begleitende Schilddrüsenerkrankung
vorliegt, da bei diesen Patienten auch noch häufiger eine unilaterale
Manifestation vorkommt [104].
Klinische Symptome einer endokrinen Orbitopathie:
-
Sehr typisch und häufigstes Symptom: primäre oder sekundäre
Oberlidretraktion (Dalrymple-Zeichen): Zurückbleiben des Oberlides
bei Abblick (von-Graefe-Zeichen), resultierend: Lagophthalmus
-
entzündliche Weichteilsymptomatik mit Lid-/Bindehautschwellung und
Rötung
-
Exophthalmus (resultierend Ober-/Unterlidretraktion,
Lagophthalmus)
-
Restriktive Augenbewegungsstörung (vornehmlich Abduktion und
Hebungsdefizit) mit Doppelbild-Wahrnehmung
-
Symptome des trockenen Auges (Lagophthalmus, vergrößerte Lidspalte,
reduziertes Bell‘ Phänomen, Limbuskeratitis)
-
Reduziertes Farbsehen (Frühzeichen für Kompression des Nervus
optikus)
-
ein-oder beidseitige Sehschärfenminderung (Hornhautproblematik,
Refraktionsänderung oder Kompression des Nervus optikus-meist durch
erhebliche Verdickung der Augenmuskeln in der Augenhöhlenspitze)
3.3.6 Diagnostik (klinisch, Labor, Bildgebung)
Inzwischen haben sich international Klassifikationen der Aktivität und des
Schweregrads etabliert. EUGOGO: https://www.eugogo.eu/en/home/; ITEDS group VISA: https://thyroideyedisease.org/clinical-features-visa-classification
[105]
[106]
[107].
Bei der Untersuchung sollte deshalb standardisiert vorgegangen werden:
-
Messung der Sehschärfe mit optimaler Korrektur und gegebenenfalls
stenopäischer Lücke
-
Ausmessung der Lidkonfiguration (Lidspalte, MRD1, v Graefe Zeichen =
Lid Beweglichkeit bei Abblick, Lidschluss, sichtbare Sklerasichel
oberhalb/unterhalb der Hornhaut)
-
Beurteilung der entzündlichen Weichteilsymptomatik (Lidödeme,
Bindehautinjektion, Bindehautchemosis, Karunkelschwellung,
Lidrötung)
-
Messung des Exophthalmus, ggfs auch der Bulbusverlagerung
-
Beurteilung von Augenstellung und Augenbeweglichkeit (Covertest und
Prismencovertest, gegebenenfalls Prismenausgleich, Messung der
monokolaren Exkursionen, Messung des Feldes des binokularen
Einfachsehens und damit quantifizieren des Ausmaßes der
Diplopie)
-
Spaltlampenbefund, insbesondere Beurteilung der Augenoberfläche
(Trockenheit, limbale Keratitis)
-
Messung des Augeninnendruckes (gegebenenfalls in verschiedenen
Blickrichtungen)
-
Testung der Pupillenreaktion
-
Fundusbefund (Papillenschwellung/-randunschärfe, Venenpuls)
-
bei Farbsinnstörungen oder pathologisch reduzierter Sehschärfe:
Gesichtsfelduntersuchung, Farbsinnprüfung [108]
[109], ggf. VEP und
Bildgebung
Die Bildgebung liefert zusätzliche Information zur Beurteilung von
Schweregrad und Aktivität, insbesondere hinsichtlich des Ausmaßes der
Augenmuskelbeteiligung [110]. Das
Risiko der Entwicklung einer Kompression des Nervus Optikus steigt
signifikant mit der Verdickung gegenüberliegender vertikaler Augenmuskeln
[111]. Bei streng einseitigem
Exophthalmus ist eine Bildgebung zur Abklärung von Differentialdiagnosen wie
einer (ggfs. zusätzlichen) Raumforderung unverzichtbar.
Auch für die Beurteilung der Aktivität ist eine Magnetresonanztomografie
(MRT) sehr nützlich. Wichtige Parameter, die die Entzündungsaktivität
anzeigen, sind Kontrastmittel-Enhancement, T2 Relaxationszeit und
Diffusionskoeffizienten in der diffusionsgewichteten MRT.
Auch bei der Planung der Augenmuskelchirurgie sollten vorhanden MRT oder CT
Bilder mit herangezogen werden, um die betroffenen Muskeln zu
identifizieren.
Bei jeder Kontrolle sollte der Patient die aktuellen und vorangegangenen
Laborwerte (TSH, fT4,fT3, TRAK, TPO-Antikörper) sowie einen Bericht des
Arztes, der die Schilddrüsenerkrankung behandelt, über den bisherigen
Krankheitsverlauf vorlegen.
Aktivitätsbeurteilung: Die Aktivität kann anhand der gängigen
Aktivitätsscores (CAS, VISA – ([Tab.
6])[106]
[112]), aktueller MRT Bilder und der vom
Patienten angegebenen Krankheitsdynamik und der Verlaufsbefunde (besser,
gleich schlechter) beurteilt werden.
Tab. 6 klinischer Aktivitäts Score
(CAS).
Clinical activity Score (CAS)
|
Nein/ja
|
Subjektive Aktivitätszeichen
|
Schmerzen oder Druckgefühl hinter dem Augapfel während
der letzten 4 Wo
|
0/1
|
Schmerzen bei Auf-, Ab, oder Seitenblick während der
letzten 4 Wochen
|
0/1
|
Objektive Entzündungszeichen
|
Rötung der Augenlider
|
0/1
|
Schwellung der Augenlider
|
0/1
|
Diffuse Rötung der Konjunktiva in mindestens einem
Quadranten
|
0/1
|
Chemosis
|
0/1
|
Karunkelschwellung
|
0/1
|
Zeichen der Progredienz
|
Zunahme der Protrusio > 2 mm während der letzten 1–3
Monate
|
0/1
|
Verminderung der Augenbeweglichkeit in beliebiger
Richtung >8° während der letzten 1–3 Monate
|
0/1
|
Visusminderung um > 1 Linie während d. letzten 1–3
Monate
|
0/1
|
Gesamtscore
|
Maximal 10
|
Schweregrad: Entsprechend der EUGOGO Leitlinie unterteilt man in mild,
moderat schwer und Visus-bedrohend ([Tab.
7]),[105]).
Tab. 7 Einteilung der EO nach
Schweregrad.
Schweregrad
|
Klinischer Befund
|
Milde EO
|
Lidretraktion bis 2mm, milde entzündliche
Weichteilsymptome, keine oder nur sehr geringe
Augenbewegungsstörung (Reduktion der monokularen
Exkursionen maximal 8°), Exophthalmus < 3mm
Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden meist gut
|
Moderat schwere EO
|
Lidretraktion >2 mm, moderate bis schwere entzündliche
Weichteilsymptomatik, Exophthalmus > 3 mm, Reduktion
der monokularen Exkursionen >8°, Leistungsfähigkeit
und Wohlbefinden signifikant reduziert
|
Visus bedrohende EO
|
Optikuskompression und/oder schwerer
Expositionskeratopathie.
|
In der ETA/ATA guideline
[ 113]
werden die moderat schweren Krankheitsbilder entsprechend des primären
Therapieziels(e) eingeteilt:
-
Ziel: Inaktivierung/Reduktion der entzündlichen Weichteilsymptome
-
und Behandlung der Diplopie
-
Ziel: Reduktion des Exophthalmus (bei Abwesenheit von Entzündung)
-
Ziel: Behandlung der Diplopie (bei Abwesenheit von Entzündung)
-
Ziel: Behandlung der Lidretraktion (bei Abwesenheit von
Entzündung)
Weiterhin ist auch die Krankheitsdauer für die Wahl der Therapie
entscheidend. Wenn die Erkrankung schon länger als 18 Monate besteht, ist
die Wahrscheinlichkeit des Ansprechens auf eine antientzündliche Therapie
geringer [114]. Die Blockade des IGF1R
dagegen ist wahrscheinlich auch noch nach längerer Zeit hinsichtlich der
Exophthalmusreduktion effektiv(aktuell Gegenstand von Studien).
3.3.7 Differentialdiagnostik
Im Vollbild mit begleitender Schilddrüsenerkrankung ist die Diagnosestellung
leicht. Schwieriger wird es, wenn keine begleitende Schilddrüsenerkrankung
vorliegt, da hierbei asymmetrische und einseitige Verläufe mit geringerer
Entzündungsreaktion häufiger sind. Bei einseitigen Exophthalmus ist eine
Bildgebung erforderlich um Differentialdiagnosen auszuschließen:
Raumforderungen, Sinus Carotis Cavernosus Fistel, orbitale Entzündungen
anderer Genese [115].
Bei entzündlicher Weichteilsymptomatik ohne die anderen Symptome wird häufig
eine chronische Konjunktivitis/Sicca-Syndrom fehldiagnostiziert.
3.3.8 Therapieansätze bei der EO
Anhängig von der Manifestation müssen für die Patienten eines oder mehrere
folgender Therapieziele verfolgt werden:
-
Reduktion der Entzündungserscheinungen (Lidödem,
Bindehautinjektion…)
-
Normalisierung der Lidretraktion
-
Reduktion des Exophthalmus
-
Besserung der Augenbeweglichkeit, Beseitigung der Doppelbilder
-
Vermeiden eines erneuten Rezidivs der SD und Orbitaerkrankung
Leider wird das Therapieansprechen in Studien nicht einheitlich definiert.
Aus diesem Grund muss die Definition der primären und sekundären Outcomes
der Studien genau beachtet werden.
Die Therapieziele werden mit folgenden Therapieansätzen verfolgt:
-
Antientzündliche/immunsuppressive Therapie
-
Antiproliferative Therapie
-
Blockade des IGF1R/TSHR
-
Kontrolle der Schilddrüsenfunktion/Reduktion der TRAK
-
Antientzündliche/immunsuppressive Therapie
In den letzten Jahrzehnten wurde die Endokrine Orbitopathie,
vergleichbar mit vielen anderen Autoimmunerkrankungen, im
Wesentlichen antientzündlich/immunsuppressiv behandelt. Abhängig von
Dosierung, Applikationsweg und eingesetzten Medikamenten wurden
Erfolgsraten bis zu 80% für die Entzündungsinaktivierung erreicht.
In der europäischen Leitlinie wird immer noch als First line
Therapie die intravenöse Gabe von Steroiden (IVGC) empfohlen [116]
[117]
[118]
[119] – entweder in Kombination
mit dem Immunsuppressivum Mycophenolat Mofetil (dann IVGC kumulativ
4,5 g) oder alleine, dann kumulativ 7,5 g IVGC. Wenn nach 6–8 Wochen
keine Besserung eintritt, wird eine Therapieeskalation hinsichtlich
klassischer Immunsuppression (Azathioprin [120], Cyclosporin A [121]
[122]) oder die Anwendung von
Biologika empfohlen, sowie der Einsatz einer Orbitabestrahlung. In
den Studien zu den klassischen Immunsuppressiva ergaben sich viele
Abbrüche aufgrund von Nebenwirkungen, sodass der Einsatz der
Biologika im Vordergrund steht.
Nach der aktuellen Studienlage sollte Rituximab im Wesentlichen bei
frisch manifestierten Krankheitsstadien unter 12 Monaten eingesetzt
werden, da das Therapieansprechen im späteren Krankheitsverlauf nach
Studienlage eher nicht mehr gegeben ist [123]
[124]. Ein hervorragender
antientzündlicher Effekt wurde für Tocilizumab auch bei auf
IVGC-Therapie resistenten Patienten nachgewiesen [125]
[126]
[127]. Möglicherweise kann die
Blockade von IL6 in Zukunft eine Schlüsselstellung einnehmen, da
dieses Zytokin eine entscheidende Rolle bei der Aktivierung von Th17
spielt. Eine Selensupplementation (200 µg pro Tag über sechs Monate)
wird für milde Krankheitsstadien empfohlen, sowohl hinsichtlich des
antientzündlichen Effekts als auch hinsichtlich der Prävention
schwererer Krankheitsstadien [128].
Zum Einsatz von Selen bei schwereren Krankheitsstadien fehlen
Studien-es spricht jedoch nichts dagegen Selen auch hier
einzusetzen.
Die Dosierung aller zum Einsatz kommenden Medikamente sind in [Tab. 8] dargestellt. Ein
Flussschema, wie man die Medikamente im Verlauf entsprechend den
Empfehlungen der EUGOGO einsetzen kann findet sich in [Abb. 7]. In [Abb. 8] sind die
Behandlungseffekte der medikamentösen und Strahlentherapie als
Heatmap dargestellt. Man erkennt, dass die immunsuppressive Therapie
sehr effektiv antientzündlich wirkt, aber bei der Reduktion des
Exophthalmus um mindestens 2mm viel weniger effizient ist. Der
Effekt auf die Besserung der Augenbeweglichkeit ist ebenfalls nicht
stark und variiert. Im Gegensatz dazu wirkt der einzig zugelassene
IGF1R-Blocker Teprotumumab effizient auf alle 3 Symptomkategorien,
siehe Punkt 3. Und als klinisches Beispiel [Abb. 9].
-
Antiproliferative Therapie
Hinsichtlich der Reduktion des Exophthalmus und der Behandlung der
Augenbewegungsstörung ist die klassische antientzündliche Therapie
deutlich weniger effizient. Therapiemaßnahmen, die sowohl
antientzündlich als auch antiproliferative Effekte haben sind hier
wirksamer. Die bereits seit vielen Jahrzehnten angewendete
Entzündungsbestrahlung der Orbita ist aufgrund des guten Effektes
auf die Besserung der Augenbeweglichkeit [129]
[130] hier zu verorten, auch
wenn nicht alle Patienten davon profitieren. Kombiniert mit
Steroiden zeigt Bestrahlung eine höhere Wirksamkeit als die
Einzeltherapie. Das gilt sowohl für oral [131]
[132] als auch für intravenös
[133]
[134] verabreichte Steroide. Am
häufigsten wurden in Studien kumulative Dosen zwischen 10–20 Gray
(Gy) pro Augenhöhle verabreicht, aufgeteilt in 10 Tagesdosen über
2–3 Wochen [135]
[136]. Mit Bestrahlung
entwickelten weniger Patienten eine kompressive Optikusneuropathie
als mit einer GC-Therapie allein [137] und bei Patienten mit Zeichen einer kompressiven
Optikusneuropathie konnte eine knöcherne Dekompression bei mehr
Patienten verhindert werden als mit Steroiden allein [138]. Langzeitkomplikationen
konnten in mehreren Studien ausgeschlossen werden [139]
[140].
In zwei Studien mit geringer Patientenzahl wurde ein sehr guter
antiproliferativer Effekt (Besserung von Motilität und Exophthalmus)
für Sirulimus nachgewiesen [141]
[142]. Aufgrund
der geringen Kosten für diese Therapie ist dies eine sehr
interessante off-label Therapieoption. Allerdings fehlen noch
Studien mit einer größeren Patientenzahl.
-
Blockade des IGF1R/TSHR
Die Entdeckung, dass die Bindung der TRAK am TSH-Rezeptor und die
Stimulation des IGF1 Rezeptors auf den Orbitafibroblasten von
zentraler pathogenetischer Bedeutung sind, hat dazu geführt, dass in
jüngerer Zeit Therapien erprobt wurden, die direkt in diese
Signalkaskade eingreifen: IGF1R blockierende Antikörper/Substanzen
und TSHR-blockierende Antikörper/Substanzen. Am besten ist die
Studienlage für Teprotumumab-Zulassungsstudien: [143]
[144]
[145]
[146]. Durch die Blockade des
IGF1R wird eine durchschnittliche Exophthalmusreduktion von 3mm
erreicht. Motilitätsstörungen bessern sich bei über 60% der
Patienten. Solche Therapieeffekte wurden bisher von keiner anderen
medikamentösen Therapie erreicht. Da IGF1 jedoch ein wichtiger, in
vielen Geweben exprimierter Wachstumsfaktor ist, führt seine
Blockade zu einigen signifikanten Nebenwirkungen. 10–30% der
Patienten zeigen Hörstörungen z. B. dumpfes Hören, da IGF1 bei der
neuronalen Regeneration im Innenohr relevant ist, welches jedoch
meist reversibel war. Durch Blockade insulinähnlicher Wirkungen
treten auch häufig Hyperglykämien auf, meist aber nur moderat.
Müdigkeit, Muskelkrämpfe, Haarausfall, Gewichtsverlust und
Magen-Darm-Störungen sind ebenfalls beschrieben. Weiterhin wurde ein
Rezidiv der EO nach Beenden der symptomatischen Therapie bei 29,4%
der Patienten beobachtet [146]. Erfreulicherweise werden derzeit weitere
IGF1R-blockierende Substanzen in Studien erprobt.
Nach den Ergebnissen der Phase 1 Studie zu urteilen, wird die direkte
Blockade des TSHR in Zukunft möglicherweise noch effizienter sein,
da die Schilddrüsenüberfunktion gleichzeitig mitbehandelt wird. Nach
Verabreichung eines den TSHR blockierenden Antikörpers (K1/70) war
die Hyperthyreose nach 8–10 Tagen verschwunden und der Exophthalmus
ging bei betroffenen Patienten drastisch zurück. Hier sind die
Ergebnisse der Zulassungsstudien abzuwarten [147].
Aktuell können Patienten diese Medikamente, die diesen Signalweg
beeinflussen, nur im Rahmen von Studien in Orbitazentren
erhalten.
-
Kontrolle der Schilddrüsenfunktion/Reduktion der TRAK
Abb. 7 Managementschema der EUGOGO (Bartalena et al 2021).
Abb. 8 Heatmap der Behandlungseffekte. IVGC: iv
Glucocorticoide, MMF: Mucophenolat Mofetil, RTX: Rituximab, TCZ:
Tocilizumab, TEP: Teprotu-mumab, CAS: Clinical activity score. rot:
Reduktion des CAS mit nahezu allen immunsuppressiven Therapien, grün
Kombination aus IVGC und Bestrahlung: CAS Reduktion und Besserung
der Motilität, blau: Teprotumumab: reduziert alle Symptome des
EO.
Abb. 9 Patientenbeispiel: a : Patientin vor Ausbruch der
EO; b : Patientin mit moderat schwerer, aktiver EO; c :
Patientin nach 12 Infusionen Glucocorticoiden (6x500mg und 6x250mg
Prednisolut); d : Patientin nach 4x Teprotumumab (20mg Kg/KG,
1. Infusion 10mg kg/KG).
Tab. 8 Dosierungen der antientzündlichen Therapie bei
EO.
Applikation
|
Indikation
|
Dosierung
|
oral (wenn i. v. nicht toleriert, praktisch nicht
durchführbar)
|
Moderate schwere EO
|
1 mg/kg KG absteigend über 6–8 Wochen
|
Kumulativ ca 2–3g
|
i. v.
|
Moderat schwere EO
|
6 Wochen 500 mg, anschließend 6 Wochen 250 mg, ggf. an
den Tagen ohne Infusion 5–10 mg oral
|
Alternativ 0,5–1g 3x in der Woche (jeweils 1 Tag Pause
zwischen den Infusionen) und dann oral ausschleichend
über 6–12 Wochen
|
i. v.
|
schwere Visus bedrohende EO
|
„Medikamentöse Dekompression“:
|
3 × innerhalb einer Woche 0,5–1 g, in 2. Woche
wiederholen, wenn dann keine Orbitadekompression nötig:
anschließend 6–12 Wochen i. v. 1 × pro Woche 250–500 mg
oder oral (Beginn mit 1 mg/kg KG) in absteigender
Dosierung weiterführen
|
Azathioprin
|
Zweitlinientherapie
|
100 mg für KG <50 kg
150 mg für KG 50–79 kg
200 mg für KG ≥80 kg)
(zusätzlich Steroide weiter)
|
Mucophenolat Mofetil
|
In Kombination mit IVGC
|
24 Wo 2x360mg
(zusätzlich Steroide weiter)
|
Rituximab
|
Zweitlinientherapie
|
500mg-2g einmalig
(nur bei frühzeitiger Therapie wirksam !!)
|
Tocilizumab
|
Zweitlinientherapie
|
8 mg/kg KG i. v. 4x alle 4 Wochen
|
Cyclosporin
|
Zweitlinientherapie
|
5 mg/kg KG über zwölf Monate
(zusätzlich Steroide weiter)
|
Steroidtherapie begleitend zur Radiojodtherapie
|
Oral
|
Keine/milde EO:
|
0,2mg/kg KG 6–12 Wo
0,3–0,5 mg/kg KG über 6–12 Wo
|
Moderate EO ohne Risikofaktoren:
|
i. v.
|
moderat schweren EO mit hohe TRAK-Spiegeln und
Nikotinabusus)
|
Schwere EO i. v. Steroide (kumulativ 4,5g s.u.)
⇨generell hier besser SD OP !!!
|
Die zentrale Wirkung der TSH-Rezeptor Autoantikörper (TRAK) auf den
Gewebeumbau in der Augenhöhle ist entscheidend für die Therapieplanung.
Verschiedene Therapien können den TRAK-Spiegel beeinflussen. Bei
antientzündlichen Maßnahmen wie IVGC, Rituximab und Tocilizumab kann ein
Abfall der TRAK-Spiegel in unterschiedlichem Ausmaß beobachtet werden. Das
verbessert Verlauf der Augenerkrankung und die Prognose der
Schilddrüsenüberfunktion [148].
Die TRAK-Spiegel können im natürlichen Verlauf der Erkrankung zurückgehen,
aber auch lange persistieren. Die Wahl der Therapie der
Schilddrüsenüberfunktion beeinflusst diesen Verlauf erheblich. Unter
thyreostatischer Therapie und nach Schilddrüsenoperation gehen die TRAKs oft
langsam zurück. Nach einer Radiotherapie hingegen können sie über 1–2 Jahre
z.T. erheblich ansteigen und persistent erhöht bleiben [92].
Die Primärtherapie der Hyperthyreose bei guter Medikamentenverträglichkeit
ist gemäß der EUGOGO Leitlinie [107]
[149]
[150] und der Leitlinie der ETA [151] eine thyreostatische Therapie. Bei
Rezidiv der Schilddrüsenüberfunktion nach Absetzen einer meist über 1 bis
1,5 Jahre durchgeführten thyreostatischen Therapie oder bei primär
ungünstiger Prognose (hohe TRAK Spiegel, hohe fT4 Spiegel bei Erstdiagnose
und schlecht einstellbarer Schilddrüsenfunktion) ist eine definitive
Therapie der Schilddrüse indiziert: Schilddrüsenoperation oder
Radiojodtherapie. Ob Patienten mit einer endokrinen Orbitopathie sogar von
einer Schilddrüsenoperation profitieren, ist noch umstritten, aber eine
retrospektive Studie zeigte, dass eine Thyreoidektomie, die bereits sechs
Monate nach Beginn der Schilddrüsenüberfunktion mit schlechter Prognose
[152] durchgeführt wurde, zu einer
schnelleren Inaktivierung der EO führte [153]. Wichtig ist die komplette Thyreoidektomie, da von einem
verbleibenden aktiven Schilddrüsenrest ein erneutes Rezidiv der Erkrankung
ausgehen kann und TRAKs persistieren können. Mehrere Studien haben gezeigt,
dass die Ablation des Schilddrüsenrestes nach einer Schilddrüsenoperation
mittels Radiojodtherapie zu einer höheren Rate der Inaktivierung der
endokrinen Orbitopathie führt [154]
[155]
[156]
[157]. Je nach Befundkonstellationen ist eine Radiojodtherapie mit
mehr oder weniger Risiken für die Verschlechterung oder Neuauftretens einer
EO verbunden. Insbesondere als Primärtherapie und bei Rauchern ist da Risiko
hoch [158]
[159]. Wenn dennoch eine
Radiojodtherapie bei einer aktiven EO bevorzugt wird, muss diese unter einer
höher dosierten Steroidtherapie durchgeführt werden [160]
[161]. Bei milden Stadien der EO und insbesondere später im
Krankheitsverlauf (nach 1 bis 1,5 Jahren thyreostatischer Therapie) reicht
eine orale Steroidprophylaxe aus [93]
[162]. Dennoch gelingt
es nicht bei allen Patienten durch Steroide ein Neuauftreten bzw. eine
Verschlechterung einer vorbestehenden EO zu vermeiden (3–5%).
