Herr Dr. Windfelder, Sie haben mithilfe von Mikrocomputertomographie die Raupen des
Tabakschwärmers untersucht. Dabei entdeckten Sie neue anatomische Strukturen. Was
fasziniert Sie besonders an dieser Forschungsarbeit?
Wir haben den Darm der Insekten untersucht und mehrere Blinddärme entdeckt, die bisher
unbekannt waren. Wir haben die Tabakschwärmer-Raupen als alternatives Tiermodell für
Darmentzündungen etabliert, insbesondere für Krankheiten wie Morbus Crohn oder Colitis
ulcerosa. Mithilfe der Micro-CT konnten wir das Verdauungssystem der Tabakschwärmer
detailliert untersuchen und neue Strukturen im Darm feststellen, darunter die hexagonale
Struktur des Hinterdarms und mehrere rudimentäre Blinddärme. Diese Entdeckungen sind
faszinierend, da man bisher davon ausging, dass die Därme von Raupen einfach und zylindrisch
sind. Wir konnten zeigen, dass gerade der vordere Mitteldarm und der Hinterdarm viel
komplexer sind als gedacht. Für unsere Forschung konzentrieren wir uns auf den Mitteldarm,
da hier die Vergleichbarkeit zwischen Säugetieren, einschließlich des Menschen, und
Raupen am größten ist. Die Histologie und Anatomie des Mitteldarms sind nahezu identisch.
Besonders vorteilhaft ist, dass der Mitteldarm zylindrisch verläuft, was die Bestimmung
von Darmwanddicke und Kontrastmittelanlagerung erleichtert und somit eine gute Aussage
über Darmentzündungen ermöglicht.
Sie suchen nach Gemeinsamkeiten zwischen dem Tabakschwärmer und dem Menschen im Darmbereich.
Können Sie darauf näher eingehen? Welche Ähnlichkeiten gibt es?
Auf den ersten Blick sind sich Tabakschwärmer-Larven und Menschen sehr unähnlich,
vor allem in der Morphologie. Aber wenn man den Darm genauer betrachtet, zeigt sich
eine hohe Vergleichbarkeit. Insbesondere bei Darmentzündungen ist das angeborene Immunsystem
stark konserviert zwischen Insekten und Säugetieren, einschließlich des Menschen.
Unsere Forschung zeigt, dass diese Raupen als präklinisches Modell für die Entzündungsforschung,
besonders bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis
ulcerosa, hervorragend geeignet sind. Dadurch wird die translationale Forschung beschleunigt
und die Anzahl der Versuche an Mäusen verringert.
Sie kooperieren also auch mit anderen Einrichtungen. Ihr Forschungsansatz scheint
dennoch einzigartig zu sein. Woran forschen andere Teams in diesem Bereich?
Ja, Insekten in der präklinischen Forschung sind ein wachsender Trend, insbesondere
Drosophila melanogaster, die Taufliege. Sie ist kleiner, einfacher zu halten und kostengünstiger
und es gibt mächtige genetische Tools für diese Tiere. Das Problem ist jedoch, dass
sie für bildgebende Verfahren zu klein sind. Unsere Arbeitsgruppe ist eine der ersten,
die Insekten in der Bildgebung und funktionalen Bildgebung einsetzt. Unsere Nische
ist die Nutzung von Insekten als präklinisches Tiermodell für die radiologische Forschung.
Wir haben gezeigt, dass Darmentzündungen mit klinischen Geräten wie MR, CT und PET
untersucht werden können. Ein großer Vorteil ist, dass man viele Raupen gleichzeitig
scannen kann, was Hochdurchsatzbildgebung ermöglicht. Zudem haben wir neue MR-Kontrastmittel
an Raupen getestet und gezeigt, dass sie in vivo darstellbar sind. Dies spart Zeit
und Ressourcen im Vergleich zu Mausmodellen.
Die Forschung ist auch Teil Ihrer Lehre an der Uni Gießen. Um die Themen zu vermitteln,
setzen Sie sowohl Augmented Reality (AR), als auch Virtual Reality (VR) in der Lehre
ein. Wie wird das von den Studierenden angenommen und welche Vorteile bietet es?
