Dr. Dratsch, Dr. Pinto dos Santos, aus welcher Perspektive blicken Sie auf das Thema
des Projekts?
Dr. Dratsch: Die Digitalisierung hat sehr dabei geholfen, die Leistungsfähigkeit der
Radiologie voranzutreiben. Wir sind in der Lage, immer kleinere Strukturen im Körper
zu erkennen und pathologische Veränderungen darzustellen. Damit geht allerdings auch
einher, dass wir immer mehr Daten erhalten, mit denen wir effizient umgehen müssen.
Auch dabei hat die Digitalisierung geholfen: die Datenflut in geordnete Bahnen zu
bringen. Jedoch gibt es immer noch eine Vielzahl von Herausforderungen, bei denen
digitale Methoden und Abläufe effektiver genutzt werden könnten.
Dr. med. Dr. phil. Thomas Dratsch
PD Dr. med. Daniel Pinto dos Santos
Können Sie Beispiele nennen?
Dr. Dratsch: In der radiologischen Arbeitskette – von der Terminierung über Bildakquisition
bis hin zur Befunderstellung und Kommunikation der Ergebnisse – gibt es immer noch
eine Vielzahl von Reibungspunkten. Das liegt unter anderem daran, dass einzelne Arbeitsprozesse
oder Informationsquellen nicht oder nur teilweise digitalisiert sind. Zum Beispiel
finden sich manchmal wichtige Informationen nur in Papierform. Ein weiteres Problem
ist die Zuverlässigkeit der digitalen Tools, auf die die Radiologie angewiesen ist.
Terminierungssoftware, digitale Patientenakte, PACS und Spracherkennungssoftware müssen
alle zuverlässig zusammenarbeiten. Kommt es bei einem dieser Elemente zu Störungen,
kann das die Arbeit deutlich behindern.
Das klingt danach, dass Prozesse nicht ausreichend standardisiert sind. Ein Thema,
das schon seit mehreren Jahren diskutiert wird.
Dr. Pinto dos Santos: Ja, in der AGIT bearbeiten wir Themen der Standardisierung intensiv.
So haben wir unter anderem im vergangenen Jahr neue Vorlagen zur strukturierten Befundung
veröffentlicht. Die strukturierte Befundung strebt danach, den sonst in freiem Text
formulierten Befund in eine standardisierte Form zu bringen. Dabei ist uns wichtig,
keine starren Arbeitsabläufe vorzugeben, sondern nur die Inhalte zu standardisieren
und dabei aber auch ein zukunftssicheres Format wie FHIR zu nutzen. Auf diese Weise
können relevanten Informationen strukturiert und zwischen Institutionen vergleichbar
erfasst werden, was bspw. eine einfachere Auswertung und Weiternutzung für folgende
Arbeitsschritte erlaubte.
Die breite Anwendung solcher Befundvorlagen in der Praxis ist bedauerlicherweise noch
nicht weit verbreitet, insbesondere weil heute verfügbare Softwarelösungen sich nicht
so einfach in die Arbeitsabläufe der Radiologie integrieren lassen und meist zu zeitaufwändig
in der Benutzung sind. Das stellt einen entscheidenden Schritt dar, den wir aktuell
angehen und dringend vorantreiben müssen. Die volle Effektivität der Befundvorlagen
kann nur erreicht werden, wenn sie reibungslos in unsere Arbeitsabläufe integriert
werden, beispielsweise in das Radiologie-Informations-System (RIS). Wir Radiologinnen
und Radiologen setzen große Erwartungen in die RIS-Anbieter, dass sie uns hochwertige
Werkzeuge in diesem Bereich bereitstellen. Die Befundvorlagen selbst sind frei verfügbar
und unter einer offenen Lizenz erhältlich. Das bedeutet, dass keine Kosten für ihre
Nutzung anfallen und sie kommerziell genutzt werden können.
Aber auch in den Bereichen Radiomics oder künstliche Intelligenz stoßen wir auf Hindernisse
bei der Standardisierung und praktischen Anwendbarkeit in der radiologischen Praxis.