Verschlechterungen treten meist innerhalb eines Jahres nach RJT auf [163].
3.3.9 Verlauf und Prognose
Ungefähr 40–50% aller Patienten mit einer Schilddrüsenüberfunktion vom Typ
Basedow entwickeln eine endokrine Orbitopathie [164]. Die endokrine Orbitopathie
verläuft größtenteils mild, moderat schwere Verläufe sind weniger häufig und
in 3–5% der Fälle entwickeln die Patienten eine Visus-bedrohende
Manifestation [165]. Wenn Patienten in
Zentren mit Erfahrung in der konsequenten Kontrolle der
Schilddrüsenüberfunktion betreut werden, zeigt sich ein günstigerer Verlauf
[165]
[166]
[167]. Mit jedem Rezidiv der Schilddrüsenüberfunktion können auch
Symptome der endokrinen Orbitopathie zurückkehren bzw. neu auftreten.
Da bisher Medikamente für die zielgerichtete Therapie am TSHR/IGF1R noch
nicht in Europa zugelassen sind, erreicht man bei schwerer betroffenen
Patienten mit den derzeit verfügbaren Therapien fast immer eine
Inaktivierung, jedoch oft nur eine Defektheilung hinsichtlich
Muskelbeteiligung und Exophthalmus, die bei mind. sechs Monaten Inaktivität
mit operativen rehabilitative Maßnahmen behandelt werden können [168].
3.3.10 Lokaltherapie
Lokale intraorbitale Steroidapplikationen
In einer randomisierten kontrollierten Studie (RCT) wurden 20 mg
Triamcinolon 4-mal in einem Abstand von 4 Wochen infraorbital injiziert.
Das primäre Therapieziel war die Verbesserung der Beweglichkeit und der
Diplopie, welche mit Triamcinolon signifikant besser ausfiel als mit
Placebo [169]. Mehrere
retrospektive Studien untersuchten Injektionen ins Oberlid transkutan
oder von subkonjunktival, meist in einer Dosierung von 20mg alle 2–4
Wochen. Patienten mit klinischen oder in der Bildgebung sichtbaren
Aktivitätszeichen [170] sprachen
besser auf die Therapie an [171].
Die Ansprechraten von durchschnittlich 3–5 Injektionen bei aktiver EO
werden mit 65–90% angegeben [172]
[173]
[174]. Die lokale Behandlung mit
Triamcinolon birgt jedoch ein erhebliches Risiko einer Erhöhung des
Augendruckes (bis zu 18,6% nach durchschnittlich 5 Injektionen).
Behandlung der Benetzungsstörung
Symptome des trockenen Auges sind bei EO sehr häufig, insbesondere bei
weiblichen Patienten (zusf. [175]). Neben der Wiederherstellung eines stabilen Tränenfilms ist
es ebenso wichtig, die erhöhte Evaporationsrate und schlechte Verteilung
des Tränenfilms durch insuffizienten Lidschluss durch Korrektur von
Exophthalmus und Lidretraktion zu beheben.
Botulinum Toxin
Die Oberlidretraktion kann durch subkonjunktivale oder transkutane
Injektion von 5–15 IE Botulinumtoxin in den Levator
palpebrae/Mueller-Muskel reduziert werden. Bei starker Fibrose kann der
Effekt ausbleiben. Bei 10–20% können vorübergehende Doppelbilder und
Ptosis auftreten [176]
[177]
[178]
[179].
Botulinumtoxin kann auch bei ausgeprägter Fibrose der Augenmuskulatur
eingesetzt werden, wenn die Fixation beeinträchtigt ist und der Patient
die Primärposition nur mit einer ausgeprägten Fehlhaltung des Kopfes
erreichen kann. Die Injektion von Botulinumtoxin wird am besten unter
EMG-Kontrolle durchgeführt [180].
Tiefe Furchen im Glabellabereich aufgrund einer Überreaktion des Musculus
corrugator superciliaris können ebenfalls mit einer
Botulinumtoxin-Injektion behandelt werden [181].
Ausgleich der Doppelbilder
Wenn die EO nicht stabil ist und sich der orthoptische Befund noch
verändert, sollten Fresnel-Prismen verwendet werden. Aufpressprismen
können auf Linsen aufgebracht und bei Bedarf gewechselt werden, ohne die
Brille zu wechseln. Darüber hinaus sind sie das einzige verfügbare
optische Hilfsmittel zur Korrektur von hohen Schielwinkeln von bis zu 40
prismatischen Dioptrien, obwohl eine so hohe prismatische Korrektur von
Patienten oft schlecht vertragen wird.
Wenn die Diplopie nicht mit Prismen korrigierbar ist (z. B. bei großem
Schielwinkel und/ der bei Vorhandensein von Zyklotropie), kann die
Okklusion des am stärksten betroffenen Auges oder des Auges mit der
schlechteren Sehschärfe kann hilfreich sein. Botulinumtoxin kann
verwendet werden, um große Winkel zu reduzieren, um sie einer
prismatischen Korrektur zugänglich zu machen.
3.3.11 Sonderfall Visus bedrohende EO
Trotz maximaler antientzündlicher Therapie entwickeln 3–6% der Patienten ein
orbitales Kompartment-Syndrom mit Optikuskompression [182]. Die entzündliche Schwellung,
Fettvermehrung und Muskelverdickung im knöchern begrenzten Volumen der
Orbita behindern dabei den venösen Abfluss und die Durchblutung des N.
opticus. Daraufhin entsteht wahrscheinlich ein Circulus vitiosus, bei
dem Hypoxie-induzierte Reaktionen die Inflammation verstärken und zu
weiterer Kompression und Hypoxie führen [183]. Stark verdickte Muskeln können auch direkt den N. opticus
komprimieren ohne, dass die Patienten eine ausgeprägte Inflammation
aufweisen („white eye apex phenotype“ [113]).
Bei Patienten mit Visus-bedrohender EO kann eine maximale i. v.
Steroidtherapie versucht werden (3 × 1 g innerhalb einer Woche). Je stärker
die Kompression ist, desto unwahrscheinlicher ist dabei der Therapieerfolg
mit IVGC, z. B. bei Gesichtsfeldausfällen, Papillenschwellung und massiver
Entzündungssymptomatik [184]). Weisen
die Patienten ohnehin einen erheblichen Exophthalmus auf, sollte eine
primäre Orbitadekompression präferiert werden. Weitere Indikationen für die
notfallmäßige Orbitadekompressionen sind Hornhautulcera bei Lagophthalmus
aufgrund eines erheblichen Exophthalmus, eine therapieresistente schwere
Weichteilsymptomatik und ein ausgeprägter intraokularer Druckanstieg
aufgrund eines Kompartment-Syndroms, vor allem bei bekanntem Glaukom.
Der Einsatz der IGF1-Rezeptor-Blockade wird auch hier zu einer Wende in der
Therapie führen [185]
[186]
[187]
[188]. In einer
Multicenter-Studie verbesserten sich bei 70% der behandelten Patienten schon
nach 2 Infusionen mit Teprotumumab die Symptome der DON. Nach 8 Infusionen
war bei keinem der behandelten Patienten mehr ein RAPD oder eine
Farbsehstörung mehr zu verzeichnen. Der Exophthalmus ging in einer Fallserie
von 10 Patienten um 4,7mm zurück und der CAS verbesserte sich um mehr als 5
Punkte [186].
3.3.12 Leitlinien/Therapieindikationen
Da bisher Medikamente zur zielgerichteten Therapie am TSHR/IGF1R in Europa
noch nicht zugelassen sind, existieren unterschiedliche Leitlinien in Europa
(EUGOGO [140] und außerhalb Europas
[113].
In Europa und somit auch in Deutschland orientiert sich die Therapie am
Schema der [Abb. 7].
Das Managementschema der aktuelle EUGOGO-Leitlinie (Europa) ist in [Abb. 7] dargestellt. Entsprechend dem
Schweregrad wird zwischen milder, moderat schwerer und Visus bedrohender EO
unterschieden. Patienten mit milder EO erhalten zunächst nur eine
Selensupplementation. Bei hohem Leidensdruck und vollem Risikoprofil wird
empfohlen, bereits wie bei einer moderat schweren EO zu behandeln. Bei
moderat schwerer EO wird empfohlen mit IVGC mit oder ohne Mycophenolat
Mofetil (MMF) zu beginnen und den Therapieeffekt nach 6 Wochen zu
evaluieren. Bei ausreichender Besserung sollte die Therapie mit Steroiden
weitere 6 Wochen und mit MMF weitere 18 Wochen fortgesetzt werden. Wenn kein
ausreichender Therapieeffekt eintritt, sollte die Therapie in Richtung
Biologika bzw. Immunsupppression eskaliert werden.
Bei Motilitätsstörung empfiehlt sich zusätzlich eine Strahlentherapie zu
veranlassen.
Bei Visus-bedrohender EO müssen 3x1g IVGC verabreicht werden und wenn nach 2
Wochen kein ausreichender Effekt eintritt, muss eine Orbitadekompression
erfolgen.
So lange IGF1R Blocker/TSHR Blocker in Europa nicht zugelassen sind, stehen
sie leider noch nicht zur Verfügung. Sobald die Zulassung erfolgt, sind sie
immer dann als first line Therapie indiziert, wenn ein ausgeprägter
Gewebeumbau vorliegt (Exophthalmus, Diplopie), siehe [Tab. 9]. Bezüglich der Rezidive nach
Absetzen dieser Therapie müssen die TRAK-Spiegel immer im Auge behalten
werden.
Tab. 9 Ergebnisse der
Orbitadekompression.
Autor
|
Jahr
|
Anzahl Orbitae
|
Verminderung Hertel
|
Op-Methode
|
Visus Besserung
|
postop. Doppelbilder
|
Canisz (65)
|
2006
|
18
|
4,38 mm (2-Wand) 7,75 mm (3-Wand)
|
2-Wand und 3-Wand-dekompr.
|
100%
|
5,60%
|
Wang (64)
|
2013
|
66
|
8,1 mm
|
3-Wände; balanced
|
25%
|
10,6% (7/66)
|
Lee (12)
|
2014
|
90
|
4,3 mm
|
balanciert
|
100%
|
17,80%
|
Choi (7)
|
2016
|
48
|
4,0 mm
|
balanced; medial & deep lateral wall
|
k.a.
|
2,10%
|
Sellari-Franceschini (60)
|
2018
|
76
|
5,1 mm (balanciert) 3,5 mm (lateral)
|
lateral (n=38) balnaciert (n=38)
|
k.A.
|
13,20%
|
Woods (58)
|
2020
|
35
|
3,26 mm
|
median & medio-inferior
|
k.A.
|
k.A.
|
Kim (43)
|
2020
|
40
|
3,6 mm (medial) 6 mm medial und inferior
|
medial/medial und inferior
|
k.A.
|
10%
|
Cruz (Metanalyse) (31)
|
2021
|
4559
|
2,5–4,5 mm
|
deep lateral wall decompr.
|
k.A.
|
8,60%
|
Küchlin (18)
|
2021
|
100
|
2,9 mm
|
deep lateral wall decompr.
|
in allen Fällen von visusbedrohung
|
2%
|
Lu (79)
|
2021
|
47
|
2,8 mm
|
transantral
|
k.A.
|
8%
|
Stähr (59)
|
2022
|
1018
|
5,4 mm
|
balanced
|
46,8% verbessert; 52% stabilisiert)
|
33%
|
Ye (39)
|
2023
|
55
|
2,6 mm
|
graded
|
in allen Fällen von visusbedrohung
|
k.A.
|
Curro (68)
|
2023
|
88
|
4,3 mm
|
medial & balanced
|
100%
|
K.A.
|
3.3.13 Zukünftige Therapiekonzepte
Die neuen zielgerichteten Biologika, die den TSHR/ IGF1R-Signalweg direkt
blockieren, werden zu einem Wandel in der Therapie der endokrinen
Orbitopathie führen, da sie als first-line-Therapie wesentlich effektiver
sind in der Exophthalmusreduktion und Besserung der Motilitätsstörung. Wie
bei jeder Therapie sind auch hier Nebenwirkungen zu verzeichnen, die
beachtet werden müssen , darunter Hörstörungen, Hypoglykämie. Mit diesen
Medikamenten werden für die Patientin weniger augenchirurgische Eingriffe
notwendig werden.
Geklärt werden muss noch, inwieweit diese Therapie von einer
immunsuppressiven Therapie begleitet werden muss, um Rezidive zu vermeiden.
Es ist sicherlich sinnvoll, die Blockade eines wichtigen Wachstumsfaktors
auf eine kurze Zeitspanne zu beschränken, um Nebenwirkungen zu reduzieren.
Auch hier besteht wahrscheinlich eine wichtige Indikation zur gleichzeitigen
immunsuppressiven Therapie. Die richtige zeitliche Reihenfolge für diese
Therapien muss noch in Studien untersucht werden.
Eine ganz neue Dimension werden die den TSH-Rezeptor direkt blockierenden
Substanzen eröffnen, auch für die Therapie der Schilddrüsenüberfunktion.
Große Erwartungen liegen auf dem den TSH-Rezeptor inhibierenden Antikörper
K1/70.
3.3.14 Behandlung des inaktiven Stadiums mit Defektheilung
Bei allen Patienten, bei denen die antientzündliche Therapie nur zu einer
Defektheilung geführt hat, können chirurgische Maßnahmen durchgeführt
werden, um Aussehen und Funktion wiederherzustellen. Bei der Planung der
Operationen sollte eine bestimmte Reihenfolge einhalten werden: 1. knöcherne
Dekompression und Orbitafett Dekompression, 2. Augenmuskelchirurgie und als
letzte 3. Maßnahme Lidchirurgie. Die Reihenfolge erklärt sich aus der
Wirkung der Operationen und den Komplikationsmöglichkeiten [168].
Die rehabilitative Augenchirurgie sollte erst begonnen werden, wenn der
Augenbefund 6 Monate stabil und inaktiv ist und die Schilddrüsenfunktion 6
Monate stabil eingestellt ist [107]
[149]
[189]. Bezüglich der Schilddrüse
bedeutet dies entweder eine Fortführung der thyreostatischen Therapie
während des gesamten Zeitraums der augenchirurgischen Maßnahmen oder eine
definitive Therapie der Schilddrüse vor Beginn der chirurgischen
Eingriffe.
Knöcherne Orbitadekompression
Es gibt zahlreiche Publikationen zur knöchernen Orbitadekompression und
Orbitafettdekompression bei EO (Review in [190]). Etabliert und weltweit
verbreitet sind transorbitale, transkranielle, transantrale und
transnasale Zugänge. Alle vier knöchernen Orbitawände können mit diesen
Zugangswegen erreicht werden. Bei den meisten Patienten wird die
Indikation zur Orbitadekompression im inaktiven Stadium gestellt und das
wesentliche Ziel ist die Reduktion eines störenden Exophthalmus, die
Verbesserung des venösen Abflusses und damit die Verringerung des
retrobulbären Druckgefühls und das Beheben einer erheblichen
Benetzungsstörung (vergl. Kap. 3.1.16).
Orbitale Fettresektion
Die orbitalen Fettkompartimente können entweder transkutan (meist beim
Oberlid) als auch transkonjunktival (wenn kein Hautüberschuss am
Unterlid vorliegt) erreicht werden [191]
[192].
Inferior-lateral kann am meisten Fett sicher entfernt werden. Bei einer
orbitalen Fettresektion lassen sich im Durchschnitt 5–6 cm³ Orbitafett
entfernen. Die in der Literatur angegebene durchschnittliche
Exophthalmusreduktion wird mit 3 mm angegeben.
Als wesentliche Komplikationen werden Orbitahämatome, Läsionen sensibler
Nerven und Diplopie (0–25%) berichtet. Wichtig ist die richtige
Indikationsstellung – wenn die Orbitafettvermehrung im Vordergrund steht
[193].
Orbitadekompression bei Kompression des Nervus optikus
Die Wirksamkeit einer Orbitadekompression zur Entlastung des Nervus
opticus ist durch zahlreiche Literaturstellen belegt-es wird von einer
Besserung bzw. vollständigen Erholung der Sehfunktion bei 75–90% der
Patienten berichtet [182]
[190]. In den meisten Studien wurden
diese Verbesserungsraten durch die Dekompression der medialen Orbitawand
beschrieben, gegebenenfalls in Kombination mit weiteren Wänden. In der
jüngeren Literatur konnte an kleinen Fallserien gezeigt werden, dass
möglicherweise eine alleinige Fettdekompression bzw. nur laterale
Dekompression auch ausreichen können, um eine Kompression des Nervus
opticus aufzuheben.
Augenmuskelchirurgie
Bei starker Beteiligung der Augenmuskeln können die Patienten eine
restriktive Augenbewegungsstörung entwickeln. Vornehmlich sind Musculus
rectus inferior und Musculus rectus medialis betroffen, seltener
Musculus rectus superior und die schrägen Augenmuskeln. Folglich
entwickeln die meisten Patienten ein Hebungs-oder Abduktionsdefizit,
oder beides zusammen, und damit eine horizontale konvergente, vertikale
oder kombinierte Schielstellung mit variabel ausgeprägter Zyklorotation.
Teilweise ist es den Patienten möglich, die Doppelbildwahrnehmung durch
eine Kopfzwangshaltung auszugleichen. Bei stärkerem Hebungsdefizit
entwickeln fast alle Patienten auch eine Oberlidretraktion aufgrund der
Ko-innervation zum Musculus levator palpebrae bei intendiertem
Aufblick.
Dementsprechend kann Augenmuskelchirurgie indiziert sein:
-
Zur Korrektur von Doppelbildern
-
Bei Kopfzwangshaltung zur Fixationsaufnahme
-
Bei Oberlidretraktion durch die Koinnervation des M. levator
palpebrae
-
Beim Anstieg des intraokularen Drucks schon in Primärposition,
verursacht durch den Elastizitätsverlust und die Verdickung der
fibrosierten Augenmuskeln
Bei der Augenmuskelchirurgie der EO stehen Rücklagerungen der
fibrosierten Augenmuskeln im Vordergrund [194]. Wichtig ist die
Wiederherstellung einer symmetrischen Augenbeweglichkeit beider Augen,
um ein möglichst großes Feld des binokularen Einfachsehens zu
erreichen.
Lidchirurgie
Als letzter Schritt der chirurgischen Rehabilitationsmaßnahmen erfolgen
bei Patienten mit EO Lidkorrekturen [195].
Folgende Eingriffe können notwendig werden:
-
Oberlidverlängerungen bei Fibrose des Lidhebermuskels durch
Rücklagerung M. levator palpebrae und/oder Müllermuskel, selten
Interponat erforderlich (allogenes Material wie
Organspendersklera oder xenogenes Material wie Tutopatch)
-
Unterlidverlängerung bei Unterlidretraktion (auch nach Musculus
rectus-Inferior Rücklagerung), hier oft ein Interponat
erforderlich (wenn möglich autolog:
Tarsokonjunktivaltransplanatat aus dem Oberlid, ggf. allogene
Organspendersklera, xenogenes Material wie Tutopatch)
-
Resektion von überschüssiger Haut und orbitalem Fettgewebe an
Ober-und Unterlidern sowie Brauenfettreduktion
-
Tarsoraphie bei ausgeprägtem Exophthalmus ohne
Dekompressionswunsch
Perioperative antientzündliche Therapie
Bei den chirurgischen Maßnahmen kann es zu einer vorübergehenden
Reaktivierung der entzündlichen Weichteilsymptome kommen. Dies kann
durch eine intraoperative und ggf. postoperative i. v. Applikation eines
Steroidpräparates (z. B. Methylprednisolon) unterdrückt werden.
3.3.15 Besondere Aspekte
Assoziation zu Schilddrüsenautoimmunerkrankung
Die meisten Patienten mit einer EO sind auch an einer
Schilddrüsenüberfunktion vom Typ Basedow erkrankt. Mindestens zu Beginn
der Erkrankung weisen nahezu 100% aller Patienten positive TSH Rezeptor
Autoantikörper auf. Aber auch 4–6% aller Patienten mit einer
Hashimoto-Thyreoiditis entwickeln Augensymptome [196]. Selten ist eine sogenannte
euthyreote endokrine Orbitopathie ohne Assoziation zu einer
Autoimmunerkrankung der Schilddrüsen. Allerdings entwickelt auch die
Hälfte dieser Patienten innerhalb von zwei Jahren eine assoziierte
Schilddrüsenerkrankung.
3.3.16 Orbitadekompression
H.-J. Welkoborsky
3.3.16.1 Definition; Begriffsbestimmung
Eine Erhöhung des intraorbitalen Drucks kann zu einer kompressiven
Neuropathie, somit zu einer Druckschädigung des N. opticus führen.
Hierbei ist wahrscheinlich weniger die direkte Druckwirkung auf den
Nerven entscheidend, denn der Nerv selbst ist durch die ihn umgebenden
Hirnhäute und Liquor cerebrospinalis recht gut geschützt. Beide
Strukturen wirken als Druckpolster. Auch verläuft der Nerv nicht gerade
in anterior-posteriorer Richtung durch die Orbita, sondern leicht
gebogen, womit eine Nachvorneverlagerung des Augapfels in gewissen
Grenzen kompensiert werden kann [197]. Pathophysiologisch bedeutender sind wohl indirekte
Nervschäden, die durch eine Kompression der den Nerven versorgenden
kleinen Gefäße verursacht werden [198] mit Ausbildung von Mikrothrombosen mit nachfolgender
Ischämie, Gewebeacidose, Dysionie und Expression von diversen Cytokinen.
In der Konsequenz resultiert hieraus eine Funktionsschädigung des
Nerven, die nach einigen Stunden irreversibel ist (Übersicht bei [199]) mit einem Visusverlust bis
hin zur Erblindung.
Bei der Orbitadekompression handelt es sich um einen chirurgischen
Eingriff an der Augenhöhle mit der Zielsetzung der Senkung eines
erhöhten intraorbitalen Druckes. Prinzipiell ist zwischen einer reinen
„Fettgewebsdekompression“ und einer knöchernen Dekompression zu
unterscheiden. Bei ersterer wird orbitales Fettgewebe z. B. über eine
anteriore Orbitotomie oder über einen transkonjuctivalen Zugang ohne
Resektion von knöchernen Wandungen entfernt [200]
[201]. Bei knöchernen
Dekompressionen wird immer ein Teil der knöchernen Orbitawandungen
reseziert. Je nach Anzahl der entfernten Orbitawandungen wird eine
Ein-Wand, Zwei-Wand-oder Drei-Wand-Dekompression unterschieden. Als
„graded decompression“ wird eine Operation bezeichnet, bei der sich die
bei dem einzelnen Patienten zu wählende Dekompressionsform weitgehend an
der führenden Pathologie orientiert, die der intraorbitalen
Druckerhöhung zu Grunde liegt. Sie findet weitgehend bei der Endokrinen
Orbitopathie (EO) Anwendung [202].
Unter „balancierter“ Dekompression wird die gleichzeitige Entfernung der
medialen, eines Teiles der inferioren und der lateralen Orbitawand
verstanden [203]
[204]
[205].