Die Studierenden finden es toll. An der Uni Gießen setzen wir diese Technologien besonders
in kleineren Veranstaltungen ein. Im Fach „Experimentelle Radiologie und Nuklearmedizin“
nutzen wir hochauflösende Mikro-CT-Datensätze, um die Anatomie der Raupen zu erklären.
Mit VR-Brillen können die Studierenden die Strukturen detailliert erkunden, was das
Verständnis erleichtert, und ihnen hilft, MR- und CT-Bilder besser zu interpretieren.
Die Erfahrungen sind sehr positiv, da diese Modelle faszinierend aussehen und anatomische
Strukturen hervorragend in VR betrachtet werden können.
Glauben Sie, dass VR in der Aus- und Weiterbildung in der Radiologie zukünftig eine
größere Rolle spielen wird?
Ja, davon bin ich überzeugt. 3D-Datensätze erleichtern das Verständnis komplexer anatomischer
Strukturen. Lehrbücher bleiben wichtig, aber VR und AR bieten zusätzliche Vorteile.
An der Uni Gießen setzen wir diese Technologien erfolgreich in kleineren Fächern und
Seminaren ein. In großen Vorlesungen ist es noch schwierig, aber in spezialisierten
Seminaren wird VR eine größere Bedeutung haben.
Welche weiteren Forschungsprojekte sind in Ihrer Arbeitsgruppe geplant?
Wir untersuchen weitere Erkrankungen und prüfen, inwieweit das Modell für andere Krankheiten
genutzt werden kann, etwa Stoffwechselerkrankungen, Herz- und Muskelkrankheiten sowie
das Darmmikrobiom. Wir arbeiten interdisziplinär, zum Beispiel mit Toxikologen, Immunologen
und Entomologen, um auch Themen wie Insektensterben und die Rolle von Pestiziden besser
zu verstehen. Das ist nur ein kleiner Ausblick auf unsere aktuelle Forschung.
Vielen Dank für die Informationen. Wir wünschen Ihnen und Ihrem Team weiterhin viel
Erfolg bei der Arbeit und sind gespannt auf Ihre zukünftigen Ergebnisse.
Weitere Informationen finden Sie hier: http://windfelder-lab.com
Ausgewählte Veröffentlichungen:
A. G. Windfelder , F. H. Müller, B. Mc Larney, M. Hentschel, A. C. Böhringer, C. R. Von Bredow, F.
H. Leinberger, M. Kampschulte, L. Maier, Y. M. von Bredow, V. Flocke, H. Merzendorfer,
G. A. Krombach, A. Vilcinskas, J. Grimm, T. E. Trenczek and U. Flögel; High-throughput
screening of caterpillars as a platform to study host–microbe interactions and enteric
immunity. Nature communications 13, 7216 (2022); https://doi.org/10.1038/s41 467–022–34 865–7
A. G. Windfelder , J. Steinbart, U. Flögel, J. Scherberich, M. Kampschulte, G.A. Krombach and A. Vilcinskas;
A Quantitative Micro-Tomographic Gut Atlas of the Lepidopteran Model Insect Manduca sexta. iScience 26. 10.1016 (2023); https://doi.org/10.1016/j.isci.2023.106 801
A. G. Windfelder , J. Steinbart, L. Graser, J. Scherberich, G. A. Krombach, and A. Vilcinskas; An
Enteric Ultrastructural Surface Atlas of the Model Insect Manduca sexta. iScience (2024); https://doi.org/10.1016/j.isci.2024.109 410
O. Koshkina, T. Rheinberger, V. Flocke, A. G. Windfelder, P. Bouvain, N. M. Hamelmann, J. M. J. Paulusse, H. H. Gojzewski, U. Flögel and F.
Wurm; Biodegradable Polyphosphoester Micelles Act as Both Backgroundfree 31P Magnetic
Resonance Imaging Agents and Drug Nanocarriers. Nature communications 14, 4351 (2023);
https://doi.org/10.1038/s41 467–023–40 089–0