Digital Health – Begriffsklärung und Einsätze in der Psychiatrie
            
               Digital Health steht für den Einsatz und die Weiterentwicklung digitaler
               Technologien zur Verbesserung der Gesundheit [1].
               Im Bereich der Psychiatrie bringt diese Form der Gesundheitsversorgung tiefgreifende
               Veränderungen mit sich, indem sie traditionelle Methoden durch intelligente,
               zugängliche und vernetzte Technologien ergänzt. Diese Technologien sind nicht nur
               zentral für die Bereitstellung psychiatrischer Gesundheitsleistungen (z. B.
               Aufgabenplanung, Ressourcenallokation), sondern verändern auch die Art und Weise,
               wie Diagnosen gestellt, Behandlungen durchgeführt und PatientInnen betreut werden
               sowie das Selbst-Management von PatientInnen.
         
            Im psychiatrischen Kontext umfasst Digital Health eine Vielzahl von
               Anwendungen: von mobilen Gesundheits-Apps wie „Apps auf Rezept“ [2]
               [3], die
               Virtual Reality zur Angstexposition oder KI-basierte Chatbots zur Unterstützung der
               kognitiven Verhaltenstherapie integrieren, über Fitnesstracker und Wearables bis hin
               zu Smartphone-Daten, die Informationen über Aktivitätsmuster, soziales Verhalten
               oder Stimmung per Sprachanalyse liefern. Hinzu kommen persönliche Gesundheitsgeräte
               wie intelligente Medikamentenboxen, Telekonsultationen und Lösungen zum
               (Selbst-)Monitoring von PatientInnen. Zunehmend, und wie von der WHO [1] befürwortet, wird Digital Health auch mit dem
               Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) verknüpft. Diese Technologien
               digitalisieren nicht nur das Gesundheitswesen, sondern ermöglichen auch neue Formen
               der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung und bringen zugleich
               Veränderungen in der Interaktion zwischen PatientInnen und Behandelnden mit sich
               [4]
               [5].
            Obwohl Digital Health grundlegend auf Technologie basiert, sind soziologische,
               organisatorische und kulturelle Faktoren keineswegs unbedeutend. Diese müssen
               sorgfältig berücksichtigt werden und es sollte geforscht werden, wie diese
               Technologien in das Leben der PatientInnen integriert werden und wie sie in
               organisatorischen und institutionellen Kontexten eingebettet sind [6]. In der Psychiatrie wird die Digitalisierung
               nicht nur die Arbeitsumgebung von Gesundheitsfachkräften, sondern auch die Art und
               Weise, wie PatientInnen betreut werden und sich selbst managen, erheblich verändern
               [7]. Dies erfordert gezielte Anstrengungen, um
               unbeabsichtigte Konsequenzen und „Nebenwirkungen“ der Einführung digitaler
               Gesundheitstechnologien zu adressieren [8].
            
               Digital-Health-Technologien ermöglichen die Erfassung detaillierter, sogar
               intimer Daten über menschliche Aktivitäten und Zustände – über tägliche
               Kommunikation bis hin zu physischen Standorten. Diese Gesundheitsdaten können große,
               bevölkerungsbezogene Kohorten von Individuen schaffen, die mithilfe dieser Daten und
               KI-Analysen „digital phänotypisiert“ werden können [9]. Solche Daten entstehen oft nicht gezielt durch spezifische digitale
               Gesundheitsdienste oder Forschungsprojekte, sondern als Nebenprodukt der Verbreitung
               mobiler Technologien wie Smartphones, Wearables und Social Media. Dies wirft jedoch
               auch bedeutende regulatorische und ethische Fragen auf, insbesondere im Hinblick auf
               Datenschutz, Autonomie, Risiken von Stigmatisierung und Wahlfreiheit. Während
               Digital-Health-Daten neue Formen persönlicher Einsichten in die Gesundheit
               ermöglichen, wie sie durch die „Quantified Self“-Bewegung [10] propagiert werden, bewegen sich diese ständigen
               Selbstüberwachungs- und Optimierungspraktiken auf einer schmalen Grenze hin zu
               potentiell pathologischen Zuständen, die als IT-nutzungsbezogener Stress,
               Arbeitsüberlastung, Unterbrechungen, Abhängigkeit und Missbrauch beschrieben werden
               [11].
          