3.3.16.2 Indikationen
Indikationen für eine Orbitadekompression sind
-
Erkrankungen, die zu einem sehr schnellen und plötzlichen
Druckanstieg in der Orbita führen, z. B. Einblutungen bei
Frakturen oder bei Gefäßverletzungen z. B. im Rahmen einer
endonasalen Nasennebenhöhlen Operation. Es erfolgt dann
notfallmäßig eine lateralen Kanthotomie, bei der
transkonjunctival das Weichteilgewebe des lateralen Augenwinkels
bis auf den knöchernen Orbitarand durchtrennt wird. Hierdurch
kommt es zu einer Reduktion des intraorbitalen Drucks um ca. 14
mm Hg [206]
[207]
[208]
[209]
[210]. Bei der inferioren
Kantholyse wird auch das laterale Lidbändchen und das Septum
infraorbitale durchtrennt, wodurch das Auge zurücksinkt, was mit
einer Verminderung des intraorbitalen Drucks um ca. 30 mmHg
verbunden ist. Gegebenenfalls kann auch das stärkere obere
Lidbändchen durchtrennt werden (superiore Kantholyse) [209].
-
Erkrankungen, die zu einer langsameren Druckerhöhung führen,
z. B. Tumoren und tumorähnliche Prozesse (fibröse Dysplasie)
oder bei Patienten mit Pseudoexophthalmus [211]
[212]
[213].
-
Drucksteigerungen bei chronischen autoimmunologischen
Entzündungsprozessen, insbesondere bei der endokrinen
Orbitopathie [204]
[214]. Hier ist die OD in
das Therapieregime einbezogen. Gemäß den seit 2009 regelmäßig
aktualisierten Empfehlungen der European Group on Gravesʼ
Orbitopathy (EUGOGO) stehen bei der endokrinen Orbitopathie
konservative Therapiemaßnahmen im Vordergrund [215]
[216]
[217]. Operative Maßnahmen
stellen eine Zweitlinienbehandlung dar. Es bestehen im
Wesentlichen in Abhängigkeit von dem Aktivitätsgrad der
Erkrankung 3 Indikationen für die OD bei EO [217]
[218]:
-
Notfallmäßig bei aktiver EO im Falle einer akuten dysthyreoten
Optikusneuropathie (DON) nach ausbleibender Besserung mit
intravenöser Gabe von Glucocorticoiden und raschem Visusverlust.
[219]
[220]
[221].
-
Bei milder bis schwerer EO nach Ausschöpfung aller konservativen
Behandlungsmöglichkeiten
-
Bei inaktiver oder stabiler milder bis schwerer EO als
kosmetisch-rehabilitativer Eingriff zur Beseitigung eines
verbliebenen Exophthalmus, von Doppelbildern und Lidretraktionen
[216]
[217]. Der Eingriff kann mit
einer gleichzeitigen Lidkorrektur verbunden werden [222]
[223].
3.3.16.3. Durchführung
Obwohl in der Literatur seit den 90iger Jahren eine Fülle von
Operationsverfahren beschrieben sind, die Orbitadekompression relativ
häufig durchgeführt wird und z. B. bei der EO zum Therapieregime zählt,
haben Metaanalysen u. a. von Cruz et al. 2021 und Boboridis et al. im
Jahr 2015 sowie eine vom Cochrane Institut zuletzt im Jahr 2011
durchgeführte Studienanalyse ergaben, dass derzeit nur wenig
evidenzbasierte und randomisierte Studien publiziert wurden, so dass
eine abschließende Bewertung einzelner Operationsmethoden nur schwer
möglich ist [224]
[225]
[226].
In den letzten Jahren wurden zunehmend endoskopische Operationsverfahren
für die knöcherne Dekompression beschrieben. [227]
[228]
[229]. Bei den resezierten Wandungen
handelt es sich meist um die mediale, inferiore (Orbitaboden) und
laterale Wand. Eine Resektion des Orbitadaches wird in der Regel nur in
Ausnahmefällen, z. B. bei nicht ausreichender 3-Wand-Dekompression
durchgeführt [220] ([Abb. 10a-d]). Die Hauptzugangswege
sind die endonasale mediale Orbitotomie, die transantrale Orbitotomie,
die laterale Orbitawandresektion sowie transorbitale Techniken zur
endoskopischen Resektion von Orbitawandungen mit zahlreichen technischen
Modifikationen [204]
[230].
Abb. 10 a-d: Arten der Orbitadekompressionen. Je
nach zu entfernender knöcherner Wand wird von einer superioren
(a ), medialen (b ), inferioren (b) oder
lateralen Dekompression (c ) gesprochen. Bei einer
balancierten Dekompression werden simultan Teile der medialen,
inferioren und lateralen Wandung entfernt (d ).
Da sich die Druckerhöhung insbesondere im Bereich der Orbitaspitze
nachteilig auf den N. opticus auswirkt, ist eine Ausdehnung der
Resektion der medialen Wand bis zur Keilbeinhöhle und damit bis zur
Orbitaspitze in der Region des Ziniʼschen Sehnenrings notwendig.
Falls erforderlich kann gleichzeitig mit einer endonasalen
transethmoidalen Orbitadekompression auch eine Dekompression des Nervus
Opticus vorgenommen werden. Hierfür wird die Keilbeinhöhle eröffnet und
die Keilbeinhöhlenseitenwand dargestellt. Der N. opticus verläuft in
seinem Knochenkanal laterocranial in der Seitenwand. Nach Identifikation
wird die Knochenschale des Nerven in einer Zirkumferenz von
1800 reseziert und die Nervscheide gegebenenfalls
geschlitzt [231]
[232].
Eine Resektion der inferioren Orbitawand (Orbitaboden) zur Dekompression
kann sowohl über den endonasalen Zugang als auch über einen
transantralen Zugang über die Kieferhöhle oder über einen
transkonjunktivalen Zugangsweg erreicht werden. Bedeutsam ist, dass im
Bereich des Orbitabodens eine inferomediale Knochenspange verbleibt.
Diese enthält den N. infraorbitalis. Wird sie reseziert hat dies
einerseits einen Bulbustiefstand, andererseits eine Hypästhesie im
Versorgungsgebiet des Nerven zur Folge [227]
[233]
[234].Bei Bedarf kann die Resektion
der inferioren Orbitawand auf die Abschnitte lateral des Canalis
infraorbitalis ausgedehnt werden.
Für die Resektion der lateralen Orbitawand stehen mehrere Verfahren zur
Verfügung, u. a. einerseits die klassische laterale Orbitotomie, oder
transkanthale-transkonjunktivale Zugangswege. Bei der Technik der „deep
lateral resection“ (DLWR) syn. Deep lateral wall decompression (DLWD)
wird entweder ein Swingung eyelid-Zugang angelegt mit Durchtrennung der
Schenkel des lateralen Lidbandes und Aufklappen des Oberlids nach oben
und Abklappen des Unterlids nach unten ([Abb. 11]).
Abb. 11 Schema der deep lateral wall resection (DLWR); der
Bereich der lateralen Orbitawand, der reseziert wird, ist
schwarz markiert.
3.3.16.4 Ergebnisse der Orbitdekompression
Das Ziel der chirurgischen Orbitadekompression ist die Reduktion des
hydrostatischen Druckes auf den N. opticus und damit einhergehend eine
Verminderung des intraorbitalen Druckes. Dies hat neben der Reduktion
eines Exophthalmus eine Verbesserung der arteriellen Durchblutung und
der venösen Drainage des Nerven zur Folge, womit der axonale Fluss in
dem Nerven verbessert wird, was zu einem Visusanstieg führt [235]
[236]. Nach erfolgreicher
Dekompression können bei den Patienten sowohl normale intraokulare
Drucke als auch mit einem Normalkollektiv vergleichbare venöse
Blutflussgeschwindigkeiten gemessen werden [222]
[237]. Daneben wurde bei einseitiger
Dekompression bei Patienten mit endokriner Orbitopathie ein Absinken des
klinischen Aktivitätsgrades (clinical activity score, CAS) der
Erkrankung sowohl auf der operierten als auch auf der nicht operierten
Seite beobachtet, was ebenfalls mit einer verbesserten venösen Drainage,
vermindertem intraorbitalem Druck und einer Reduktion der Expression
inflammatorischer Zytokine erklärt wird [205]
[238]
[239]. Hinsichtlich der
postoperativen Befunde der Orbitadekompression in Folge einer endokrinen
Orbitopathie zeigen sich bei einer Befragung zur Lebensqualität bin zu
88% der Patienten zufrieden [218]
[240].
Zur Beurteilung des Effektes der Orbitadekompression bei der EO werden
die Parameter
[Tab. 9]. gibt einen Überblick
über die Ergebnisse der Orbitdekompression bei der EO.
3.3.16.5 Komplikationen
Das Auftreten von Komplikationen ist von dem gewählten
Operationsverfahren abhängig. Dabei ist die Komplikationsrate beim
endonasalen transethmoidalen Vorgehen geringer als bei den
endoskopisch-transantralen Verfahren [234]
[241]. Die
Komplikationsrate ist gering und wird mit max. 9% angegeben [242].
Prinzipiell können die Komplikationen eingeteilt werden in:
-
Oculäre Komplikationen (Doppelbilder; Visusverschlechterung;
Bulbusmotilitätsstörungen; Bulbustiefstand) [227]:
-
Sinugene Komplikationen (akute und chronische Sinusitis)
-
Intracerebrale Komplikationen (Rhinoliquorrhoe; Meningitis;
intracerebrale Blutung) [229]
3.3.16.6 Fazit
Die Orbitadekompression ist ein wirksamer Eingriff zur Senkung des
intraorbitalen Drucks. In der Hand des erfahrenen Nasennebenhöhlen-und
Kopf-Hals-Chirurgen ist die Komplikationsrate gering. In den letzten
Jahren wurden zunehmend die transkonjuctivalen Zugangswege zum
Orbitaboden und zur lateralen Orbitawand sowie endoskopische Verfahren
beschrieben.
Zusammenfassend kann für die Orbitadekompression bei EO festgestellt
werden:
1) Die knöcherne Dekompression ist im Hinblick auf einen postoperativen
Visusgewinn und Rückgang des Exophthalmus der reinen Fettgewebsresektion
überlegen
2) Die Dekompression sollte immer bis in die Orbitaspitze durchgeführt
werden, da sich hier der größte hydrostatische Druck auf den N. opticus
findet. Es gibt einige Evidenz in der Literatur, dass eine balancierte
Dekompression mit oder ohne Fettresektion die effektivste Methode mit
relativ wenig Komplikationen ist [202]
[218]
[236]
[241].
3) Die gleichzeitige Fettgewebsresektion führt neben einem
Dekompressionseffekt wenn sie neben retro-auch peribulbär durchgeführt
wird auch zu einem Rückgang der Oberlidretraktion und damit zu einer
deutlichen Verbesserung der Kosmetik [237].
4) Für die laterale Dekompression wird zunehmend neben dem klassischen
pterinealen Zugang eine deep lateral wall decompression beschrieben, bei
der z. B. einen swinging lid Schnitt ein Teil der lateralen Wand
entfernt wird [214].
Die Notwendigkeit der Re-Operation aufgrund eines unzureichenden
Dekompressionseffektes nach der Erstoperation wird mit 9–18% angegeben
[243]
[244]. Faktoren, die sich in
multivariaten Analysen als besonders risikoreich hinsichtlich Auftretens
von Komplikationen und Wahrscheinlichkeit der Revisionsoperation
erwiesen haben sind: ausgeprägter präoperativer Exophthalmus, junges
Alter der Patienten, einseitige Dekompression, vorangegangene
Steroidtherapie, fortgesetzter Nikotinabusus und abnorme
Schilddrüsenfunktion. Auch die klinische Aktivität der Erkrankung ist
von großer Bedeutung [234]
[245].
Die Einführung einer Biologika Therapie zur Blockade des TSH Signalweges
bzw. des IGF1R könnte in der Zukunft zu einer Veränderung der
Indikationen für die Orbitadekompression bei der EO führen (vergl.
Abschnitt 3.1.8.).
3.4 Idiopathische orbitale Entzündung
M. Oeverhaus, I. Neumann, A. Eckstein
Klinik für Augenheilkunde, Sektion Orthoptik, Orbitazentrum, Universität Duisburg
Essen
3.4.1 Definition
Die idiopathische orbitale Entzündung (engl. Idiopathic orbital
inflammation, IOI), ist eine heterogene, inflammatorische
Erkrankung, die sich im Bereich der Orbita manifestiert. Früher wurde die
IOI auch Pseudotumor orbitae genannt, ein Begriff der heute nicht mehr
verwenden sollte. Es existieren keine pathognomonischen Zeichen und keine
eindeutigen serologischen, radiologischen oder histologischen Marker, sodass
es sich um eine Ausschlussdiagnose handelt. Sie macht etwa 10% der
entzündlichen Orbitaerkrankungen aus. Die Behandlung basiert maßgeblich auf
einer systemischen Therapie mit Kortikosteroiden und/oder
Immunsuppressiva.
3.4.2 Ätiologie und Pathogenese
Die Ätiologie der IOI bleibt unbekannt. Es wurde die Hypothese aufgestellt,
dass sie durch einen autoimmunen Prozess verursacht wird [246]
[247] z. B. durch eine subklinische Infektion oder immunologisches
Geschehen infolge einer Infektion [245]
[248].
Interessanterweise haben einige Studien das Epstein-Barr-Virus (EBV) als
möglichen Erreger von NSOI vorgeschlagen [249].
3.4.3 Symptome
Die IOI kann praktisch alle Strukturen in der Augenhöhle betreffen und sich
manifestieren als anteriore Form mit Skleritis, als Dakryoadenitis, als
Myositis, als diffuser Typ mit episkleritischen oder perineuritischen
Anzeichen oder als Orbitaspitzensyndrom.
Die klinischen Erscheinungsformen können erheblich variieren und hängen vom
Grad der Entzündung, der begleitenden Fibrose und der Größe der
Raumforderung ab. Es existieren keine pathognomonischen klinischen Zeichen.
Zu den möglichen, jedoch teils unspezifischen Symptomen gehören
Lidschwellung , Rötung, Ptosis, Exophthalmus, Bulbusverlagerung,
eingeschränkte Motilität, Hornhautbeteiligung und eine Verminderung der
Sehkraft. Eine anteriore IOI betrifft nicht nur die Augenhöhle, sondern kann
auch den Bulbus, die Bindehaut, die Sklera und die Lider einbeziehen. Einige
Fälle, die in der Vergangenheit als unspezifisch diagnostiziert wurden,
werden heute der Gruppe der IgG4-assoziierten Erkrankungen zugeordnet.
Aufgrund der Heterogenität der Manifestationen könnten sich weitere
spezifische Orbitaerkrankungen hinter dem Sammelbegriff IOI verbergen.
Schmerz stellt ein wichtiges Diagnosekriterium dar, insbesondere bei
orbitaler Myositis, bei der Schmerzen während der Augenbewegung in die
entgegengesetzte Richtung auftreten. Allerdings klagen auch 70% der
Patienten mit nicht-myositischer orbitaler Entzündung über Schmerzen.
3.4.4 Diagnostik
Ophthalmologische Untersuchungen
Eine ausführliche Anamnese und klinische Untersuchungen sind von
entscheidender Bedeutung für die Diagnose der IOI. Die ophthalmologische
Untersuchung umfasst die Bewertung der Augenlider (Ptosis, Retraktion,
Lidlag, Schwellung, Erythem), die Beurteilung der Orbita (Proptosis,
tastbare Masse, Empfindlichkeit), die Einschätzung der Einschränkung der
Augenbewegung (Extraokulare Muskulatur), die Bewertung des Auges
(Injektion, Chemosis, intraokuläre Entzündung, retinale Anomalien) und
die Funktion des Sehnervs (relativer afferentes Pupillendefekt [RAPD],
Farbsehen, Gesichtsfeld, Sehschärfe) [250].
Die Untersuchungen dienen liefern Hinweise für die Diagnose und die
Ausrichtung weiterer Abklärungen, da es sich bei der IOI um eine
Ausschlussdiagnose handelt. Lagophthalmus und Lidretraktion lassen eher
an die endokrine Orbitopathie (EO) denken, Episkleritis, Skleritis,
Keratitis und Uveitis hingegen deuten eher auf eine Granulomatose mit
Polyangiitis (GPA) hin [251]. Für
eine Sarkoidose sprechen Befunde wie keratische Präzipitate,
konjunktivale Knötchen, Irisknötchen oder posteriore Uveitis [252]. Trockene Augen mit schweren
Schäden an der Augenoberfläche sind eine gut bekannte
Schleimhautkomplikation des Sjögren-Syndroms.
Hinsichtlich der Augenbeweglichkeit zeigt die myositische IOI häufig eine
Einschränkung in die gleiche Richtung wie die Bewegung des betroffenen
Muskels (DD EO: restriktive Einschränkung in Gegenrichtung des
betroffenen Muskels). Der Grad der Einschränkung ist variabel [253], Schmerzen bei Augenbewegungen
sind ebenfalls charakteristisch. Die Augenbeweglichkeit ist bei IgG4-ROD
(IgG4-assoziierte Orbitopathie) bedingter Myositis relativ normal, und
Schmerzen sind selten [254].
Laboruntersuchungen und Bildgebung
Die Ausgangslaboruntersuchungen umfassen ein großes Blutbild, eine
Routinebiochemie und entzündliche Marker wie die
Blutsenkungsgeschwindigkeit oder C-reaktives Protein. Darüber hinaus ist
ein ausführliches Autoimmunpanel notwendig um eine systemische Ursache
auszuschließen [255].
-
Schilddrüsenlaborparameter (TSH, fT3, FT4, TRAK) sind notwendig
zum Ausschluss der EO
-
c-ANCA-Positivität hat eine hohe Vorhersagewert für die
Granulomatose mit Polyangiitis (GPA) (Suwanchote et al.,
2018).
-
Die Röntgenaufnahme der Brust oder die Thorax-CT werden neben des
Angiotensin-Converting-Enzym (ACE) und der löslichen IL-2
Rezeptors zur Abklärung einer vermuteten Sarkoidose
eingesetzt
-
Ein Serum-IgG4-Spiegel von ≥135 mg/dl ist eines der
diagnostischen Kriterien für IgG4-RD, aber es ist nicht
spezifisch für die Diagnose einer IgG4-assoziierten Orbitopathie
[256]
-
Bei Beteiligung der Tränendrüsen sollten Anti-RO-Antikörper,
Anti-LA-Antikörper (Sjögren-Syndrom), und der Rheumafaktor (RF)
abgenommen werden.
Diese Antikörpertests können selektiv nach einer sorgfältigen Anamnese
und einer umfassenden körperlichen Untersuchung ausgewählt werden.
Leider haben serologische Tests eine begrenzte Rolle bei der Diagnose
der IOI. Es gibt keinen diagnostischen oder Ersatzmarker für IOI, die
Labordiagnostik hilft also nur beim Ausschluss anderen möglicher
Ursachen. Zu beachten ist, dass die meisten Bluttests eine begrenzte
Sensitivität besitzen. Weiterhin können die Ergebnisse falsch negativ
sein, wenn die Erkrankung nur mild aktiv ist oder die Läsion auf die
Orbita beschränkt ist (z. B. isolierte GPA oder IgG4-ROD) [257] ([Tab. 5]).
Ähnlich verhält es sich auch bei der CT-und MRT-Bildgebung: Die
Bildgebung ermöglicht vor allem eine präzise Bestimmung des Ausmaßes der
Inflammation und der beteiligten Orbitastrukturen. Bei Verdacht auf IOI
sollte, wenn möglich, eine MRT der Orbita mit Diffusionsdarstellung und
Kontrastmittelgabe von Gadolinium durchgeführt werden. In T1-gewichteten
Aufnahmen erscheint die IOI isointens bis hypointens im Vergleich zu den
Muskeln, während sie in T2-gewichteten Aufnahmen hypointens bis
isointens ist [258].
Bei Kontraindikationen oder Knochenbeteiligung ist jedoch eine
hochauflösende CT mit Kontrastmittel nahezu gleichwertig. Im akuten
Stadium zeigt sich eine deutliche Kontrastmittelanreicherung, die bei
chronischer und sklerosierender diffuser Entzündung nur geringfügig bis
mäßig ausfällt. Besonders wichtig ist die bildliche Darstellung von
Entzündungen im orbitalen Apex. Hier können Anzeichen einer
intrakraniellen Beteiligung und gegebenenfalls abnormales Gewebe in der
Fissura orbitalis superior, entlang der Meningen im Schädelinneren und
im Sinus cavernosus gefunden werden.
Die orbitale Myositis weist ein charakteristisches Erscheinungsbild in
der CT und MRT auf. Es sind eine oder mehrere Augenmuskeln fächerförmig
erweitert, wobei der Sehnenansatz betroffen ist, und gelegentlich sind
Infiltrate im umgebenden Fettgewebe zu sehen. Bei der endokrinen
Orbitopathie ist dagegen in der Regel der Sehnenansatz nicht betroffen
und erscheint schlank. Weiterhin ist bei der EO eher der Musculus rectus
inferior und medialis betroffen, während bei der IOI der M. rectus
lateralis am häufigsten betroffen ist.
Die Dakryoadenitis präsentiert sich als unscharf begrenzte, solide
Vergrößerung der Tränendrüse, die sich an den Knochen und den Bulbus
anschmiegt. Sowohl die Periskleritis als auch die Perineuritis zeigen
sich durch eine diffuse Verdickung mit zirkulärem
Kontrastmittelanreicherung um die Struktur der Sklera und den
Sehnerv.
Biopsie
Es gab lange Debatten über den Zeitpunkt der Biopsie. Wenn die Diagnose
selbst nach gründlichen klinischen Untersuchungen, Laboruntersuchungen
und Bildstudien unklar ist, empfehlen einige Ärzte einen therapeutischen
Versuch mit Kortikosteroiden, während andere eine Biopsie bevorzugen.
Während einige Experten der Ansicht sind, dass eine Biopsie nicht immer
notwendig ist und dass das Ansprechen auf Steroide die Diagnose der IOI
bestätigen kann [259], sehen viele
andere die unbedingte Notwendigkeit einer Biopsie, um andere
Erkrankungen auszuschließen und eine definitive Diagnose zu stellen.
Die Biopsie kann wertvolle histologische Informationen für die Diagnose
liefern. Häufig sind Immunhistochemie, Immunphänotypisierung und
molekulare Diagnostik erforderlich, um IgG4-ROD oder lymphoproliferative
Erkrankungen auszuschließen [257].
Der Nachteil der Biopsie besteht im Risiko des operativen Eingriffs an
der Orbita selbst. Nach einer Orbitotomie und Biopsie können erhebliche
und dauerhafte Beeinträchtigungen wie Sehverlust,
Bewegungseinschränkungen der Augenmuskulatur oder Ptosis auftreten. Das
Risiko steigt, wenn die Läsion den orbitalen Apex oder die
Augenmuskulatur betrifft [260].
Darüber hinaus kann die Orbitotomie in einer entzündeten Orbita aufgrund
des erhöhten orbitalen Drucks und der verzerrten anatomischen Strukturen
technisch schwieriger sein als in einer normalen Orbita. Das Risiko
sinkt bei einem erfahrenen Operateur, weswegen die Biopsien vor allen in
spezialisierten Zentren vorgenommen werden sollten.