Oftmals kann zum Beispiel keine konsistente Bild- und Datenqualität gewährleistet
werden. Wir müssen die Herausforderungen, Lösungsansätze in Forschung und Praxis sowie
die notwendigen Fortschritte bei etablierten Qualitätssicherungseinrichtungen diskutieren.
Stichwort KI: Das Thema ist gegenwärtig in aller Munde. Wo liegen hier die Herausforderungen
in der praktischen Anwendung?
Dr. Pinto dos Santos: Ein Problem ist hier zum Beispiel der sogenannte Automation
Bias, also ein zu starkes Verlassen auf den Autopiloten, sowie ein mangelndes Hinterfragen
der KI-Empfehlungen. Um KI effektiv in der Radiologie einzusetzen, sind Schulungen
unerlässlich. Es gibt bisher kein festes Curriculum für den Einsatz von KI, aber es
wäre wichtig, eines zu etablieren.
Dr. Thomas Dratsch: Auch gilt es vor dem breiten Einsatz von KI immer noch zahlreiche
wirtschaftliche und regulatorische Hürden zu überwinden, bevor sich diese in die bisherige
radiologische Arbeitskette eingliedern kann.
Es besteht also Bedarf an Schulungen und Richtlinien für den KI-Einsatz. Gibt es noch
weitere Probleme, die Sie hervorheben möchten?
Dr. Pinto dos Santos: Tatsächlich herrscht in der Radiologie derzeit eine Hybrid-Situation
zwischen analogen und digitalen Lösungen. Es mangelt an einer strukturierten Datenerfassung
sowie an einer zuverlässigen IT-Infrastruktur. Dies führt zu weiteren Komplikationen
im Arbeitsablauf.
Herr Dr. Dratsch, Herr Dr. Pinto dos Santos, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Zum Hintergrund des Projektes „HowToDigital“
Prof. Dr. Manuel Trenz von der Universität Göttingen leitet das Projekt „HowToDigital
– Digitale Kompetenzen und Entwicklung digitaler Tools für die stationäre und ambulante
Versorgung“. Es hat eine Laufzeit von drei Jahren und wird vom Gemeinsamen Bundesausschuss
(G-BA) mit rund 800.000 Euro unterstützt. Ziel ist es, digitale Lösungen im Gesundheitswesen
voranzutreiben, indem Nutzungshemmnisse identifiziert und digitale Kompetenzen gefördert
werden. Das Projekt konzentriert sich auf Radiologie und Gynäkologie und untersucht
vorhandene digitale Systeme sowie Kompetenzen des medizinischen Personals.
Zu den Projektpartnern zählen neben der Universität Göttingen auch die Universität
Paderborn, das Universitätsklinikum Köln, die Deutsche Röntgengesellschaft, die gematik
GmbH, die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg, die AOK Sachsen-Anhalt und die Techniker
Krankenkasse. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) ist als höchstes Gremium der Selbstverwaltung
im deutschen Gesundheitswesen maßgeblich für die Ausgestaltung und Weiterentwicklung
des Gesundheitssystems verantwortlich.
Die AGIT beim diesjährigen Röntgenkongress zu diesem Themengebiet mehrere Veranstaltungen
an. Hier eine Auswahl:
Beim RÖKO DIGITAL
-
Radiologie und Physik – Qualitätssicherung für moderne Rekonstruktionsalgorithmen
(18. Mai 2024,8:00 Uhr)
-
Radiologie und IT: Fit für die Zukunft – standardisierte Bild- und Datenqualität für
Forschung und Praxis (18. Mai 2024, 09:45 Uhr)
-
Radiologie und IT: Interdisziplinäre IT (6. Juni 2024, 17:15 Uhr)
-
Radiologie und IT: KI – Use Cases für die Radiologie (8. Juni 2024, 13:15 Uhr)
Beim RÖKO WIESBADEN
-
Radiologie und IT: AGIT feat. AG MSK – The Face-Off AI (8. Mai 2024, 09:30 Uhr)
-
Radiologie und IT: Large Language Models und ihr Einsatz in der Radiologie (8. Mai
2024, 11:15 Uhr)
-
Radiologie und IT: Das lITerarische Quartett – Publikationen die man kennen muss (9.
Mai 2024, 10:15 Uhr)
Weitere Termine finden Sie unter www.roentgenkongress.de