Mombaerts et al. (2019) haben kürzlich einige wichtige klinische
Empfehlungen zur Gewinnung einer optimalen Gewebeprobe aus einer Biopsie
vorgestellt [261]:
-
Entnahme der Gewebeprobe an der richtigen Stelle
-
Mehrere Proben sofern die Läsion in der Bildgebung eine
Heterogenität aufweist
-
Ausreichende Größe der Probe, um mögliche spezielle Färbungen,
Immunhistochemie oder molekulare Tests neben der routinemäßigen
Hämatoxylin-Eosin-Färbung vorzubereiten
-
Bei der Biopsie sollte der Chirurg darauf achten, das Gewebe
während der Präparation und Entnahme nicht zu beschädigen
-
Kortikosteroide und jegliche immunsupprimierenden Medikamente
sollten idealerweise 2 Wochen vor der Biopsie abgesetzt werden,
da diese Medikamente die pathologischen Merkmale der Probe
verschleiern können
-
Feinnadelbiopsien liefern deutlich unzuverlässigere
Ergebnisse
Ein Kortikosteroidversuch basiert auf der Überzeugung, dass die Diagnose
durch gründliche ergänzende Tests grob gestellt werden kann. Es ist auch
weniger invasiv als eine Orbitabiopsie. Es kann gleichzeitig
diagnostisch und therapeutisch sein: Einige Ärzte betrachten eine
schnelle und signifikante Steroidansprechbarkeit als Hinweis auf die
Diagnose von IOI [262]
[263] Allerdings kann es zu einer
fehlerhaften Diagnose kommen. Kortikosteroide sind starke, unspezifische
entzündungshemmende Medikamente, daher können spezifische orbitale
Entzündungskrankheiten wie EO, Sarkoidose, GPA und sogar Lymphome auf
die Kortikosteroidbehandlung ansprechen.
Im Jahr 2016 wurde eine Umfrage bei einem internationalen Expertengremium
der Orbitalgesellschaft durchgeführt, um einen Konsens über mögliche
diagnostische Maßnahmen zu erzielen. Die Experten waren sich einig, dass
eine Gewebebiopsie für nicht-myositische IOI empfohlen wird, während bei
myositischer IOI zunächst eine Steroidtherapie versucht werden kann
[264]. Wenn die Läsion den
orbitalen Apex oder die Augenmuskulatur betrifft, sollte die Biopsie mit
Vorsicht in Betracht gezogen werden, und eine empirische
Kortikosteroidbehandlung kann angebracht sein, wenn die Läsion
wahrscheinlich keine Infektion oder Malignität darstellt. Dennoch sollte
selbst in diesen Fällen die Biopsie erneut in Erwägung gezogen werden,
wenn die Reaktion zweifelhaft ist oder der klinische Verlauf atypisch
ist.
Histopathologie und Immunhistochemie
Makroskopisch erscheinen Entzündungen der Orbita (IOI), IgG4-assoziierte
Erkrankungen und GPA in der Regel weißlich und fest, während
lymphoproliferative Erkrankungen und Malignome eher rosa und stark
durchblutet wirken. Das Gewebe der IOI zeigt eine Infiltration von
Lymphoplasmazellen, Fibrose, Eosinophilie und lymphoide Aggregate mit
Keimzentren. Eine ausgedehnte Fibrose, die nicht im Verhältnis zu den
entzündlichen Infiltraten steht, weist auf den sklerosierenden Subtyp
oder die IgG4-Erkrankung hin. Insbesondere bei Dakryoadenitis sind
intensive Sklerose, periduktale Fibrose und atrophierte Drüsen
typisch.
Granulomatöse Entzündung, Vaskulitis und Nekrose sind in der Regel
Ausschlusskriterien für die Diagnose von IOI. Das Vorhandensein von
Granulomen kann auf Sarkoidose und GPA hinweisen. Dies gilt auch für die
immunhistochemische Analyse von Plasmazellen auf IgG4-Positivität, die
die Grundlage der histologischen Diagnose einer IgG4-assoziierten
Erkrankung bildet (s. Kapitel IgG4 für Diagnosekriterien).
3.4.5 Therapie
Immunsuppressiva
Die bevorzugte Erstlinientherapie bleibt die orale Verabreichung von
Kortikosteroiden (Prednisolon), wobei Dosierungen von 20–80 mg pro Tag
oder 1 mg/kg Körpergewicht pro Tag verwendet werden. Diese Therapie wird
langsam über einen Zeitraum von 6–8 Wochen ausgeschlichen. Die
anfängliche Ansprechrate auf Stero-ide ist hoch, da 78 % der Patienten
gut darauf ansprechen, aber nur 30–40% werden geheilt. Rezidive sind
häufig und hängen vor allem vom Typ der IOI ab (Dakryadenitis 60%,
Myositis 25%). Das Intervall zwischen der ersten Gabe von Steroiden und
der Verbesserung der Beschwerden und der initialen Symptome liegt
zwischen 2–3 Tagen und 2 Wochen. Viele Patienten benötigen zusätzlich
immunsuppressive Medikamente wie Methotrexat oder Azathioprin. Das
Intervall zwischen dem erstmaligen Auftreten der Erkrankung und dem
Beginn der Steroidtherapie scheint einen Einfluss auf die Häufigkeit von
Rezidiven zu haben. Patienten mit einem längeren Intervall bis zur
Behandlung und einer kürzeren Therapiedauer weisen eine erhöhte
Rezidivrate auf.
Im Falle eines mangelnden Ansprechens auf die Therapie oder bei Rezidiven
greifen Ärzte auf andere Substanzen zurück, die in Anlehnung an die
Behandlung anderer Autoimmunerkrankungen eingesetzt werden. Smith und
Rosenbaum behandelten 57 % der IOI-Patienten erfolgreich mit Methotrexat
(15–25 mg pro Woche) [265]. Andere
Gruppen berichten über Erfolge mit Azathioprin, Mycophenolat-Mofetil
(MMF), Tocilizumab, Rituximab, Infliximab und Ada-limumab [266]
[267]
[268]
[269]
[270]
[271]
[272]. Leider ist die Datenlage zu
dem Einsatz dieser Medikamenten bei IOI begrenzt und es fehlen
prospektive Studien. Alle Therapie sind „off-Label“ und müssen zuvor bei
der Krankenkasse beantragt werden. Es empfiehlt sich die Therapien
interdisziplinär mit Internisten, bevorzugt Rheumatologen,
durchzuführen.
Strahlentherapie
Einige Forschergruppen haben erfolgreich externe Strahlentherapie mit
mittleren Strahlendosen von 1000–3000 cGy über einen Zeitraum von 2–3
Wochen angewendet, entweder als Ergänzung zur herkömmlichen Therapie,
als Alternative dazu oder zur Reduzierung der Kortikosteroidbehandlung.
Mögliche Nebenwirkungen umfassen strahlenbedingte Keratitis, periokuläre
Dermatitis und Katarakt. Es mangelt an prospektiven und randomisierten
Studien zu diesem Thema, wodurch die wissenschaftliche Evidenzlage
begrenzt ist und auf klinischen Erfahrungen beruht [273]
[274]
[275].
Chirurgische Exzision
Bei einer lokal begrenzten IOI, wie einer reinen Dakryoadenitis kann
sogar eine großzügige Biopsie und Volumenreduktion durch Entfernung
eines Teils der palpebralen Tränendrüse erfolgreich sein. Bei größeren
Raumforderungen kann eine „Debulking-Operation“ erwogen werden [276].
3.5 IgG4 assoziierte Erkrankung in der Augenhöhle, benigne lymphoide
Hyperplasie
A. Eckstein, I. Neumann, M. Oeverhaus
Klinik für Augenheilkunde, Sektion Orthoptik, Orbitazentrum, Universität Duisburg
Essen
IgG4-bedingte Erkrankungen (IgG4-RD) wurden erstmals 2001 bei Patienten mit
sklerosierender Cholangitis und erhöhten Serum-IgG4-Spiegeln beschrieben [277]. Weitere Organmanifestationen,
darunter Autoimmunpankreatitis (AIP), Hypophysitis, Riedel-Thyreoiditis,
interstitielle Nephritis und retroperitoneale Fibrose, zeigen ähnliche klinische
und laborchemische Merkmale. Die orbitale Form der IgG4-assoziierten Erkrankung
wurde 2007 erstmals beschrieben [278].
Die klinische Symptomatik der IgG4-RD hängt von Organomegalie oder
Organdysfunktion durch zelluläre Infiltration oder Fibrose ab. In einer
Übersichtsarbeit mit 95 Patienten wurde bei 68% der Patienten ein breites
Spektrum systemischer Organmanifestationen bei orbitaler IgG4-RD beschrieben,
wobei die Speicheldrüsen am häufigsten betroffen waren, gefolgt von Lymphknoten
[279]. Im spanischen Register waren es
47% (n=55 Patienten) [280]. Eine erhöhte
IgG4-Konzentration im Serum wird nicht immer bei orbitaler Manifestation
beobachtet [281].
3.5.1 Pathogenese
Die Pathogenese von IgG4-RD ist unzureichend verstanden, aber wie bei anderen
Autoimmunerkrankungen wird ein molekulares Mimikry als zentraler Mechanismus
vermutet. Dies beinhaltet die Kreuzreaktivität von bakteriellen
Peptidsequenzen mit körpereigenen Proteinen, was zur Bildung von
Autoantikörpern führt. Ein zweiphasiges Modell mit initialer molekularer
Mimikry und Th1-Antwort, gefolgt von einer Th2-und Treg-vermittelten
Immunantwort, wird diskutiert [282].
Die freigesetzten Zytokine (z. B. IL-4, TGF-β1) könnten die Organfibrose bei
IgG4-assoziierten Erkrankungen bedingen [283]
[284].
Histologisch besteht ein Kontinuum zur benignen lymphoiden Hyperplasie und
idiopathischer Orbitaentzündung (IOI). Bei Anwendung der Diagnosekriterien
der IgG4-RD auf alte histologische Schnitte lassen sich 50% der lymphoiden
Hyperplasien und ½ bis ¼ der IOI der IgG4-RD zuordnen [285]
[286]. Trotz klinischer und histologischer Ähnlichkeiten zeigen
genetische Analysen deutliche Unterschiede zwischen IOI und
IgG4-Orbitopathie [287]
[288].
3.5.2 Klassifikation/ Diagnostik
Die Diagnosekriterien für IgG4-RD wurden mehrfach überarbeitet, insbesondere
für rein organspezifische Manifestationen wie die Orbitamanifestation [289]. Der histologische Nachweis der
charakteristischen Veränderungen bleibt der Goldstandard für die Diagnose.
Die Abgrenzung von anderen entzündlichen Prozessen in der Orbita,
insbesondere von lymphoproliferativen Läsionen, ist aufgrund von
IgG4-positiven Plasmazellen nicht einfach. Das Gesamtbild aus klinischer
Präsentation und histologischem Befund bildet den diagnostischen Beweis
(siehe [Tab. 10]).
Tab. 10 Die 2020 aktualisierten diagnostischen
Kriterien für IgG4-RD.
Item
|
Definition
|
Item 1 Clinical and radiological features
|
One or more organs show diffuse or localized swelling or
a mass or nodule characteristic of IgG4-RD. In single
organ involvement, lymph node swelling is omitted.
|
Item 2 serological diagnosis
|
Serum IgG4 levels greater than 135 mg/dl.
|
Item 3 pathological diagnosis
|
Positivity for two of the following three criteria:
1 Dense lymphocyte and plasma cell infiltration with
fibrosis.
2 Ratio of IgG4-positive plasma cells /IgG-positive cells
greater than 40% and the number of IgG4-positive plasma
cells greater than 10 per high powered field
3 Typical tissue fibrosis, particularly storiform
fibrosis, or obliterative phlebitis
|
Diagnosis
|
Definite: 1) +2) +3)
Probable: 1) + 3)
Possible: 1) + 2)
|
Bei orbitalen Manifestationen ermöglicht die Diagnosestellung anhand
typischer klinischer, radiologischer und histologischer Befunde eine
wahrscheinliche Diagnose, selbst wenn das Verhältnis von IgG4-positiven
Plasmazellen zu allen IgG-positiven Zellen im Gewebe unter 40% liegt und
kein pathologisch erhöhter IgG4-Spiegel im Serum nachweisbar ist. Dies ist
insbesondere für die Antragstellung von "off-label"
Therapien relevant, da Rituximab für IgG4-RD nicht zugelassen ist.
Obwohl ein erhöhter IgG4-Serumspiegel nicht zwingend für die Diagnose
erforderlich ist, ist die Messung aus verschiedenen Gründen sinnvoll. Im
Verlauf der Erkrankung können zusätzliche Organmanifestationen auftreten,
und es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass der IgG4-Plasmaspiegel mit dem
Ausmaß der Organbeteiligung ansteigt. Diese Information kann bei der
Beurteilung des Therapieansprechens hilfreich sein, da der IgG4-Spiegel
unter erfolgreicher Behandlung abnehmen kann. Rückfälle scheinen bei
Patienten mit anfänglich höherem Serum-IgG4-Spiegel häufiger aufzutreten. In
der Regel liegen das C-reaktive Protein (CRP) und die
Blutsenkungsgeschwindigkeit im Normbereich, und ein erniedrigter Spiegel des
Komplementsystems kann auftreten.
In der bildgebenden Diagnostik haben sich die Computertomographie (CT) und
die Magnetresonanztomographie (MRT), jeweils mit Kontrastmittel, als
gleichwertig in ihrer diagnostischen Aussage erwiesen. Bei
MRT-Untersuchungen sollte die Anwendung diffusionsgewichteter Sequenzen
(„diffusion weighted imaging“ [DWI]) erwogen werden, da diese zur
Unterscheidung zwischen Entzündungen und malignen Läsionen beitragen können.
Es könnte sogar zur Differenzialdiagnose von IOI und IgG4 beitragen [290]. Positronenemissionstomographie
(PET)-CT-Verfahren können eine gute Detektion von entzündlichen Herden
ermöglichen, sind jedoch nur begrenzt verfügbar und bei kleinen orbitalen
Läsionen nur bedingt aussagekräftig.
3.5.3 Typische Manifestationen in der Orbita
Klinisch präsentieren sich Patienten mit einer IgG4-assoziierten Orbitopathie
mit einer subakuten, oft nicht stark schmerzhaften, entzündlichen
Symptomatik (Schmerzen treten nur bei etwa 20% der Fälle auf). Dies steht im
Kontrast zu der häufigeren und stärker schmerzhaften IOI ([Tab. 11]). Die Läsionen verursachen
einen raumfordernden Effekt, dadurch sind Exophthalmus und Lidschwellung
führende Symptome. Ein kleiner Teil der Patienten entwickelt
Motilitätsstörung und eine kompressive Optikusneuropathie 5,3% [291]. In der Bildgebung ist die
ein-bzw. beidseitige Vergrößerung der Tränendrüse ein klassisches Zeichen.
Eine charakteristische Manifestation ist die Ummauerung von Ästen des N.
trigeminus, was bei der IOI nur sehr selten auftritt (IgG4 11–68% und IOI
0–16% [285]
[286]).
Tab. 11 zeigt den Vergleich der orbitalen
Manifestationen von IOI im Vergleich zu IgG4 nach Chen et al.
2021 [294].
Symptom
|
IgG4 RD(n=100)
|
IOI (idiopathische orbitale Inflammation) (n=65)
|
P Wert
|
Radiologische Befunde (Befallsmuster)
[18]
|
Tränendrüse
|
73,0%
|
66,2%
|
0,347
|
Extraokuläre Muskeln
|
45,0%
|
46,2%
|
0,884
|
Orbitafett
|
37,0%
|
43,1%
|
0,435
|
Nervus optikus Region
|
2,0%
|
0%
|
0,520
|
Lid
|
20,0%
|
13,8%
|
0,310
|
Sinusitis
|
68,0%
|
46,2%
|
0,005
|
Lateralität
[18]
|
unilateral
|
51%
|
80%
|
<0,001
|
Bilateral
|
49%
|
20%
|
Geschlecht
|
|
|
|
Male
|
60,0%
|
38,5%
|
0,007
|
Female
|
40,0%
|
61,5%
|
Clinical manifestation
[18]
|
Pain
|
17,0%
|
33,8%
|
0,013
|
Eyelid swelling/mass
|
94,0%
|
96,9%
|
0,629
|
Eyelid hyperemia
|
39,0%
|
58,5%
|
0,014
|
Diplopia
|
13,0%
|
29,2%
|
0,010
|
Proptosis
|
52,0%
|
43,1%
|
0,262
|
EOM restriction
|
31,0%
|
38,5%
|
0,323
|
Decreased VA
|
26,0%
|
30,8%
|
0,504
|
Ptosis
|
12,0%
|
23,1%
|
0,060
|
Other Autoimmune disease/allergic history
|
16,0%
|
10,9%
|
0,362
|
Enlargement of the Trigeminal nerve
|
68%
|
17%
|
[10]
|
11%
|
0%
|
[9]
|
Von der Tränendrüse ausgehend breitet sich die Entzündung vornehmlich in
Richtung M. rectus lateralis aus, was mit entsprechender Motilitätsstörung
einhergeht. Es kann also praktisch jedes orbitale Gewebe mit Ausnahme des
Bulbus betroffen sein, wobei Skleritis, Uveitis und Affektion der knöchernen
Orbita selten sind [292].
Während bei systemischer Manifestation männliche Patienten (Altersgipfel bei
knapp 60 Jahren) häufiger betroffen sind, scheint das Geschlechterverhältnis
bei Manifestation der IgG4-assoziierten Erkrankung im Kopf-Hals-Bereich eher
ausgewogen [293]. In 30–40% der Fälle
besteht eine allergische Diathese (Asthma, Heuschnupfen, Eosinophilie,
erhöhtes Serum-IgE). Belastbare Daten zu Prävalenz, Verlauf und Prognose
liegen bisher aufgrund der begrenzten Erfahrungen, insbesondere für die
orbitale Beteiligung, nicht vor.
3.5.4 Leitlinien/Therapieziele
Zur Therapie der IgG4-assoziierten orbitalen Erkrankung gibt es bisher keine
umfangreiche evidenzbasierte Datenlage, da kontrollierte Studien fehlen.
Diese sind auch in naher Zukunft aufgrund der Seltenheit der Erkrankung und
der vielgestaltigen klinischen Präsentation je nach betroffenem Organsystem
nicht zu erwarten. Insofern beruhen die aktuellen Therapieempfehlungen auf
kleinen Fallserien und hauptsächlich retrospektiven Studien [279]
[295]
[296], Bei Beteiligung
anderer Organsysteme wird empfohlen, nur bei signifikantem Leidensdruck bzw.
dann zu behandeln, wenn die Gefahr der Organ-/Funktionseinschränkung
besteht. Bei den meisten orbitalen Manifestationen besteht ein signifikanter
Leidensdruck hinsichtlich Schwellung und Exophthalmus, bei
Funktionsstörungen besteht ohnehin eine dringliche
Behandlungsindikation.
Grundpfeiler der Therapie ist die orale Steroidtherapie mit 0,6mg bis 1mg /kg
Körpergewicht Prednison über mindestens 3 Monate, gefolgt von einer
Erhaltungstherapie ([Abb. 12]).
Abb. 12 Dosierung der Steroidtherapie bei IgG4 RD. Um Rezidive
zu vermeiden ist eine ausreichend lange Remissionserhaltungstherapie
notwendig.
Bei nichtorbitalen Organmanifestationen werden Rezidive ohne vorherige
Steroidtherapie in 42%, nach vorangegangener Steroidtherapie nur in 24% der
Fälle beschrieben [297]. Im
asiatischen Raum wird daher eine zwölfmonatige Erhaltungstherapie
favorisiert. Abzuwägen sind mögliche negative Effekte einer langdauernden
Steroidtherapie gegen die Rezidivrate (5,1% mit Erhaltungstherapie versus
22,7% ohne Erhaltungstherapie). Wiederkehrende Schübe einer IgG4-Erkrankung
führen zur irreversiblen Schädigung des betroffenen Organs, was im Falle der
chronischen Dakryoadenitis zur Sicca Symptomatik führt [282].
Das primäre positive Ansprechen auf Steroide liegt mit 97–100% sehr hoch. Bei
orbitalen Manifestationen liegt die Rezidivquote in der Literatur noch höher
zwischen 47–57%, sodass primär oder beim ersten Rezidiv eine Kombination mit
einer sog. steroidsparenden Substanz abgewogen werden muss [286]
[298]. Rezidive scheinen häufiger bei pathologisch erhöhten IgG4
Serumspiegeln aufzutreten [281].
Detiger et al. führte eine systematische Literaturanalyse von insgesamt n=95
Patienten durch und untersuchte den Therapieerfolg von DMARDS und Biologica
[279]. Die Rate des guten
Ansprechens ist in [Tab. 12]
dargestellt:
Tab. 12 DMARDS (Disease modifying antirheumatoid
drugs) und Biologica zur Behandlung der IgG4 assoziierten
Erkrankung.
Medikament
|
Ansprechrate
|
Bemerkungen
|
MTX
|
46%
|
6% Switch due to side effects
|
Azathioprin
|
36%
|
36% Switch due to side effects
|
MMF
|
70%
|
10% Switch due to side effects
|
Infliximab
|
80%
|
|
Rituximab
|
93%
|
19% Maintenance: repeated Rituximab
|
Glucocorticoide
|
90%
|
36% relapse while tapering or after discontinuation
|
21% maintenance dose 7,5mg [280]
|
Cyclophosphamid
|
75%
|
|
In den beschriebenen Einzelfällen bzw. kleinen Fallserien scheint eine
retrobulbäre Bestrahlung gut wirksam, bei Detiger et al 2018 wurde eine
Ansprechrate von 57% berichtet (n=4/7) [279]
[286]
[294]
[301]. Sie kann alleine oder bei großen orbitalen Massen nach
einer „Debulking“-Operation eingesetzt werden [294].
Die besten verfügbaren Daten beziehen sich auf den Anti-CD20-Antikörper
Rituximab, dessen Ansprechrate in zwei großen Reviews bei 93%-94% liegt
[292]
[299]. Rituximab depletiert
Plasmazellvorstufen aus dem peripheren Blut. Aufgrund möglicher
Nebenwirkungen wie Knochenmarkdepression, Lebertoxizität und
Leukenzephalopathie sollte die Verabreichung durch erfahrene Behandler
erfolgen. Die Substanz ist in Deutschland für diese Indikation nicht
zugelassen, und die Kostenübernahme muss vor Therapiebeginn geklärt werden.
Insbesondere bei Patienten über 60 Jahren, die typischerweise von dieser
Erkrankung betroffen sind, könnte Rituximab aufgrund der potenziell
erheblichen Nebenwirkungen einer mehrmonatigen/ ggfs. wiederholten
Steroidtherapie an Bedeutung gewinnen. Zu beachten ist, dass 19% der
Patienten eine Erhaltungstherapie benötigten. Bei allergischen Reaktionen
gegen Rituximab kann auch der humanisierte CD20-Antikörper Obinutuzumab
eingesetzt werden, wobei 6/8 Patienten eine komplette Remission zeigten
[300].
Tab. 13 Häufigkeit der Organmanifestationen bei GPA
[[309]
Symptom
|
Bei Granulomatose mit Polyangiitis (%)
|
Allgemeinsymptome
|
40–100
|
Nierenbeteiligung
|
58
|
Lungenbeteiligung
|
53
|
Muskuloskeletale Beschwerden
|
60
|
Hals-Nasen-Ohren-Trakt
|
93
|
Augenbeteiligung
|
30
|
Hautbeteiligung
|
20
|
Kardiale Beteiligung
|
13
|
Beteiligung des zentralen Nervensystems
|
10
|
Peripher-neurologische Beteiligung
|
40
|
Gastrointestinale Beteiligung
|
2
|
Tab. 14 Klassifikationskriterien für eine GPA von
ACR/EULAR.
|
Parameter
|
Punktzahl
|
Klinische Symptome
|
Nasenbeteiligung mit blutigemAusfluss, Ulzerationen,
Verkrustungen, Verstopfung oder
Septumdefekt/-perforation
|
3
|
|
Knorpelbeteiligungmit Entzündung von Nasen-/Ohrknorpel,
Heiserkeit, Stridor, endobronchialer Beteiligung oder
Sattelnase
|
2
|
|
Schallleitungs-oder sensorineuraler Hörverlust
|
1
|
Laborchemisch
|
Positive c-ANCA oder PR3-Antikörper
|
5
|
|
Positive p-ANCA oder MPO-Antikörper
|
-1
|
|
Periphere Eosinophilie ≥1·109/l
|
-4
|
bildgebend
|
Pulmonale Knötchen, Infiltrate oder Kavernen
|
2
|
histologisch:
|
Granulome, extravaskuläre granulomatöse Entzündung,
Riesenzellen
|
2
|
|
Pauci-immune GN
|
1
|
In Einzelfällen oder kleinen Fallserien zeigt eine retrobulbäre Bestrahlung
gute Wirksamkeit. Detiger et al. berichteten 2018 über eine Ansprechrate von
57% (n=4/7) [279]
[286]
[294]
[301]. Diese kann
allein oder nach einer "Debulking"-Operation bei großen
orbitalen Massen eingesetzt werden [294].
Patienten mit einer IgG4-RD-Manifestation in der Orbitaspitze sind selten und
haben insgesamt trotz maximaler Behandlungsanstrengungen eine schlechte
Prognose [291].
Langzeitkomplikationen bei Patienten mit IgG4-assoziierter Erkrankung deuten
darauf hin, dass langfristig ein leicht erhöhtes Risiko für die Entwicklung
eines (B-Zell-) Lymphoms besteht [302]. Dies ist vergleichbar mit Situationen bei anderen chronischen
Autoimmunerkrankungen [303]. Darüber
hinaus kann eine unbehandelte IgG4-RD mit erhöhten Entzündungsmarkern zu
einer sekundären AA-Amyloidose führen [304].
3.6 ANCA-assoziierte Vaskulitiden, GPA
A. Eckstein, I. Neumann
Klinik für Augenheilkunde, Sektion Orthoptik, Orbitazentrum, Universität Duisburg
Essen
3.6.1 Definition
Antineutrophile zytoplasmatische Antikörper (ANCA)-assoziierte Vaskulitiden
(AAV) sind rheumatologische Systemerkrankungen, die mit einer Vaskulitis
kleiner und mittelgroßer Gefäße verbunden sind. Die drei verschiedenen
Formen sind die Granulomatose mit Polyangiitis (GPA), die mikroskopische
Polyangiitis (MPA) und die eosinophile Granulomatose mit Polyangiitis
(EGPA). Ihre Hauptunterschiede liegen in der Organbeteiligung, wobei eine
Nasennebenhöhlen-und Lungenbeteiligung bei allen typisch ist.
Konjunktivitis, Episkleritis und Skleritis stellen die häufigsten okulären
Manifestationen bei allen drei Formen dar. Eine umfassende Auswertung einer
multizentrischen Kohorte mit 1441 Patienten, darunter 395 mit EGPA, 876 mit
GPA und 170 mit MPA, zeigte Augenmanifestationen bei 23,1% der Patienten.
Dabei wurden 39 (9,9%) mit EGPA, 287 (32,7%) mit GPA und 12 (7,1%) mit MPA
zu jedem Zeitpunkt im Krankheitsverlauf dokumentiert [305]. Orbitale Manifestationen treten
jedoch fast ausschließlich bei GPA auf (18%).
3.6.2 Pathogenese
AAVs manifestieren sich durch eine Vaskulitis kleiner bis mittelgroßer
Gefäße. Die GPA zeichnet sich zusätzlich durch granulomatöse Entzündung aus,
die EGPA durch periphere Eosinophilie und eosinophile Organinfiltration. Die
MPA manifestiert sich allein mit nekrotisierender Vaskulitis der kleinen
Gefäße. Das typische ANCA-Zielantigen bei GPA ist Proteinase 3 (PR3), das in
bis zu 84% der Fälle positiv ist. Bei MPA und EGPA ist das Zielantigen
Myeloperoxidase (MPO), bei MPA in bis zu 96% und EGPA in 23% der Fälle [306]. PR3 und MPO sind Enzyme
neutrophiler Granulozyten, deren Antikörperbindung zur Aktivierung führt.
Dies führt zur Zytokinproduktion, Freisetzung von Sauerstoffradikalen und
lytischen Enzymen, was eine Endothelschädigung verursacht. Der alternative
Weg des Komplementsystems ist involviert, da das Anaphylatoxin C5a die
Expression von MPO und PR3 auf Neutrophilen unterstützt.
Der ANCA-Status ist bei lokalisierten Formen, wie isolierter orbitaler
Beteiligung der GPA, oft negativ [307]. Möglicherweise ist die GPA bei lokalisierten orbitalen
Entzündungen unterdiagnostiziert. Eine Genexpressionsanalyse von Rosenbaum
et al. aus dem Jahr 2015 zeigte, dass 52% der histologisch als idiopathische
orbitale Entzündung eingeordneten Proben molekulargenetisch einer GPA
ähnelten [308].
Triggerfaktoren für die ANCA-Bildung können neben bakteriellen Erregern wie
Staphylococcus aureus auch Medikamente (beispielsweise Hydralazin) oder
Drogen (Kokain) sein („drug-induced AAV“) [307].
3.6.3 Symptome der GPA
Die Erstmanifestation einer GPA liegt bei 90% im Respirationstrakt. Die
Nieren sind in 11–20% der Fälle bei Erstvorstellung befallen. Innerhalb der
ersten zwei Jahre der Krankheit entwickelt sich jedoch in 77–85% eine
Glomerulonephritis. Arthralgie und Myalgie treten in 70% auf und eine
neurologische Beteiligung findet man bei rund 1/3 der Patienten, am
häufigsten periphere Neuropathie.
Bei allen drei Formen sind Konjunktivitis, Episkleritis und Skleritis die
häufigste okuläre Manfestation. Eine orbitale Beteiligung trifft man fast
nur bei der GPA an (18%).
In einer großen Kohorte von GPA-Patienten der Mayoklinik (n=1173) hatten 183
Patienten (6%) okuläre Symptome. Nicht alle okulären Symptome haben sich
bereits bei Erstdiagnose, sondern erst im Verlauf gezeigt. Die häufigste
okulare Manifestation war eine Injektion der Konjunkiva (57%), gefolgt von
Augenschmerzen (46%), Skleritis (22%), Episkleritis (21%),
Augenhöhlenentzündung (18%), Tränenwegsstenose (10%) und Uveitis (9%). Ein
Reduktion der Sehschärfe trat bei 18% auf. [310]
Man unterscheidet 2 Gruppen bei der okulären Beteiligung: mit und ohne
Zusammenhang zur Sinusitis. Am häufigsten ist die orbitale
Beteiligung bei Sinusitis und führt zu Proptosis, Lidödem, Diplopie
und vermindertem Sehvermögen. Orbitaschmerzen treten nur bei 30% der
Patienten auf [311]. In 14–30% ist die
Manifestation bilateral [312] und
orbitale Manifestation sind oft Therapie resistent. Auch in der Bildgebung
sind orbitale Manifestationen mehr einseitig als beidseitig [313]: (86%) einseitig und beidseitig
(14%) (insgesamt 16 Orbitae). In 69% lagen koexistente Orbital-und
Nebenhöhlenerkrankungen mit Knochenerosion lagen vor. Eine Tränenwegsstenose
kann sich im späteren Verlauf bei Sinusitis entwickeln. Eine isolierte
schmerzhafte Dakryoadenitis ist ebenfalls möglich.
3.6.4 Klassifikation von Aktivität und Schweregrad GPA
Für die GPA sind Klassifikationskriterien von ACR/EULAR verfügbar [314]:
Dabei werden Punkte vergeben bei einem score ≥5 Punkte wird die GPA Diagnose
gestellt.
Mit diesen Diagnosekriterien ist die sichere Diagnose bei einer lokalisierten
Form einer granulomatösen Vaskulitis in der Orbita ohne ANCA Nachweis leider
nicht möglich. Hier ist es wichtig eine Vaskulitis-Referenzpathologie
einzuholen.
3.6.5 Leitlinien/Therapieziele
Patienten mit GPA oder anderen Formen der ANCA-assoziierten Vaskulitiden
sollten stets von einem internistischen Experten betreut werden, der die
immunsuppressive Therapie überwacht. In der Diagnostik, insbesondere bei
orbitalen lokalisierten Formen, spielt der Augenarzt eine entscheidende
Rolle. Das Monitoring und die Rückmeldungen an die internistischen Kollegen
sind entscheidend für den Erhalt der Sehfunktion.
Bei der Therapie richtet sich nach den aktuellen ACR/EULAR/AWMF Leitlinien,
die aufgrund der aktuellen Medikamentenentwicklungen regelmäßig überarbeitet
werden [315]
[316]
[317]. Unterschieden wird in aktiv schwere und aktiv nicht schwere
Erkrankung bezüglich der Induktionstherapie. Hier hat der Augenarzt die
Entscheidung bezüglich der Schwere der okulären Manifestationen zu treffen.
Orbitale Manifestationen sind immer Visus-bedrohend und sollten deshalb der
Kategorie aktiv schwer zugeordnet werden. Dies hat Einfluss auf die Wahl der
Therapie zur Remissionsinduktion und Erhaltungstherapie. Grundsätzlich sind
Glukokortikoide (GC) in der Remissionsinduktion eine Säule der Therapie. Bei
schwerer, organbedrohender Erkrankung werden initial (Methyl-)
Prednisolonstöße i. v. verabreicht. Die zweite Säule der Therapie bei der
Remissionsinduktion besteht bei einem organbedrohenden Verlauf in RTX (4-mal
375mg/m2 im wöchentlichen Abstand) oder CYC. RTX ist nur zur Therapie der
GPA/MPA zugelassen. 2022 wurde ein oraler C5a-Rezeptor-Inibitor (Avacopan)
zugelassen, der in Kombination mit „standard of care“ eine deutlich
schnellere GC-Reduktion erlaubt als bisher üblich [318]. C5a ist ein sehr potenter
chemotaktischer Lockstoff für Neutrophile. Durch Blockade seines Rezeptors
wird die Aktivierung von Neutrophilen gehemmt. Die Zulassung bezieht sich
nur auf GPA/MPA in Kombination mit GC und CYC oder RTX. Avacopan ist in die
2023 EULAR Empfehlung mit aufgenommen [317].
In einer großen Kohorte aus Frankreich (n=59) wurden bei orbitalen
Manifestationen Ansprechraten auf Therapien berichtet. Alle Patienten
erhielten Glukokortikoide als Erstlinientherapie in Kombination mit
Immunsuppressiva (82%), hauptsächlich Cyclophosphamid. Ein Ansprechen auf
die Therapie wurde bei 52% der mit Cyclophosphamid behandelten Patienten
festgestellt, verglichen mit 91% der mit Rituximab behandelten Patienten.
46% der Patienten benötigten eine Zweitlinientherapie aufgrund eines
Rückfalls (59%) oder eines refraktären Verlaufs (41%). Folgeerscheinungen
waren bei 28% eine Sehbehinderung und bei 17% eine endgültige Erblindung.
Der refraktäre Verlauf war mit PR3-ANCA-Positivität, Sehverlust und
angrenzender Pachymeningitis verbunden [319]. In einer weiteren französischen Kohorte von 308
GPA-Patienten mit 63 (37%) okulären Symptomen bestätigte sich das bessere
Ansprechen auf Rituximab im Vergleich zu Cyclophosphamid (91,7% versus
72,3%) [320]. Das häufigste behandelte
Symptom war Episkleritis und Skleritis.
3.6.6 Verlauf und Prognose
Joshi et al. (2015) zeigten höhere Ansprechraten auf die Therapie, wenn
Rezidive später auftraten (Remissionszeit 15 versus 80 Monate) und die
Induktionstherapie mit Rituximab durch Cyclophosphamid ergänzt wurde [321]. Ein umfangreiches Literaturreview
mit n=99 Patienten zeigte, dass 85% der Patienten auf eine alleinige
Rituximab-Therapie ansprachen. Dabei erhielten 53% das rheumatologische
Therapieschema (2 × 1 g) und 44% das onkologische Therapieschema (4 × 1 g).
63% benötigten einen Behandlungszyklus, 14% 2 Zyklen und 22,8% > 2
Zyklen. Manifestation in der Orbitaspitze können Sehnerven durch Kompression
und Gefäßverschluss schädigen und zur Ausbreitung einer
Nasennebenhöhlen-Cellulitis oder Pachymeningitis führen [322]. Wenn trotz
Remissionsinduktionstherapie kein Visusanstieg zu verzeichnen ist, kann in
Einzelfällen eine chirurgische Dekompression erwogen werden, jedoch nicht
immer erfolgreich [323].
3.7 Orbitale Sarkoidose
A. Eckstein
1
, A. Daser
2
, I.
Neumann
1
1 Klinik für Augenheilkunde, Sektion Orthoptik, Orbitazentrum, Universität
Duisburg Essen
2 Klinik für HNO, Orbitazentrum, Universität Duisburg Essen
3.7.1 Definition
Die Sarkoidose ist eine Multisystemerkrankung, histologisch durch
nicht-verkäsende epitheloid-zellige Granulome ausgezeichnet. Bei Vorliegen
dieses histologischen Bildes müssen jedoch eine Infektion und andere
Ursachen (Fremdkörper) ausgeschlossen werden. Die Rate der Augenbeteiligung
variiert bei Sarkoidose-Patienten zwischen 30 und 60%, was die Diagnose für
den Augenarzt zu einer Herausforderung macht.
3.7.2 Pathogenese
Wie bei vielen anderen Autoimmunerkrankungen vermutet man bei der Sarkoidose
ein Zusammenspiel aus genetischer Disposition und überschießender
Immunreaktion auf ein unbekanntes Agens (Infektion, Autoantigene). Bei einer
metagenomischen Analyse konnten in 50% der Proben Mikroorganismen
(Bakterien, Pilze, Viren) nachgewiesen werden [324].
3.7.3 Epidemiologie/Risikofaktoren
Die Sarkoidose ist die häufigste interstitielle Lungenerkrankung, mit starker
geographischer und ethnischer Häufung (z. B. Menschen afrikanischer
Herkunft). Es gibt 2 Altersgipfel: zwischen dem 20. bis 40. Lebensjahr und
dann nochmals bei Frauen ab dem 50. LJ [325].
3.7.4 Klassifikation von Aktivität und Schweregrad
Augen-und Hautbefunde präsentieren sich häufig als Leitbefunde. Inzwischen
ist auch für die okuläre Sarkoidose (OS) eine Klassifikation durch ein
internationales Expertenteam verfügbar ([Tab. 15]) [326].
Tab. 15 Überarbeitete Kriterien des International
Workshop on ocular sarkoidosis (IWOS) für die Diagnose von
okulärer Sarkoidose [326]
Überarbeitete Kriterien des International Workshop on
ocular sarcoidosis (IWOS)
|
I. Andere Ursachen einer granulomatösen Uveitis müssen
ausgeschlossen werden
|
II. Intraokulare klinische Anzeichen, die auf ein OS
hinweisen
1. granulomatöse Hornendothelpräzipitate und/oder
Irisknötchen am Pupillenrand (Koeppe) oder im Stroma
(Busacca)
2. Knötchen im Trabekelmaschenwerk und/oder zeltförmige
anteriore Synechien
3. Glaskörpertrübungen („Schneebälle“)
4. Multiple chorioretinale periphere Läsionen (aktiv und
atrophisch)
5. Noduläre und/oder segmentale Periphlebitis (±
Kerzenwachstropfen) und/oder Makroaneurysma in einem
entzündeten Auge
6. Granuloma an Nervus otpikus/Aderhaut
7. Bilateralität
|
III. Weitere Systemische Diagnosekriterien
1. Bilaterale hiläre Lymphadenopathie (BHL) durch
Röntgenaufnahme des Brustkorbs und/oder
Computertomographie des Brustkorbs
2. Negativer Tuberkulintest oder
Interferon-Gamma-Freisetzungstests
3. Erhöhtes Serum-ACE
4. Erhöhtes Serum-Lysozym
5. Erhöhtes CD4/CD8-Verhältnis (> 3,5) in der
bronchoalveolären Lavageflüssigkeit
6. Abnormale Ansammlung von Gallium-67-Szintigraphie oder
18F-Fluordesoxyglucose-Positronenemissionstomographie-Bildgebung
7. Lymphopenie
8. Parenchymale Lungenveränderungen im Zusammenhang mit
Sarkoidose, wie von Pneumologen oder Radiologen
festgestellt
|
IV. Diagnosekriterien
Definitive OS: Diagnose durch Biopsie mit klinisch
Uveitis
Vermutete OS: Diagnose nicht durch Biopsie
gestützt, aber BHL liegt mit 2 okulären Symptomen
Wahrscheinliche OS: Diagnose nicht durch Biopsie
gestützt und BHL fehlt, aber 3 okuläre Symptome und zwei
systemische Untersuchungen, ausgewählt aus zwei bis
acht
|
Orbitale Manifestationen der Sarkoidose sind selten. Am häufigsten finden man
das Bild einer bilateralen Dakryoadenitis. Das Heerfordt Syndrom „febris
uveoparotidea subchronica“ beschreibt einen Befall Speicheldrüsen und
Tränendrüse befallen ist, manifestiert sich bei nur 0,3% der Patienten mit
einer Sarkoidose [327].
Bei der Auswertung einer großen Gruppe von bilateralen
Tränendrüsenvergrößerungen ergaben sich folgende Häufigkeiten: IgG4-RD:
17,4%, idiopathische orbitale Entzündungserkrankungen 17,4%, Lymphome 13,9%,
Tränendrüsenprolaps 11,3% und Sarkoidose 9,6% [328]. Sehr selten gibt es auch
Manifestationen an Augenmuskeln (Rectus superior/Levator-Komplex (50%),
Rectus lateralis (40%), meist im Zusammenhang mit gleichzeitig
Tränendrüsenaffektion (70%) bzw. orbitaler Manifestation (95%). Bei diesen
Symptomen liegt fast immer auch eine Systembeteiligung vor (90%) [329].
3.7.5 Diagnostik
Das heterogene Krankheitsbild (insbesondere bei der seltenen orbitalen
Manifestation) führt oftmals zu einer verzögerten Diagnosestellung. Bei
Verdacht sollte man systematisch vorgehen. Neben Anamnese sowie
augenärztlicher und körperlicher Untersuchung, sind Röntgen Thorax, Sono
Abdomen, Lungenfunktionsprüfung, EKG, BB, Serum, Urin (ACE bei 60–80% ↑,
Il2, Lysozym, Leberwerterhöhung), Tuberkulintest, MRT (bei V.a. orbitalen
Befall immer, auch bei v. a. Neurosarkoidose, Muskelbefall), 18F FDG PET bei
V.a. diffusen Knochenbefall relevant. Bei der orbitalen Beteiligung sollte
immer eine histologische Sicherung erfolgen.
3.7.6 Therapie
Je nach Befall muss eine interdisziplinäre Absprache erfolgen. Steht der
orbitale Befall im Vordergrund, sollte eine orale Steroidtherapie erfolgen
mit 0,5mg/kgKG (bei gleichzeitiger Neurosarkoidose höhere Dosen). Aktuelle
Leitlinien empfehlen, systemische Kortikosteroide für mind. 6 Monate
einzusetzen und über 6 Monate schrittweise auszuschleichen. Bei
Reaktivierung oberhalb einer Erhaltungsdosis von 7,5 mg, ist der Einsatz
einer Kombinationstherapie mit Methotrexat oder Azathioprin zu überlegen,
deren immunsuppressive Wirkung als etwa gleich gut einzuschätzen ist [325]
[330]. Als Sekundärtherapie sind auch Therapien mit Biologika wie
Infliximab oder Adalimumab bei Uveitis beschrieben [331]
[332].
3.7.7 Verlauf und Prognose
Faktoren, die zur eingeschränkten Prognose führen sind: höheres Alter
(>40), schwarze Patienten, kardiale Beteiligung, chronische
Hyperkaliämie, chronische Uveitis, zystische Knochenläsionen,
Nasenschleimhautbeteiligung, Nephrokalzinose, Neurosarkoidose, progressive
Lungenfibrose und Lupus pernio [325].
4. Tumoren und Pseudotumoren der Orbita
H.-J. Welkoborsky
4.1 Tumoren der Tränendrüsen und ableitenden Tränenwege
Nur 0,1% aller beim Menschen auftretenden Tumoren sind in den Tränendrüsen oder
ableitenden Tränenwegen lokalisiert [333].
Ihre Inzidenz beträgt etwa 0,07 pro 100.000 [333]. Prinzipiell zu unterscheiden sind Pseudotumoren von
epithelialen benignen und malignen Tumoren und malignen Lymphomen. Etwa 77% der
Tumoren der Tränenwege sind maligne, wobei es sich in über 90% der Fälle um
epitheliale Tumoren handelt, in etwa 10% der Fälle um maligne Lymphome [334]
[335].
4.1.1 Tumoren der Tränendrüsen
4.1.1.1 Pseudotumoren
Demoide bzw. Dermoidzysten sind die häufigsten Pseudotumoren. Dermoide
sind angeborene Läsionen (Choristome), die sich entlang der embryonalen
Spalten meist präseptal im Bereich des Orbitarandes durch Einwanderung
von Epithel ausbreiten und oft im oberen äußeren Quadranten lokalisiert
sind. Dermoide können Haare, mehrschichtiges Plattenepithel oder
Hornschuppen enthalten. Die Tumoren treten im Kleinkindesalter auf.
Klinisch imponieren sie als glatt begrenzte, prallelastische
Raumforderungen, die häufig gut verschieblich sind. Sonographisch kommt
eine glatt begrenzte, echoarme Raumforderung mit dorsaler
Schallverstärkung zur Darstellung. Je nach Art des Zysteninhalts finden
sich intraläsonal feine Binnenechos, die den Hornschuppen oder
Zelldetritus in der Zystenflüssigkeit entsprechen. Eine Verlagerung des
Bulbus kommt nur bei sehr ausgedehnten Läsionen vor. Die Therapie
besteht in einer kompletten Excision.
Beim M. Sjögren handelt es sich um eine Autoimmunkrankheit, die häufig
Frauen jenseits des 40. Lebensjahres betrifft. Klinisch steht eine
verminderte Tränen-und Speichelproduktion mit konsekutiver Mund-und
Augentrockenheit im Vordergrund. Die großen Kopfspeicheldrüsen und die
Tränendrüsen sind meist beidseits geschwollen und können so einen Tumor
vortäuschen. Histologisch findet sich eine lymphozytäre und
plasmazelluläre Infiltration der Speichel-und Tränendrüsen, die
hierdurch zerstört werden. Therapeutisch steht die Cortikoidgabe im
Vordergrund, je nach Schweregrad der Erkrankung auch in Kombination mit
monoklonalen Antikörpern, wie Z.B. Rituximab (Übersicht bei [336]). Das Sjögren-Syndrom ist in
einigen Fällen mit lymphoproliferativen Erkrankungen assoziiert. Eine
Ig4 assoziierte Erkrankung betrifft häufig die Orbita und kann sich in
den Tränendrüsen manifestieren durch eine beidseitige Lidschwellung mit
Dacryoadenitis und Exophthalmos, mit chronischer Sinusitis und
Sialadenitis. Für die Diagnose ist eine Biopsie erforderlich [337].
4.1.1.2 Gutartige Tumoren
Die Tränendrüsen können von den gleichen gutartigen Tumoren betroffen
sein wie die Speicheldrüsen. Häufigster gutartiger Tumor ist mit über
50% das pleomorphe Adenom [338]
[339]. Klinisch
imponiert eine einseitige, derbe, gut verschiebliche Raumforderung am
lateralen Oberlid. Schmerzen sind selten [340]. Bei Ausgang des Tumors von
ektopen Tränendrüsengewebe besteht klinisch eine retrobulbäre
Raumforderung mit Ausbildung eines Exophthalmus [341]. Die Ätiologie ist unbekannt.
Molekulargenetische Studien deuten auf numerische und strukturelle
Aberrationen in diversen Chromosomenbereichen, vor allem am kurzen Arm
des Chromosoms 9 hin (9p23-p22.3). In diesem Bereich wird u. a. das
PLAG1 Oncoprotein kodiert [342].
Tumorzellen von pleomorphen Adenomen exprimieren HIF-1α
(Hypoxie-induzierter-Faktor), einem Transkriptions-und Hypoxie
induzierbaren Faktor, der u. a. Signalwege zur Sauerstoffversorgung der
Zellen und die Expression von Vascular endothelial growth Factor
exprimiert, was als Unterscheidungsmerkmal zu adenoidzystischen
Karzinomen und zum Karzinom ex pleomorphen Adenom herangezogen werden
kann [343], [344]. Sonographisch zeigt sich eine
gut abgrenzbare echoarme Raumforderung, die häufig polyzyklisch begrenzt
ist, mit dorsaler Schallverstärkung. Die Kernspintomographie hat sich
zur Tumorausdehnungsbestimmung bewährt. Die Therapie besteht in einer
kompletten Tumorresektion unter Schonung der Tumorkapsel [339].
Andere gutartige Tränendrüsentumoren sind der Warthin –Tumor, das
Myoepitheliom, das oncozytäre Adenom und das Basalzelladenom. Sie sind
jedoch in den Tränendrüsen Raritäten (Übersicht bei [345]).
4.1.1.3. Maligne Tumoren
Der häufigste maligne epitheliale Tumor der Tränendrüsen ist das
adenoidzystische Karzinom, gefolgt vom Adenokarzinom, Karzinom ex
pleomorphen Adenom, dem Mucoepidermoidkarzinom, und dem Myoepithelialen
Karzinom [339]
[346]
[347]
[348]. Der Altersgipfel liegt am
Ende des 6.Lebensjahrzenhnts, Frauen erkranken gleich häufig wie Männer
[348]. Bei den Symptomen
stehen die Epiphora (> 80% der Patienten) und die Raumforderung im
Bereich der lateralen Orbita (> 75% der Patienten) im Vordergrund
[348]. Schmerzen werden
hingegen nur selten angegeben [348].
Beim Karzinom ex pleomorphen Adenom kann eine Expression von GLUT-1, FASN
und Adipophilin nachgewiesen werden, was für eine erhöhte Lipogenese in
den Tumorzellen spricht und als Unterscheidungsmerkmal zu benignen
pleomorphen Adenomen herangezogen werden kann [315]
[349].
Das adenoidzystische Karzinom (ACC) entsteht aus Drüsengewebe. Die
Ätiologie ist bisher unklar. Es wurden genomische Imbalancen und
Mutationen von Oncogenen, z. B. dem PLAG1 und eine Aktivierung des MYB
Gens nachgewiesen [349]
[350]. Die histologische
Differenzierung zwischen pleomorphen Adenomen und adenoidcystischen
Karzinomen ist nur an Hand von immunhistochemischen Untersuchungen
möglich [339]. Hier unterscheiden
sich beide Tumorentitäten signifikant in Bezug auf die Expression des
Proliferationsmarkers Ki67 sowie der Onkoproteine p53, PLAG1, Survivin
und MYB [349]
[351]. Weitere molekularbiologische
Befunde sind eine Überexpression von Ki67 in ACC und des Zellzyklus
Proteins Cyclin D1. In den inneren duktalen Tumorzellen auch Nachweis
von p16, ohne dass gleichzeitig eine HPV Infektion nachgewiesen vorlag
[352].
Die malignen Tumoren der Tränendrüsen zeichnen sich klinisch durch eine
langsam progrediente einseitige Raumforderung im Bereich des lateralen
oberen Lidbereiches aus [353]. In
einigen Fällen findet sich eine Infiltration der Lidhaut, gelegentlich
mit Fistelbildung. Eine Infiltration der Augenmuskeln oder des Bulbus
führt zu einer Bulbusmotilitätsstörung mit Doppelbildern oder
Verdrängung des Bulbus.
Beim adenoidzystischen Karzinom (ACC) kommt es bereits in frühen
Tumorstadien zu einer Infiltration der Perineuralscheiden [350], weswegen eine komplette
Tumorentfernung häufig nicht möglich ist. Adenoidzystische Karzinome
verursachen überdies mitunter Schmerzen. Die Diagnose wird durch
klinische und bildgebende Untersuchungen gestellt. Die sonographisch
gesteuerte Feinnadelpunktion mit zytologischer Untersuchung hat sich
bewährt. Die Infiltration der tiefer liegenden Orbitastrukturen oder des
Bulbus ist am besten in einer Kernspintomographie zu beurteilen ([Abb. 13]). Die Metastasierung in
lokale Lymphknoten ist selten (<10%). Beim adenoidzystischen Karzinom
ist zusätzlich eine CT der Thoraxorgane notwendig, da es recht schnell
zu einer pulmonalen Metastasierung kommen kann [334].
Abb. 13 Adenoidcystisches Karzinom der Orbita, MRT, axiale
Schnittführung.
Die Therapie der malignen Tränendrüsentumoren besteht in der kompletten
Tumorexcision. Als Zugangswege bieten sich, je nach Lage und Größe des
Tumors, eine frontale Orbitotomie über einen Augenbrauen-und
Orbitarandschnitt oder eine laterale Orbitotomie an. Eine Exenteratio
orbitae ist zu diskutieren bei Infiltrationen des Bulbus oder der
intraorbitalen Muskeln. In der Regel wird eine postoperative
Strahlentherapie angeschlossen [333]
[334]. In jüngerer
Zeit wurden Studien zur alleinigen Strahlentherapie und zur
Neutronen-Strahlentherapie bei adenoidcystischen Karzinomen berichtet
[333]
[354].
Bei Adenokarzinomen, die human epidermal growth factor receptor 2
(HER2) exprimieren kommt neben einer adjuvanten Radiotherapie
auch eine adjuvante Immuntherapie mit dem Monoklonalen Antikörper gegen
HER2, Trastuzumab, in Betracht [355].
Fernmetastasen von Tumoren anderer Provenienz sind in den Tränendrüsen
selten und entstammen meist von Primärtumoren anderer drüsiger Organe
[356].
4.1.1.4 Maligne Lymphome
Die malignen Lymphome in den Tränendrüsen sind am häufigsten diffus
großzellige B-Zell-Lymphome und MALT-Lymphome [357]. Der Erkrankungsgipfel liegt
im 7. bis 8. Lebensjahrzehnt. Die Diagnose kann nur an Hand von
histologischen und immunhistologischen Untersuchungen gestellt werden.
Bei den malignen Lymphomen der Tränendrüsen handelt es sich meist um
low-grade Tumoren. Eine Veränderung der MYC-Oncogen Expression und des
Nuklear Faktors κB1 (NF-κB1)-Signalweges deutet hingegen auf eine hohe
Aggressivität hin [358]
[359]. Im Rahmen von
Staging-Untersuchungen muss geklärt werden, ob es weitere
Lymphom-Manifestationen in der Orbita und in den anderen
Lymphknotenstationen gibt. Während das diffus großzellige B-Zell-Lymphom
meist unilateral auftritt, überwiegt beim MALT-Lymphom eine diffuse
Ausbreitung [357]. Die Therapie
besteht bei lokaler Manifestation in einer Strahlentherapie, bei
systemischer Manifestation in einer Chemotherapie, beim MALT-Lymphom in
Kombination mit Rituximab [333]
[357]
[360].
4.1.2 Tumoren der ableitenden Tränenwege
Tumoren der ableitenden Tränenwege sind extrem selten.
An Pseudotumoren können in den ableitenden Tränenwegen Zysten (Dacryops),
sehr selten Mucocelen, vaskuläre Malformationen und Dacryocystocelen
auftreten [361]. Dacryops werden gemäß
ihrer Lokalisation eingeteilt in Lidzysten, Orbitazysten, Zysten der
accessorischen Tränendrüsen, und Zysten ausgehend von ektopen
Tränendrüsengewebe (Choristome) [362].
Die Symptome sind bei allen Pseudotumoren meist eine langsam progrediente in
der Regel schmerzlose Schwellung [362]. Diagnostik mittels MRT-Untersuchung [361].
Pleomorphe Adenome die häufigsten benignen Tumoren. ist das Transitionalzell
Papillom, dass sich aus dem Transitionalzellepithel entwickelt [335;363].
Als weitere gutartige Veränderungen können chronische Entzündungen oder ein
solitärer fibröser Tumor zu Raumforderungen im medialen Augenwinkel führen
[335].
Etwa 75% aller Tumoren des Tränensacks und der ableitenden Tränenwege sind
maligne [335]. Es handelt sich bei den
malignen Tumoren meist um adenoidzystische Karzinome, gefolgt von
Adenokarzinomen, Mucoepidermoidkarzinomen und lymphoepithelialen Karzinomen
[335]
[336]
[346], in unter 10% um maligne Lymphome [336].
Die Klinik besteht in einer langsam progredienten Schwellung im Bereich des
Tränensacks am und unterhalb des medialen Augenwinkels mit Epiphora. In 13%
der Patienten mit einem malignen Tumor ist eine akute Dacryocystitis
klinisches Erstsymptom [335]. Die
Therapie besteht in einer kompletten Tumorresektion, gegebenenfalls mit
anschließender Radiatio [336]
[363].
Bei den malignen Lymphomen der ableitenden Tränenwegen handelt es sich meist
um diffus großzellige B-Zell-Lymphome oder MALT-Lymphome [336]. Es werden allerdings häufiger
hoch aggressive Tumoren angetroffen [357]. Die 5-Jahres-Überlebensrate beträgt 20–40% [357].
4.2 Intrakonale Tumoren
Intrakonale Tumore sind selten. Kardinalsymptom ist bei intrakonalem und
retrobulbärem Sitz ein Exophthalmus, bei peribulbärem Sitz eine
Bulbusverlagerung. ([Abb. 14a, b]).
Bulbusmotilitätsstörungen oder Nervparesen sprechen für eine Infiltration
extraokularer Muskeln bzw. von Nervstrukturen im Rahmen von malignen Tumoren.
Die Tumoren können nochmals in primäre und sekundäre maligne Orbitatumoren
unterschieden werden ([Tab. 16]).
Abb. 14 Kardinalsymptome bei Tumoren der Orbita: Bulbusverlagerung
und Astigmatismus bei peribulbärer Lokalisation (a ), Exophthalmus
bei retrobulbärer Lokalisation (b ).
Tab. 16 Übersicht über benigne und maligne intrakonale
Tumoren.
Tumorentität
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Charakteristika
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Pseudotumoren
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|
Idiopathische orbitale Entzündung (Pseudotumor orbitae)
|
Heterogene Gruppe von Erkrankungen möglicherweise autoimmunen
Ursprungs mit Proliferation und Destruktion von
Gewebestrukturen durch unspezifische entzündliche Trigger.
Dadurch tumorartiges Imponieren im CT und MRT. Klinisch
imponiert ein Exophthalmus bis hin zu Schmerzen und
Kompression des N.opticus. Differentialdiagnostisch muss ein
malignes Lymphom ausgeschlossen werden.
|
|
Ig4 assoziierte Erkrankung
|
Autoimmunologische Systemerkrankung mit lymphozytären
Infiltraten. Befall von Tränendrüsen und intraorbitaler
Nerven und Muskulatur
|
Vaskuläre Malformationen
|
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Lymphangiom
|
Syn. Lymphatische Malformation. Mit Lymphe oder Blut gefüllte
Hohlräume ohne Kapsel, Kompartiment übergreifend. Langsam
progredienter Exophthalmus bei Einblutung oder Infektion
rasch zunehmend und auch schmerzhaft; schlecht abgrenzbar
|
|
Kavernöses Hämangiom
|
Syn. Venöse Malformation; häufigste benigne Raumforderung der
Orbita beim Erwachsenen; langsames Wachstum, oft klinisch
inapparent; sowohl intrakonal als auch extrakonal gelegen,
auch multilokulär
|
|
Arterio-venöse Malformation (AVM) im Bereich der Orbita
|
Progredientes Wachstum; zählt zu den fast flow
Malformationen; klinisch u.U. mit akutem und raschem
Exophthalmus auftretend
|
Benigne Tumoren
|
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Hämangiom
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Syn. Kapilläres Hämangiom. Häufigster vaskulärer Tumor des
Kindesalters. Hohe Spontanremissionsrate von etwa 90%.
Medikamentöse Therapie mit Propanolol
|
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Hämangioperizytom
|
Tumor ausgehend von den Perizyten der Gefäßwände der
intrakonal gelegenen Arterien; sehr selten in der Orbita;
histologisch vielgestaltig von benigne bis maligne;
Ähnlichkeit mit solitärem fibrösem Tumor
|
|
Neurinom
|
Syn. Schwannom; Tumor der Schwann Zellen peripherer Nerven.
1–2,5% aller Orbitatumoren; meist singulär im Bereich der
intrakonalen Nervenbahnen
|
|
Neurofibrom
|
Auftreten oft im frühen Kindesalter, meist im Rahmen einer
Neurofibromatose I, oft multilokulär. Wenn im Bereich des N.
opticus, dann starke Visusminderung. Relativ starke
Vaskularisierung und infiltratives Wachstum;
Malignisierungsrate ca. 3%
|
|
Myxom
|
=Mesenchymaler Tumor, histologisch zellarm mit myxoider
Grundsubstanz. Intrakonal sehr selten.
|
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Opticusgliom
|
Syn. Juveniles pilozytisches Astrozytom, WHO Grad I.
Manifestation im Kindes-oder Jugendalter.
|
|
Fibrom
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Extrem selten; meist im Bereich des Muskelkonus
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Meningeom
|
4–8% aller Orbitatumoren; meist Opticusscheidenmeningeom.
Wachstum Richtung Chiasma opticum und Sinus cavernosus;
histologisch in der Regel WHO Grad I Meningeome
(=benigne)
|
|
Paragangliome
|
Sehr selten intrakonal auftretend. Ausgehend vom Ganglion
cliare. Langsam progredientes Wachstum mit
Visusverschlechterung
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Maligne Tumoren
|
|
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Malignes Melanom
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|
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Maligne Lymphome
|
Mit > 50% häufigste maligne intrakonale Tumoren. Ca 20%
aller Orbitatumoren sind Non-Hodgkin-Lymphome. Meist
B-Zell-Lymphome: Marginalzonenlymphome, follikuläre
Lymphome, diffus-groß-zellige B-Zell-Lymphome;
Mantelzell-Lymphome. Ca. 3–5% T-Zell-Lymphome. Sämtliche
Orbitastrukturen und Adnexe können betroffen sein (typische
„Lachsfarbe“ bei Befall der Konjunctiva).
Differentialdiagnostisch muss idiopathische
Orbita-entzündung ausgeschlossen werden.
|
|
Leukämien
|
Meist im Rahmen einer akuten myeloischen Leukämie mit
Infiltration im intrakonalen Raum. DD zu malignen Lymphomen.
Leukämien im Unterschied zu malignen Lymphomen meist schon
im Kindes-und Jugendalter auftretend
|
|
Fibrosarkom
|
Seltener Tumor der Orbita. Auftreten sekundär nach
Strahlentherapie der Orbita oder (noch seltener) primär
ausgehend von Fibroblasten des Bindegewebes. Sehr aggressive
früh metastasierende Tumoren. Chirurgische Therapie mit
Sicherheitsabstand incl. Exenteratio mit evtl.
anschließender Radiatio.
|
|
Retinoblastom
|
Ausgehend von der Netzhaut. Inzidenz 1/20.000 Neugeborene.
Entstehung durch Mutation auf beiden Allelen des
Retinoblastomgens (Chromosom 13 q14); Unilaterales (75%) und
bilaterales (25%) Auftreten.
|
|
Rhabdomyosarkom
|
Häufigster maligner Orbitatumor im Kindesalter. Zwei
Subtypen: embryonaler Subtyp (70%) und alveolärer Subtyp
(30%), letzterer mit PAX3 Gentranslokation/Genfusion auf
Chromosom 3 bzw. PAX/ auf Chromosom 1 und FOXO1 auf
Chromosom 13 assoziiert, was eine schlechtere Prognose
bedeutet (434). Therapie mittels Chemotherapie und Radiatio;
Exenteratio orbitae ist Second oder third line Therapie
|
|
Liposarkom
|
Sehr selten im Bereich der Orbita. Ausgehend von Lipozyten
|
|
Malignes Opticusgliom
|
Syn. Anaplastisches Astrozytom WHO Grad III oder Glioblastom
WHO Grad IV. Sehr selten und sehr aggressiv mit frühzeitiger
Infiltration von ZNS und Chiasma opticum mit rascher
Erblindung. Sehr schlechte Prognose
|
|
Ästhesioneurolastom
|
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Metastasen
|
|
Metastasen von Tumoren anderer Provenienz stehen für 7–8% der
intrakonalen Tumoren. Primärtumor meist in Lunge, Mamma,
Prostata, Niere, Gastrointestinaltrakt, bei Kindern auch
Neuroblastim oder Ewing Sarkom (Kisser)
|
Für die Diagnostik sind Schnittbildverfahren (CT und MRT) essentiell. Eine PE
Entnahme aus einem intrakonal gelegenen Tumor ist mit hohem Aufwand und Risiko
verbunden, so dass in vielen Fällen die primäre komplette Tumorentfernung
angestrebt werden sollte.
4.2.1 Pseudotumoren
In der Gruppe der Pseudotumoren der Orbita ist die idiopathische
Orbitaentzündung (IOE) (Syn. und alte Bezeichnung: Pseudotumor orbitae) am
häufigsten. Es handelt sich um eine heterogene Gruppe von Erkrankungen mit
möglicherweise autoimmunologischem Ursprung [364]. Es kommt zu einer Proliferation und Destruktion von
Strukturen durch eine unspezifische Entzündungsreaktion mit lymphozytärer
Infiltration [365] ([Abb. 15]). Wichtigste
Differentialdiagnose ist ein malignes Lymphom. Daher ist eine Gewebeprobe
zur histologischen Sicherung der Diagnose notwendig [366].
Abb. 15 Pseudotumor orbitae, CT.
Bei der Ig4 assoziierten Erkrankung handelt es sich um eine
autoimmunologische Systemerkrankung [367], charakterisiert durch lymphozytäre Infiltrate, die in der
Orbita alle Strukturen betreffen können.
4.2.2 Vaskuläre Malformationen
Die Gruppe der vaskulären Malformationen der Orbita umfasst lymphatische
Malformationen, venöse Malformationen und arterio-venösnöse Malformationen
(Übersicht bei [368]).
Lymphatische Malformationen (Syn. Lymphangiom) [369] treten gehäuft im Kindes-und
Jugendalter auf. Klinisch imponiert eine weiche periorbitale Schwellung
evtl. kombiniert mit einem langsam progredienten Exophthalmus. Bei akuten
Einblutungen des Lymphangioms ist eine plötzliche Verstärkung des
Exophthalmus evtl. auch mit Schmerzen und Visusverlust möglich. Die Diagnose
wird an Hand des klinischen Befundes und der MRT-Untersuchung gestellt [370]. Da die Lymphangiome keine
Kapselstruktur aufweisen, ist eine komplette Entfernung in der Regel nicht
möglich. Bei fehlender klinischer Symptomatik empfiehlt sich daher eine
watch and wait Strategie. Bei Visusverlust ist eine Dekompression der Orbita
mit Volumenreduktion des Lymphangioms notwendig [371]. Fernerhin wird die Injektion von
sklerosierenden Substanzen (wenn möglich sonographisch gesteuert) oder die
Therapie mit mTOR-Inhibitoren empfohlen [372].
Beim kavernösem Hämangiom handelt es sich um die häufigste benigne orbitale
Raumforderung. Gemäß Klassifizierung der ISSVA (International Society for
the Study of vascular anomalies) [373]
werden diese Raumforderungen als „slow-flow venöse Malformationen“
bezeichnet. Sie treten am häufigsten im 30–50 Lebensjahr auf, wobei Frauen
häufiger betroffen sind als Männer. Viele dieser Malformationen werden sie
als Zufallsbefund entdeckt. Sie können sowohl intra-als auch extrakonal oder
multilokulär lokalisiert sein. Klinische Symptome sind ein langsam
progredienter Exophthalmus, eine Visusminderung ist selten. Gelegentlich
bestehen Schmerzen. Die Diagnose wird an Hand des MRT gestellt. Wichtigste
Differentialdiagnose ist der orbitale Varixknoten, dem eine massive
Erweiterung der klappenlosen Orbitavenen zu Grunde liegt. Diese
Venenerweiterungen können thrombosieren und einen schmerzhaften Exophthalmus
verursachen [374].
Die Therapie der venösen Malformationen besteht in der kompletten
chirurgischen Excision, wenn klinische Symptome auftreten, bei
Zufallsbefunden ohne klinische Symptomatik ist evtl. auch eine watch and
wait Strategie gerechtfertigt [369]
[375].
Arteriovenöse Malformationen (AVM) treten häufig im Kopf-Hals-Bereich auf. Es
handelt sich um außerordentlich schwierig zu behandelnde Veränderungen, die
lebenslang progredient sein können und nach hormonellen Umstellungen oder
nach Traumen vermehrt proliferieren können. Sie werden in Schwergrade I-IV
eingeteilt.
4.2.3 Benigne Tumoren
Beim kapillären Hämangiom (Syn. Infantiles Hämangiom) handelt es sich um den
häufigsten gutartigen Orbitatumor des Kindesalters. Typischerweise tritt er
in den ersten Lebenswochen und-monaten auf und ist in den ersten 6–9
Lebensmonaten progredient. 80–90% der Tumoren bilden sich ab dem 6.
Lebensmonat bis zur Präpubertät spontan zurück [376]. Der Tumor ist meist im Bereich
der Lider und extrakonal, seltener intrakonal lokalisiert. Therapeutisch hat
sich die Gabe des ß-Blockers Propanolol (2mg/kg Körpergewicht pro Tag über 6
Monate) bewährt [377]. Rezidive treten
nur selten auf. Eine chirurgische Therapie ist nur in Ausnahmefällen
indiziert. In jüngerer Zeit wurde auch der monoklonale Antikörper
Bevacizumab (monoklonaler Antikörper gegen VEGF-A) eingesetzt [378]
[379]. Bei kosmetisch störender Lokalisation z. B. im Lidbereich
kann eine NeoDyn-Yag oder Farbstofflaser Behandlung indiziert sein.
Das Hämangioperizytom wird teils zu den benignen teils auch zu den malignen
Tumoren gerechnet. Es hat seinen Ursprung in den Perizyten der Gefäßwände
der intraorbitalen Arterien und ist in der Orbita sehr selten. Histologisch
sehr vielgestaltiger Tumor mit histomorphologisch benignen bis malignen
Anteilen. Es besteht eine Ähnlichkeit zu dem solitären fibrösen Tumor der
Orbita.
Neurinome (2% aller Orbitatumoren) sind gutartige Tumoren, die von den
Schwann`Zellen der peripheren Nerven ausgehen. Sie sind meist singulär
intrakonal entlang der Nervenbahnen lokalisiert. Klinisch imponiert ein
langsam progredienter Exophthalmus bei intrakonalem Sitz oder eine
Bulbusverdrängung bei peribulbärer Lokalisation [380]. Mitunter ist die Funktion des
betroffenen Nerven ausgefallen. Therapeutisch steht die möglichst komplette
Resektion im Vordergrund.
Neurofibrome treten oft multilokulär und häufig im Rahmen einer
Neurofibromatose I auf [381].
Betroffen ist das Kindesalter. Sind diese Tumoren im Bereich des N. opticus
lokalisiert kommt es zu einem raschen Visusverlust. Sie weisen eine relativ
starke Vaskularisierung und ein invasives Wachstum auf. Daher ist die
Rezidivquote nach chirurgischer Therapie recht hoch, die Malignisierungsrate
beträgt etwa 3–5% [382].
Myxome sind gutartige Tumoren mesenchymalen Ursprungs, die meist im Myokard
oder intramuskulär lokalisiert sind. In der Orbita treten meist im Bereich
der Lider auf [383]. Intrakonale
Lokalisationen sind Raritäten. Die Tumoren sind zellarm und weisen eine
myxoide Grundsubstanz auf. Die Therapie ist eine komplette chirurgische
Entfernung [384].
Beim Opticusgliom (Syn. Juveniles pilozytisches Astrozytom WHO Grad I)
handelt es sich um den häufigsten Tumor des Nervus opticus. Die
Manifestation erfolgt meist schon im Kindesalter [385]. Die Ätiologie ist unbekannt,
jedoch wird ein Zusammenhang mit der Neurofibromatose I diskutiert [386]. Der Tumor führt schnell zur
Visusminderung bis hin zur kompletten Erblindung und kann Richtung Chiasma
opticum und ZNS vorwachsen. Der Kanal des N. opticus ist erweitert. Die
Therapie besteht in Chemotherapie und Radiatio, womit sich der Visus in
einigen Fällen stabilisieren lässt, evtl. Gabe des monoklonalen Antikörpers
Selumetinib, einem MEK1/2 Inhibitor. Die Rezidivquote ist jedoch hoch.
Fibrome entstehen aus Fibrozyten und bestehen aus Spindelzellen und aus
faserreichem kollagenem Bindegewebe. In der Orbita kasuistisch beschrieben
[387]
Meningeome haben einen Anteil von 4–8% aller Orbitatumoren [369]
[388]. Intrakonal gelegen handelt es sich meist um
Opticusscheidenmeningeome, in selteneren Fällen auch um Meningeome im
Bereich der mittleren Schädelgrube, die über die Fissura orbitalis in die
Orbita einwachsen. Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer,
Altersgipfel >50. Lebensjahr. Opticusscheidenmeningeome wachsen in
Richtung Chiasma opticum und Sinus cavernosus. Histologisch handelt es sich
in der Regel um WHO Grad I Tumoren, also benigne Läsionen. Klinisch kommt es
zu einem langsam progredienten schmerzlosen Exophthalmus zusammen mit einer
Visusminderung. Die Diagnose wird gestellt durch den relativ typischen
Befund im MRT und ggf. durch eine Biopsie. Therapeutisch steht heute die
Radiatio mit intensitätsmodulierter fraktionierter Bestrahlung an erster
Stelle [389].
Paragangliome im intrakonalen Raum gehen meist vom Ganglion ciliare aus [369]
[390]. Die Symptome sind ein langsam progredienter und
schmerzloser Exophthalmus. Die Therapie besteht in einer chirurgischen
Resektion des Tumors unter Schonung des N. opticus. Die Prognose ist
gut.
4.2.4 Maligne Tumore
4.2.4.1 Maligne Gefäßtumore
Zu den malignen Gefäßtumoren der Orbita zählen Hämangioperizytome,
Angiosarkome sowie Kaposi-Sarkome. Maligne Gefäßtumore sind selten,
Angiosarkome wurden nur kasuistisch berichtet. Die Behandlung maligner
Gefäßtumore der Orbita umfasst die chirurgische komplette Resektion. Da
diese Läsionen häufig eine perivaskuläre Infiltration mit Zellnestern
maligner Zellen entlang von Blutgefäßen aufweisen, oftmals bis weit
außerhalb der sichtbaren Tumorgrenzen, ist es manchmal schwierig, den
Tumor komplett zu entfernen. Alternativ ist eine primäre
Strahlenbehandlung, Chemotherapie oder Immuntherapie zu diskutieren
[391]
[392].
4.2.4.2 Retinoblastom
Das Retinoblastom ist ein neuroendokrin differenzierter Tumor. Er ist der
zweithäufigste Orbitatumor bei Kindern (1/20.000 Neugeborene und tritt
meist schon im ersten Lebensjahr auf [393]. Ätiologisch liegt dem Tumor eine Mutation auf beiden
Allelen des Retinoblastomgens auf Chromosom 13q14 zu Grunde [369]
[393]. Etwa jeweils 50% der Fälle
entfallen auf die erbliche bzw. nicht erbliche Variante. Bei den
erblichen Formen sind meist beide Augen betroffen, die nicht erbliche
Form tritt unilateral auf. Klinisch kommt es zu einer recht typischen
Leukorie, ferner zu einem Strabismus, manchmal auch zu Visusstörungen
und Glaukom. Die Diagnose wird durch die ophthalmologische Untersuchung
und durch die MRT-Untersuchung gestellt. Eine genetische Untersuchung
hilft zwischen genetischer und nicht genetischer Ätiologie zu
differenzieren. Histologisch können drei Formen unterschieden werden:
Die erste Form ist vollständig undifferenziert mit ausgedehnten Nekrosen
und hoher Mitoserate. Diese Unterform hat die schlechteste Prognose. Der
zweite Typ umfasst ringförmig um ein Lumen angeordnete
Homer-Wright-Rosetten, während der dritte Typ sogenannte „Fleurettes“
aufweist, bei denen sich die Tumorzellen nach einer bestimmten Struktur
anordnen, die der „Fleur-de-Lis“ ähnelt. Die Prognose der letztgenannten
beiden Formen wird als besser eingeschätzt [393]. Therapeutisch steht die
Chemotherapie im Vordergrund [394]. Auch eine Strahlentherapie ist indiziert, wobei hier das
Risiko der Entstehung eines postradiogenen Zweittumors besteht [395]. Operative Verfahren sind nur
noch in Ausnahmefällen indiziert. Die 5-Jahres Überlebensrate beträgt
96% [396].
4.2.4.3 Rhabdomyosarkom
Rhabdomyosarkome sind die häufigsten malignen Orbitatumore im
Kindesalter. Die meisten Fälle treten bei Kindern unter 10 Jahren auf.
Es ist das häufigste im Kopf-Hals-Bereich auftretende Sarkom. Gemäß der
„Intragroup Rhabdomyosarcoma Study (IRS)“ sind Rhabdomyosarkome in mehr
als einem Drittel der Fälle im Kopf-Hals-Bereich lokalisiert, wobei
meistens die Orbita betroffen ist [397].
Grundsätzlich sind mehrere Subtypen zu unterscheiden: der embryonale
Subtyp in 70% der Fälle, der pleomorphe Subtyp (<10% der Fälle) und
der alveoläre Subtyp in 30% der Fälle. Bei Letzterem liegt ätiologisch
eine Assoziation mit einer PAX3 Gentranslokation/Genfusion auf Chromosom
3 bzw. PAX auf Chromosom 1 und FOXO 1 auf Chromosom 13 zu Grunde, was
die Prognose verschlechtert (397). Klinisch findet sich mitunter ein
rasches Wachstum mit Entwicklung eines Exophthalmus und Visusverlust
innerhalb von wenigen Tagen. Histologisch zeigen sich in der Regel an
quergestreifte Muskelfasern erinnernde Zellen; Färbereaktionen auf
Desmoid-Muskel spezifisches Aktin und Myoglobin sind positiv. Die Zellen
sehen oftmals spindelförmig aus mit einem vergrößerten Nukleus und sich
verjüngenden Zellenden. Mitosen sind häufig, gelegentlich finden sich
auch schlecht differenzierte Anteile mit nur wenigen
Rhabdomyoblasten.
Die Behandlung besteht in der Regel in einer simultanen
Radio-Chemotherapie.
4.2.4.4 Malignes Nervus opticus Gliom
Die malignen Nervus opticus Gliome zählen zu den Astrozytomen (Syn.
Anaplastisches Astrozytom WHO Grad III oder Glioblastom WHO Grad IV).
Sie machen etwa 2% aller Orbitatumore aus und treten gehäuft bei
Patienten mit einer Neurfibromatose auf [369]. Charakteristisch für diesen Tumor sind fibrilläre
Astrozyten, die in der Faszie, die das Oligodendroglia des Sehnerven
umgibt, lokalisiert sind. Diese Faszie wiederum verläuft mit dem
Sehnerven bis zum Gehirn, weswegen es frühzeitig zu einer Infiltration
von Chiasma opticum und Zentralnervensystem kommt. Nur etwa 20% sind
rein intraorbital lokalisiert, 80% auch intrakraniell. Sehr aggressiver
Tumor mit raschem Wachstum und frühzeitiger Erblindung. Charakteristisch
ist die im MRT sich darstellende spindelförmige Ausdehnung entlang des
Nervus opticus, so dass die Diagnose röntgenologisch erfolgen kann [371] ([Abb. 16]). Da der Tumor nicht sehr
Chemotherapie-oder strahlenempfindlich ist, ist keine wirkungsvolle
Therapie bekannt. Weniger häufig sind maligne Schwannome und nicht vom
N. opticus ausgehende Neuroblastome. Diese Tumore sind sehr aggressiv
und betreffen meist die sensorischen Nervenbahnen in der Fissura
orbitalis superior, gewöhnlich mit intrakranieller Ausdehnung.
Fernmetastasen sind häufig.
Abb. 16 N. opticus Gliom bei einem jungen Mann. Klinisch
rascher Visusverlust. MRT in axialer Schnittführung.
4.2.4.5 Maligne Lymphome; Leukämien
Maligne Lymphome sind mit über 50% die häufigsten malignen intrakonalen
Tumoren. Etwa 20% aller Orbitatumoren sind Non-Hodgkin-Lymphome.
Histologisch handelt es sich meist um B-Zell-Lymphome (etwa 95%),
T-Zell-Lymphome treten in etwa 3–5% auf. Unter den B-Zell-Lymphomen ist
das Marginalzonen B-Zell-Lymphom das häufigste (etwa 50%), gefolgt vom
follikulären Lymphom, dem diffus-großzelligen Lymphom (jeweils ca. 20%)
und dem Mantelzell-Lymphom (5–10%) [398]. Am häufigsten sind sie im orbitalen Weichgewebe
lokalisiert, wobei sie sowohl extra-als auch intrakonal auftreten können
([Abb. 17]). Danach folgt in
der Häufigkeit der Befall von Konjunctiva, Tränendrüsen, extraokulare
Muskulatur und Tränensack. Die Erkrankung tritt oft im fortgeschrittenen
Lebensalter auf. Klinisch kommt es bei Sitz peri-bzw. retrobulbär zu
einer Verdrängung des Bulbus bzw. zu einem Exophthalmus. Bei Befall der
Konjunctiva zeigt sich diese typischerweise lachsfarben. In der Regel
erfolgt ein operativer Eingriff zur Gewinnung einer Gewebeprobe.
Therapeutisch steht bei lokalisiertem Befund die Strahlentherapie im
Vordergrund [399]
[400]
[401], bei generalisierter
Erkrankung die Chemotherapie, evtl. in Kombination mit einem
Anti-CD-20-Antikörper (Rituximab) [402].
Abb. 17 Malignes Lymphom der Orbita.
Leukämische Infiltrationen der Orbita treten im Rahmen einer akuten
myeloischen Leukämie auf, sowohl als Erstsymptom als auch sekundär als
Rezidiv. Sie können alle Bereiche der Orbita betreffen. Im Gegensatz zu
malignen Lymphomen sind meist jüngere Patienten betroffen. Therapeutisch
wird die Grunderkrankung behandelt.
4.2.4.6 Fibrosarkom
Ein Fibrosarkom tritt äußerst selten in der Orbita auf, entweder sekundär
als strahleninduziertes Zweitmalignom nach Strahlentherapie der Orbita
oder (noch seltener) primär ausgehend von den Fibroblasten des
Bindegewebes. Es handelt sich um sehr aggressive früh metastasierende
Tumore. Therapeutisch ist bei loklaisiertem Befund die chirurgische
Tumorentfernung möglichst mit einem Sicherheitsabstand evtl. mit
Exenteratio orbitae und anschließender Strahlentherapie zu diskutieren
[403].
4.2.4.7 Liposarkom
Im Bereich der Orbita äußerst seltener Tumor ausgehend von den Lipozyten.
Nur wenige Beschreibungen in der Literatur. Histologisch können die
Tumore in Grad I bis Grad III eingeteilt werden. Die Therapie besteht in
der chirurgischen Tumorentfernung evtl. in Kombination mit adjuvanter
Chemo-oder Strahlentherapie [404].
4.2.4.8 Mesenchymales Chondrosarkom
Hoch aggressiver Tumor, der primär Jugendliche und junge Erwachsene
betrifft. Er tritt als orbitaler intrakonaler Tumor öfter bei Frauen als
bei Männern auf. Der Tumor ist hochgradig maligne, zeigt ein schnelles
Wachstum, regionale Ausbreitung, und ein frühes Auftreten von
Fernmetastasen. In der Regel wird der Tumor chirurgisch entfernt mit dem
Versuch tumorfreie Resektatränder zu erzielen [405].
4.2.5 Sekundäre Orbitatumore
Sekundäre Orbitatumore sind Tumore, die von anderen Strukturen in die Orbita
einwachsen. Sie treten bei Erwachsenen häufiger auf als primäre
Orbitatumore. Zu den sekundären Orbitatumoren werden die Tumoren der
Nasennebenhöhlen, der Nasenhaupthöhle und des Nasopharynx, die die Orbita
infiltireren, gerechnet.
4.2.5.1 Ästhesioneuroblastom
Das Ästhesioneuroblastom oder Olfactorius-Neuroblastom ist ein Malignom
der Basalzellen des olfaktorischen Neuroepithels. Aufgrund des
Ursprunggebiets der Läsion ist die Lamina cribrosa immer betroffen. Die
Läsion bricht oft in Form einer polypösen, hoch-vaskularisierten
Tumormasse in die Nase ein, wo sie eine nasale Obstruktion und manchmal
auch eine Epistaxis hervorruft. Eine intrakranielle Ausbreitung und eine
direkte Infiltration des Siebbeins und der Keilbeinhöhle ist ebenfalls
häufig. Bei bis zu Dreiviertel der Patienten treten durch eine
Tumorinvasion in die Orbita orbitale Symptome auf [406].
Der Tumor wird an Hand von histologischen Kriterien nach Hyams in die
Kategorien I-IV eingeteilt. Histopathologisch besteht der Tumor aus
kleinen runden Zellen, die in manchen Fällen Rosetten oder
Pseudorosetten bilden. Das Olfactorius-Neuroblastom zählt zu den
neuroendokrinen Tumoren. Somit reagieren die Zellen immunhistochemisch
positiv auf Synaptophysin und/oder Chromogranin, manchmal auch auf
Cytokeratin und S100-Protein. Therapeutisch steht die vollständige
Tumorentfernung im Vordergrund mit anschließender Radio-oder
Radio-Immuntherapie. Regionale Lymphknotenmetastasen treten in über 50
Prozent der Patienten auf, manchmal erst in einer Latenz von über einem
Jahr nach Diagnosestellung. In diesen Fällen ist eine Neck dissection
mit nachfolgender adjuvanter Strahlentherapie indiziert [406]
[407].
4.2.5.2 Nasopharynxkarzinom
Gemäß Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden Nasopharynxkarzinome
histologisch in zwei Gruppen unterteilt: Typ 1 = verhornende
Plattenepithelkarzinome und Typ 2 = nicht-verhornende
Plattenepithelkarzinome (Lymphoepitheliale Karzinome) sowie
undifferenzierte Karzinome. Ätiologisch spielt eine Epstein Barr Virus
Infektion (EBV) eine entscheidende Rolle. Die Bestimmung des
Epstein-Barr „early antigen“ sowie des viralen Caspid Antigens (VCA)
kann posttherapeutisch in der Tumornachsorge der Patienten hilfreich
sein und einen Hinweis auf ein Tumorrezidiv geben [408].
Nasopharynxkarzinome können unterhalb der Oberfläche der Fossa cranii
anterior wachsen und die Orbita direkt infiltrieren oder sich über die
Fissura orbitalis superior bis nach intrakonal erstrecken. Öfter brechen
sie seitlich durch das Os sphenoidale und von dort in die hintere Orbita
ein, seltener über das Siebbein in die mittlere Orbita [409].
Therapeutisch steht beim Nasopharynxkarzinom eine simultane
Radio-Chemotherapie im Vordergrund.
4.2.5.3 Metastasierende Tumore
Bei den Fernmetastasen von Tumoren anderer Provenienz handelt es sich um
Folgen einer hämatogenen Metastasierung. Sie machen 7–8% der
intrakonalen Orbitatumore aus [369]. Meist entstammen Metastasen in der Orbita von
Primärtumoren der Mamma (50%), seltener von einem Karzinom der
Bronchien, der Prostata oder des Gastrointestinaltrakts [410]. Intraokulare Metastasen
treten zahlenmäßig häufiger auf als orbitale Metastasen.
4.3 Sekundäre Orbitatumoren (Tumoren der Nasennebenhöhlen mit Übergreifen auf
die Orbita)
Aufgrund der engen Nachbarschaftsbeziehungen zwischen den Nasennebenhöhlen und
der Orbita kommt es bei Tumoren der Nasennebenhöhlen häufig zu einer Beteiligung
der knöchernen Orbitawandungen oder der Orbitabinnenstrukturen. Diese Tumoren
werden als sekundäre Orbitatumoren bezeichnet [411]. Im Einzelnen sind drei große Tumorgruppen zu unterscheiden:
-
Pseudotumoren
-
Gutartige Tumoren
-
Maligne Tumoren.
Während primäre, von den Orbitabinnenstrukturen ausgehende, Tumoren selten und
überwiegend benigne sind, sind die sekundären Tumoren, die von den
Nasennebenhöhlen auf die Orbita übergreifen häufig maligne [411]
[412]. [Tab. 17] gibt einen
Überblick über die WHO Klassifikation der Tumoren der Nasennebenhöhlen.(413)
Tab. 17 WHO-Klassifikation der Tumoren der
Nasennebenhöhlen [413].
Tumoren
|
Benigne
|
Maligne
|
Epitheliale Tumoren
|
Papillome (invertiert; onkozytisch; exophytisch)
Speicheldrüsentumoren (z. B. pleomorphe Adenome;
Onkozytome)
|
Plattenepithelkarzinome lymphoepitheliales Karzinom
sinunasales undifferenziertes Karzinom (SNUC),
Adenokarzinome
Speicheldrüsentumoren (Adenoidcystische Karzinome;
Mucoepidermoid Karzinom etc.) Neuroendokrine Tumoren
|
Mesenchymale Tumoren
|
Myxom; Leiomyom; Hämangiom; Schwannom; Menigeom; Neurinom
|
Sarkome (Fibrosarkom; Leiomyosarkom;Rhabdomyosarkom;
Angiosarkom; maligner peripherer Nervenschiedentumor
|
Tumoren vom Knochen und Knorpelgewebe
|
Chondrom; Osteom; Chondroblastom; Osteochondrom;
Osteoblastom; chondromesenchymales Hamartom;
Riesenzelltumor
|
Chondrosarkom Osteosarkom Chordom
|
Hämatolymphoide Tumoren
|
|
Extranodales T-Zell-Lymphom
(Natürliches-Killerzellen-Lymphom) diffuses großzelliges
B-Zelllymphom extramedulläres Plasmozytom extramedulläres
Myeloidsarkom histiozytisches Sarkom
|
Neuroektodermale Tumoren
|
|
Ewing Sarkom Primitiver neuroektodermaler Tumor
Olfactoriusneuroblastom melanotischer neuroektodermaler
Tumor des Kindesalters Schleimhautmelanom
|
Keimzelltumoren
|
Dermoidzyste Teratom
|
Teratom mit maligner Transformation sinunasales
Teratokarzinom
|
Sekundäre Tumoren
|
|
Metastasen von Tumoren anderer Provenienz
|
4.3.1 Symptome und Diagnostik
Die Symptome von Tumoren und Pseudotumoren der Nasennebenhöhlen mit
Orbitabeteiligung sind unspezifisch und abhängig von der Tumorentität.
Mucocelen des Siebbeins oder der Stirnhöhlen führen zu einer meist
schmerzlosen Verdrängung der Orbitaweichteile ohne Funktionsstörung von
Nerven, wohingegen bei malignen Tumoren häufig eine schmerzhafte Schwellung
oder motorische Einschränkungen bestehen [414]
[415].
Bildgebende Verfahren sind unbedingte Voraussetzung für die Diagnostik (CT
und/oder MRT). Das CT als Hochkontrastverfahren gestattet eine bessere
Beurteilung der knöchernen Strukturen, das MRT eine bessere Beurteilung der
Weichteilstrukturen.
In zahlreichen Fällen ist vor definitiver Therapie eine Biopsie des Tumors
oder eine sonographisch gesteuerte Feinnadelpunktion erforderlich. Klinisch
stehen meist nasale Symptome im Vordergrund ; orbitale Symptome im Sinne von
Exophthalmus, Diplopie oder Bulbusmotilitätsstörungen treten bei etwa 16%
der Patienten mit malignen Nasennebenhöhlentumoren auf [416].
4.3.2 Pseudotumore
Zu den Pseudotumoren der Nasennebenhöhlen, die orbitale Symptome verursachen
können zählen neben Zysten und Mucocelen die fibro-ossären Läsionen und die
Polyposis nasi.
4.3.2.1 Mucocelen und Zysten
Mucocelen und Zysten der Nasennebenhöhlen entstehen durch eine
Sekretretention in abgeschotteten mucosal ausgekleideten Räumen. Die
Ursache der Sekretretention ist meist eine vorangegangene Operation,
eine Verletzung oder eine Entzündung. Mucocelen neigen im Gegensatz zu
Zysten stärker zur Progression. Aufgrund des Innendrucks kommt es zur
Rarefizierung von Knochenstrukturen mit konsekutiver Ausdehnung in
Nachbarorgane [417].
Mucocelen führen je nach betroffener Nebenhöhle zu einer
Verdrängung der Orbitabinnenstrukturen. Meist sind die Stirnhöhlen oder
die Siebbeinzellen, seltener die Kieferhöhlen betroffen. Mucocelen sind
oft im oberen inneren Quadranten der Orbita lokalisiert [418]
[419], bei Lage der Mucocele in der
Kieferhöhle auch im unteren medialen Quadranten. Subjektive Beschwerden
können neben einem Exophthalmus Bulbusmotilitätsstörungen,
Bulbustiefstand und aufgrund des Druckes auf den N. opticus
Visusstörungen sein [420]. Die
Therapie besteht in der funktionell endoskopischen oder mikroskopischen
Nasennebenhöhlenoperation mit Drainage bzw. Entfernung der Mucocele.
Zysten im Bereich des Siebbeins, der Kieferhöhle oder der
Stirnhöhle führen nur selten zu orbitalen Symptomen, und wenn dann zu
unspezifischen Erscheinungen wie Epiphora, diffusem Druckgefühl peri-und
retrobulbär oder subjektivem Verschwommensehen.
4.3.2.2. Fibro-ossäre Läsionen der Nasennebenhöhlen
Zu den fibro-ossären Läsionen der Nasennebenhöhlen zählen die fibröse
Dysplasie, das ossifizierende Fibrom, die ossäre Dysplasie, die
allerdings meist im Bereich des Unterkiefers lokalisiert ist und nur
seltener im Bereich der Nasennebenhöhlen [421], sowie das Riesenzellgranulom
[422].
Innerhalb dieser Gruppe ist die fibröse Dysplasie mit einem Anteil von
37%-56% die häufigste Erkrankung, gefolgt von dem ossifizierenden Fibrom
(ca. 33%) und der össären Dysplasie (11–25%) [423]
[424]
[425]. Die Ätiologie der Erkrankung
ist unbekannt. Es wird u. a. ein Defekt der Progenitorzell
Differenzierung diskutiert [426]
und Defekte der APC-und CTNNB1 Gene, die unter anderem für die ß-catenin
Bildung verantwortlich sind. Aberrante oder fehlende ß-catenin Bildung
ist in zahlreichen fibro-ossären Läsionen und odontogenen Tumoren
nachgewiesen worden [427]. Die
Erkrankung ist benigne; eine maligne Entartung in ein Leimyosarkom wurde
kasuistisch mitgeteilt [428]. Die
fibröse Dysplasie ist meist im Bereich des Os maxillare oder der
Mandibula lokalisiert, die Stirnhöhlen, Siebbeinzellen, Keilbeinhöhlen
oder der Clivus bzw. die Frontobasis sind deutlich seltener befallen
[425]
[429]
[430], allerdings kann die
Erkrankung sehr ausgedehnt nahezu die gesamte Schädelbasis betreffen
[431]. Orbitale Symptome
treten bei Befall der knöchernen Orbitawandungen auf oder, im Falle
einer Lokalisation im Clivus bzw. im Os sphenoidale, als Visusminderung
durch Kompression des N. opticus, bzw. als neuralgieforme Schmerzen
durch Kompression des N. maxillaris bei Befall des Foramen rotundum
[431]. Für die Diagnose ist
die CT und das MRT hinweisend [429]
[432] ([Abb. 18]). Sie muss letztlich
jedoch histologisch gestellt werden [433]. Die Therapie der fibro-ossären Läsionen richtet sich
nach Ausdehnung und Symptomatologie des Befundes. Ist es im Rahmen einer
fibrösen Dysplasie zu einer Kompression des N. opticus gekommen, so muss
eine Opticusdekompression durchgeführt werden [434].
Abb. 18 fibröse Dysplasie des Os Sphenoidale mit Befall
der Orbitaspitze und des Kanals des N. opticus.
4.3.2.3 Polyposis nasi
Bei der Polyposis nasi handelt es sich um eine chronisch
entzündliche Erkrankung der Nasennebenhöhlen. Die Ätiologie der
Erkrankung ist bisher noch nicht komplett erforscht. Es wird u. a. eine
Störung des Arachidonsäurehaushaltes der Mucosazellen als ursächlich für
die Polypenbildung diskutiert, eine Typ-2 Entzündungsreaktion, eine
Störung der epithelialen Barriere, eine Aktivierung von Signalwegen
unter Beteiligung von Interleukinen (insbesondere IL-5 und IL-13) sowie
eine B-und T-Zell gebundene Entzündungsreaktion. Es handelt sich um ein
multifaktorielles Geschehen [435]
[436]. Die Polypen
sind keine Neoplasien im engeren Sinne. Orbitasymptome sind eine
Epiphora, ein diffuses periorbitales und, bei Betroffensein auch der
Keilbeinhöhle, auch retroorbitales Druckgefühl, gelegentlich mit
subjektivem Verschwommensehen. Schmerzen fehlen in der Regel. Auch
treten im Allgemeinen keine Bulbusmotilitätsstörungen auf. Die
knöchernen Orbitawandungen sind auch bei ausgeprägtester Erkrankung
stets erhalten. Die Therapie besteht in der endonasalen funktionellen
Nasennebenhöhlenoperation mit Entfernung der Polypen mit einer
Nachbehandlung mit topischen Kortikoiden, evtl. auch mit monoklonalen
Antikörpern, um einer Rezidivpolyposis vorzubeugen.
4.3.3 Benigne Tumoren der Nasennebenhöhlen mit Orbitabeteiligung
4.3.3.1. Sinunasale Papillome
Sinunasale Papillome sind Neoplasien der
Nasennebenhöhlenschleimhaut. Der häufigste Vertreter ist das invertierte
Papillom. Die Ätiologie ist unbekannt. Studien deuten darauf hin, dass
es bei etwa 30–35% der Patienten eine Assoziation mit einer Infektion
durch Humanes Papilloma Virus gibt [437]. Sie sind mit 30% der häufigste Tumor der Nase und der
Nasennebenhöhlen [412]. Er tritt
meist einseitig auf, synchrone beidseitige Invertierte Papillome sind
mit etwa 4% selten. [412]
[438]. Die Symptome sind
unspezifisch. Invertierte Papillome wachsen lokal verdrängend und führen
gelegentlich auch zu Knochenarrosionen. Bei Einbruch in die Orbita kommt
es zu einer Verdrängung der orbitalen Binnenstrukturen mit einer
Verlagerung des Bulbus [439]. Die
Periorbita ist in der Regel intakt und im CT oder MRT als feine
Gewebelamelle zwischen Tumor und Orbitainhalt zu identifizieren. Die
Therapie des invertierten Papilloms besteht in seiner kompletten
chirurgischen Entfernung unter Einhaltung onkochirurgischer Kautelen
[412]
[438]
[440].
4.3.3.2 Paragangliome
Paragangliome entstehen aus den nicht-chromaffinen Zellen, deren Existenz
in der Schleimhaut der Nase und der Nasennebenhöhlen bewiesen ist. Sie
können sowohl in der Orbita selbst entstehen als auch von den
Nasennebenhöhlen aus die Orbita infiltrieren [441]
[442]. Es handelt sich um primär
gutartige Tumoren; allerdings deuten klinische und zellbiologische
Untersuchungen darauf hin, dass sich diese Tumoren in bis zu 50%
klinisch maligne verhalten können mit Infiltration der Schädelbasis und
der Orbita sowie Metastasierung [441]. Klinisch steht häufig eine rezidivierende Epistaxis im
Vordergrund. Die CT und das MRT zeigt die Ausdehnung des Tumors und
evtl. Knocharrosionen. Die Therapie besteht in der kompletten
chirurgischen Tumorentfernung. Vorher erfolgt eine Angiographie mit
superselektiver Embolisation der den Tumor mit Blut versorgenden
Feeder-Gefäßen.
4.3.3.3. Osteome
Osteome sind gutartige Geschwülste der knöchernen Matrix. Sie wachsen
sehr langsam und sind meist im Bereich der Stirnhöhlen (80%) und im
Siebbein (20%) lokalisiert [432].
Männer werden doppelt so häufig betroffen wie Frauen. Oft werden
asymptomatische Osteome als Zufallsbefund bei Röntgen-oder CT-Aufnahmen
der Nasennebenhöhlen entdeckt. Die Tumoren werden in der Regel erst dann
symptomatisch, wenn es durch lokalen Druck bzw. durch Abschottung des
Drainageweges der betroffenen Nebenhöhle zu Cephalgien oder
rezidivierenden Sinusitiden kommt. Orbitale Symptome sind selten und
kommen erst bei Vorwachsen in die Orbitabinnenstrukturen in Form von
Verdrängung des Orbitainhaltes vor. Der Tumor stellt sich im CT als
charakteristische knochendichte Masse dar. Therapeutisch ist die
komplette Tumorentfernung anzustreben.
4.3.4 Maligne Tumoren der Nasenebenhöhlen mit Orbitabeteiligung
Maligne Tumoren der Nase und der Nasennebenhöhlen haben einen Anteil von etwa
1–3% aller Malignome des Menschen [412]
[443]
[444]
[445]. Ihre Inzidenz wird mit 1:100.000 angegeben, wobei sich
regionale und geschlechtsspezifische Unterschiede finden [446].
In der Häufigkeit der Tumorentitäten steht das Plattenepithelkarzinom mit
48–60% an erster Stelle, gefolgt von dem Adenokarzinom mit 9–15%. Bei
Kindern sind Sarkome häufig [447]. In
der Inzidenz der Tumorentitäten scheinen ebenfalls regionale Unterschiede zu
bestehen. Die epithelialen Geschwülste der Kieferhöhle und der
Nasenhaupthöhle sowie des Siebbeins werden mittels einer im Jahr 2017 auf
die anatomischen Gegebenheiten angepassten TNM-Klassifikation der UICC
klassifiziert [448]. Eine Infiltration
der Orbita liegt bei den T-Stadien T3, T4a und T4b vor ([Tab. 18]).
Tab. 18 TNM-Staging-System des American Joint
Committee on Cancer (AJCC) für Tumoren der Nase und der
Nasennebenhöhlen, 8. Ed., 2017 [53].
T Stadium
|
Tumorsitz Nasenhaupthöhle/Siebbein
|
Tumorsitz Sinus maxillais
|
Tis
|
Carcinoma in situ
|
|
T1
|
Tumor ist begrenzt auf ein Organbezirk (Septum,
Nasenboden, laterale Nasenwand, Vestibulum nasi, Sinus
ethmoidalis)
|
Tumor ist begrenzt auf die Mucosa des Sinus maxillaris
ohne Knochenarrosion
|
T2
|
Tumor infiltriert 2 Organbezirke einer Region oder
infiltriert eine angrenzende Region im nasoethmoidalen
Komplex
|
Tumor mit Knochenarrosion oder-destruktion, incl.
Ausdehnung in den harten Gaumen und/oder mitlleren
Nasengang, exclusive Strukutren, die ein höheres
T-Stadium bedeuten
|
T3
|
Tumor infiltriert eine der folgenden Strukturen:
|
Tumor infiltriert eine der folgenden Strukturen:
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
T4a
|
Tumor infiltriert eine der folgenden Strukturen:
|
Tumor invades any of the following:
|
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|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
T4b
|
Tumor infiltriert eine der folgenden Strukturen:
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
N Stadium
|
|
N0
|
Keine regional Lymphknotenmetastasen (LK)
|
N1
|
Singuläre LK Metastase, ipsilateral, ≤3 cm, keine
Kapselüberschreitung (KÜ-)
|
N2a
|
Singuläre LK Metastase, ipsilateral, >3 and ≤6 cm,
KÜ−; oder singuläre LK Metastase, ipsilateral, ≤3 cm,
KÜ-positiv (ENE+)
|
N2b
|
LK Metastasen in mehreren LK, ipsilateral, alle ≤6 cm,
und KÜ-
|
N2c
|
LK Metastasen bilateral oder kontralateral, alle ≤6 cm,
und KÜ-
|
N3a
|
LK Metastase, >6 cm, und KÜ-
|
N3b
|
Singuläre LK Metastase, ipsilateral, >3 cm, und KÜ+;
oder multiple ipsilaterale, kontralaterale, oder
bilaterale LK Metastasen, einer KÜ+; oder singuläre
kontralaterale LK Metastase jeglicher Größe und KÜ+
|
Tab. 19 Stadien der Orbitainfiltration durch maligne
Tumore der Nasenhaupt-und Nasennebenhöhlen (modifiziert nach
Maroldi [465]).
Stadium
|
Beschreibung
|
I
|
Tumor erreicht die Orbitawandungen; Knochenarrosion ohne
Beteiligung des Orbitainhaltes
|
II
|
Tumor verursacht eine Knochenarrosion mit Beteiligung der
Orbitabinnenstrukturen; Infiltration der Periorbita;
diese ist jedoch noch intakt
|
III
|
Tumor hat die knöchernen Wandungen und die Periorbita
durchbrochen und zu einer umschriebene Infiltration der
Orbitabinnenstrukturen (z. B. einzelner Muskeln)
geführt.
|
IV
|
Diffuse Infiltration der Orbita
|
4.3.4.1. Plattenepithelkarzinome
Beim Plattenepithelkarzinom handelt es sich um den häufigsten
malignen Tumor. Etwa 3% aller Malignome im Kopf-Hals Bereich sind
Plattenepithelkarzinome der Nase und der Nasennebenhöhlen [444]
[449]
[450]. Der Tumor tritt bevorzugt in
der Nasenhaupthöhle, in der Kieferhöhle und im Siebbein auf. Als
Risikofaktoren gelten Tabakrauch und die Exposition mit Nickel oder
Chromaten [412]
[414]
[446]. Männer erkranken etwa zwei
bis dreimal häufiger als Frauen [444]. Sind die Tumoren im Bereich der Nasennebenhöhlen
lokalisiert, verursachen sie erst relativ spät Beschwerden in Form von
Nasenatmungsbehinderung, rezidivierender Epistaxis oder auch Schmerzen,
insbesondere wenn Nervenstrukturen vom Tumor erfasst werden. Eine
Infiltration in die Orbita erfolgt meist im Bereich des Siebbeins und
kann bei bis zu 60% der Tumoren beobachtet werden [450].
4.3.4.2. Adeno-und adenoidcystische Karzinome
Maligne Tumoren ausgehend von dem Drüsengewebe stellen die zweitgrößte
Gruppe an malignen Tumoren der Nasennebenhöhlen dar (Übersicht bei [451]).
Adenokarzinome entstehen in den kleinen mucosalen Drüsen der
Schleimhaut. Die Ätiologie ist unbekannt, allerdings tritt es gehäuft
bei Patienten auf, bei denen eine Exposition mit Hartholzstäuben
vorliegt. Männer erkranken 6–8 mal häufiger als Frauen. Der Tumor ist
meist im Bereich der Nasenhaupthöhle, am Nasendach oder im Siebbein
lokalisiert. Die Symptome sind ähnlich dem des
Plattenepithelkarzinoms.
Die adenoidcystischen Karzinome zählen zu den
Speicheldrüsentumoren und entstehen ebenfalls im Drüsengewebe der
Mucosa. Der Tumor wächst relativ langsam. Allerdings ist eine
Infiltration der Perineuralscheiden pathognomisch, was eine Operation im
Gesunden im Rahmen der chirurgischen Therapie erschwert. Neben der
Perineuralscheideninfiltration sind Fernmetastasen insbesondere in die
Lunge häufig auch schon bei relativ kleinen Tumoren anzutreffen.
Mucoepidermoidkarzinome werden selten im Bereich der Nase und der
Nasennebenhöhlen angetroffen. Sie verursachen aber schon in frühen
Stadien Schmerzen [452]. Die
übrigen Symptome entsprechen denen der Plattenepithelkarzinome.
4.3.4.3. Maligne Melanome
Das maligne Melanom entsteht aus Melanozyten, die sich in der
respiratorischen Schleimhaut finden. In etwa 70% der Fälle handelt es
sich um amelanotische Tumoren, bzw. die Tumoren weisen
amelanotische.Anteile auf [453]
[454]. Histologisch
stellen sich überdies häufig undifferenzierte Tumorareale dar [454] Der Tumor ist mit einer
Inzidenz von 0,05/100000 sehr selten [455]. Die Ätiologie ist weitgehend unbekannt, da
Risikofaktoren, die prädisponierend für das maligne Melanom der Haut
sind (u. a. direkte UV-Strahlung), für das Schleimhautmelanom keine
Rolle spielen können [456]. In
Zellen mucosaler Melanome wurden zahlreiche Genalterationen
identifiziert, so u. a. der KIT-, BRAF-, N-RAS-und
GNAQ-Gene sowie molekulare Signalwege wie PI3K-Akt-mTOR
(Übersicht bei [457]). Die bei den
Hautmelanomen gebräuchliche Einteilung in Clark Level ist bei den
Schleimhautmelanomen nicht anwendbar [458]. Bevorzugte Tumorlokalisation ist die Nasenhaupthöhle.
Der Tumor weist auch nach kompletter Entfernung eine hohe Rezidivrate
auf [454].
4.3.4.4. Neuroendokrine Tumoren
Innerhalb der Gruppe der neuroendokrin differenzierten Tumoren (mit
Ausnahme des malignen Melanoms) ist das Olfactoriusneuroblastom (Syn.
Ästhesioneuroblastom) der häufigste Vertreter. Der Tumor entsteht aus
undifferenziertem neuroektodermalen Gewebe des Riechepithels. Der
bevorzugte Tumorsitz ist das Nasendach in der Region der Rima
olfactoria, das obere Nasenseptum sowie die Siebbeinplatte. Die Lamina
cribrosa ist immer betroffen; eine Infiltration entlang der Riechfasern
durch die Schädelbasis ist häufig. Ausgedehnte Olfactoriusneuroblastome
können von kranial in die Orbita vorwachsen und sind dort meist im
cranio-medialen Quadranten. Die Ätiologie des Tumors ist bislang
ungeklärt, was die therapeutischen Möglichkeiten begrenzt.
Molekularbiologisch wurden Mutationen bei TP53-Protein, c-kit und
PDGFR-b gefunden, und in den EGFR, FGF-FGFR1
Signalwegen, in Apoptose regulierenden Signalwegen (Bcl-2,
TRAIL), und bei Faktoren der Neoangiogenese (VEGF,
KDR) (Übersicht bei [457]).
4.3.4.5. Maligne Lymphome
Bei den malignen Lymphomen handelt es sich in der Regel um
Non-Hodgkin-Lymphome. Sie können primär in der Orbita selbst entstehen
(Übersicht bei [451]) oder in den
Nasennebenhöhlen und auf die Orbita übergreifen. Während es sich bei den
Lymphomen in der Orbita meist um maligne B-Zell-Lymphome handelt [458] (mit dem diffus großzelligen
Lymphom als häufigsten Vertreter), werden im Bereich der Nasenhaupthöhle
auch T-Zell-Lymphome angetroffen [459]
[460], die eine
hohe Aggressivität mit einer schlechteren Prognose als die
B-Zell-Lymphome aufweisen [460].
In der Orbita können alle Strukturen infiltriert werden mit der Folge
einer Propoptose, Chemosis, Diplopie, Epiphora und ggfls. Visusverlust.
Eine Operationsindikation ergibt sich für die Gewinnung einer
Gewebeprobe zur histologischen Sicherung und Subtypisierung des
Lymphoms. Ein rapider Visusverlust durch Druck auf den N. opticus kann
eine Optikusdekompressionsoperation notwendig machen. Die Therapie
besteht in einer Chemotherapie. Lokalisierte und unifokale Läsionen
werden einer Strahlenbehandlung zugeführt.
4.3.4.6 Metastasen
Fernmetastasen von Tumoren anderer Provenienz können im Bereich der Nase,
der Nasennebenhöhlen und der Orbita vorkommen. Besonders
nicht-kleinzellige Karzinome und hellzellige Adenokarzinome, z. B. aus
Mamma, Niere, Pancreas, Kolon oder Bronchialsystem metastasieren häufig
in diesen Bereich [461].
4.3.4.7 Sinunasales undifferenziertes Karzinom
Bei dem sinunasalen undifferenzierten Karzinom (sinunasal
undifferentiated carcinoma, SNUC) handelt es sich um einen sehr
aggressiven Tumor der Nasennebenhöhlen. Eine Infiltration der Orbita
erfolgt bereits in frühen Tumorstadien. Der Tumor geht meist von den
Siebbeinzellen aus und greift auf die hinteren, intrakonalen, Anteile
der Orbita, gelegentlich auch auf die Orbitaspitze über [462]. Dementsprechend finden sich
neben Chemosis, Exophthalmus und Bulbusverlagerung auch häufig
Motilitätsstörungen durch eine Infiltration der Hirnnerven III, IV oder
VI und Visusstörungen. Therapeutisch steht die Resektion im Vordergrund
mit nachfolgender Strahlentherapie, evtl. in Kombination mit einer
Immuntherapie (PD-L1-Inhibitoren) [463]. Die 5-Jahres-Überlebensrate beträgt etwa 20%.
4.3.5 Infitration der Orbita
Entsprechend den engen Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Nasenhaupthöhle,
Nasennebenhöhlen und Orbita infiltrieren Malignome häufig die
Orbitabinnenstrukturen. Beim Plattenepithelkarzinom der Kieferhöhle liegt
die Rate an Orbitabeteiligungen bei etwa 29% [464].
Die Infiltration der Orbita wird anhand des CT oder MRT in die Stadien I-IV
unterteilt. Stadium I bedeutet eine Knochenarrosion ohne Beteiligung der
Orbita, Stadium IV eine diffuse Orbitainfiltration [465] ([Abb. 19]) ([Tab. 19]).
Abb. 19 Infiltration der Orbita durch ein Adenokarzinom des
Siebbeins und der Kieferhöhle, axiale Schnittführung (Infiltration
Stadium II).
4.3.6 Therapie der malignen Tumoren
Die Therapie der malignen Tumoren der Orbita und der Nasennebenhöhlen mit
Orbitabeteiligung richtet sich nach der Tumorentität, dem Tumorstadium und
der Tumorlokalisation. Bei den Plattenepithelkarzinomen, den
Adenokarzinomen, dem Olfaktoriusneuroblastom und den malignen Melanomen
steht die operative Tumorentfernung im Vordergrund [453]
[454]
[457]
[466]. Moderne chirurgische Konzepte
sind zunehmend minimalinvasiv und organ-und funktionserhaltend und haben die
Erhaltung des Auges zum Ziel [458]
[464]
[467]
[, 468]. Eine Exenteratio orbitae ist bei sehr ausgedehnten
Fällen, in denen aus Gründen der Tumorkontrolle oder wegen tumorbedingter
Funktionsstörungen eine Erhaltung des Auges nicht möglich ist oder im Rahmen
einer Salvage Chirurgie indiziert [469].
Da sich in nur etwa 10% der Fälle Lymphknotenmetastasen finden [412]
[414]
[457] ist eine
gleichzeitige Neck dissection nur bei sonographischem Verdacht auf eine
Metastasierung indiziert [412]
[414].
Beim Plattenepithelkarzinom wird eine postoperative Strahlentherapie
empfohlen, bei entsprechendem molekularen Profil in Kombination mit einer
Immuntherapie z. B. mit PD-L1 Inhibitoren [412]. Auch bei den malignen Melanomen scheint die postoperative
Radiatio einen günstigen Effekt für die Prognose zu haben [453]
[454]
[456]
[470], evtl. in Kombination z. B. mit
Immunmodulatoren wie IL-2 oder IF-α und mit monoklonalen Antikörpern z. B.
Ipilimumab (ein anticytotoxischer T-Lymphozyten Antikörper).
4.3.7 Prognose
Die Prognose der malignen Tumoren der Nasennebenhöhlen mit Infiltration der
Orbita ist von den Parametern: Tumorentität, Tumorlokalisation und
Tumorausdehnung abhängig. Das T-Stadium ist enger mit der Prognose
assoziiert als die anatomische Tumorlokalisation [471]. Eine Infiltration der
Schädelbasis, der Orbitaspitze, des Sinus cavernosus oder eine diffuse
Infiltration der Orbita bedeuten eine schlechte Prognose [472]. Insgesamt liegt die
5-Jahres-Überlebensrate für das Plattenepithelkarzinom und für das
Adenokarzinom bei etwa 35–40% [412]
[445]. Maligne Melanome
haben eine schlechtere Prognose vor allem wegen ihrer hohen Rate an
Lokalrezidiven [453]
[454]
[456]
[460]. Die 3-Jahres-und
5-Jahres-Überlebensraten werden mit 44% bzw. 24–27% angegeben [455]. Die 5-Jahres-Überlebensrate bei
Olfactoriusneuroblastomen beträgt nach chirurgischer Entfernung über 55%
[462]
[472]
[473].