         
         Potentiale und Risiken durch Digital Health in der Psychiatrie
            Diese Entwicklungen werfen die Frage auf, wie digitale Technologien gezielt
               eingesetzt werden können, um spezifische Versorgungslücken in der Psychiatrie zu
               schließen und dadurch einen echten Mehrwert für PatientInnen zu schaffen. In der
               wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Digital Health, insbesondere in der
               Wirtschaftsinformatik und angrenzenden Disziplinen, wird intensiv diskutiert, wie
               digitale Gesundheitstechnologien tatsächlich zu einem gesellschaftlichen Mehrwert
               beitragen können. Dabei werden vier technologie-basierte Mechanismen unterschieden,
               die Gesundheit fördern sollen: (1.) sensorunterstützt, (2.) vernetzt,
               (3.) präzise und personalisiert sowie (4.) immersiv 
               [12]. Im Folgenden sollen diese Mechanismen speziell
               für den Bereich der Psychiatrie betrachtet werden:
            1. Sensorunterstützt
            
            Aufbauend auf den Fortschritten der eHealth
               (elektronische Gesundheit) und mHealth (mobile Gesundheit) ermöglicht die
               sensorbasierte Datenerfassung nun die Erhebung von Informationen, die zuvor
               schwer zugänglich oder fehleranfällig waren. Beispielsweise basiert die
               Evaluation des Erfolgs eines Antidepressivums in der ambulanten Behandlung oft
               auf retrospektiven Patientenberichten oder Fragebögen, was zu Verzerrungen
               führen kann. Bei der bipolaren Störung empfehlen Leitlinien das Führen eines
               kontinuierlichen Stimmungstagebuchs zur Erkennung von Frühwarnzeichen.
               Sensorunterstützte Wearables könnten papierbasierte Selbstbeurteilungen ergänzen
               oder ersetzen, indem sie kontinuierliche und objektive Daten liefern. Zahlreiche
               Pilotstudien untersuchen bereits die Vorhersage manischer und depressiver
               Zustände durch aktive und passive Daten aus Smartphones und Wearables [13]
               [14].
            
            Diese Entwicklung wirft jedoch wichtige Fragen zur Validität
               und Zuverlässigkeit der erhobenen Daten auf. Ein kritisches Beispiel sind
               KI-Systeme zur „Emotion Recognition“, die behaupten, komplexe Gefühlszustände
               durch Bildanalyse erkennen zu können: Diese Systeme haben sich bereits in
               Einstellungsverfahren und Sicherheitskontrollen etabliert, weisen jedoch
               erhebliche Schwächen auf, wie etwa die Benachteiligung bestimmter Gruppen (z. B.
               die Zuordnung negativer Emotionen zu schwarzen Personen) [15]. Zudem basiert die Evidenzgrundlage solcher
               Systeme auf umstrittener psychologischer Forschung, die durch die KI-Industrie
               unkritisch übernommen wurde [15]
               [16]. Die Frage, was eine KI tatsächlich misst
               und welche wissenschaftlichen Belege dahinterstehen, ist daher von hoher
               Relevanz, insbesondere im Bereich komplexer psychischer Vorgänge und erfordert,
               dass die Psychiatrie ihr Wissen und Expertise hier aktiv miteinbringt. Der
               potenzielle Einsatz von KI für die Diagnose psychischer Störungen durch Sprach-
               und Stimmanalysen oder Bildanalysen wirft ernste Fragen zum Missbrauch und zum
               Vertrauen in solche Technologien auf, kann aber gleichzeitig das Potential
               haben, bisherige Fehldiagnosen, die ebenfalls erhebliche Folgen haben können, zu
               verhindern.
            
            2. Vernetzt
            
            Ein entscheidender Schritt zur Verbesserung der
               medizinischen Versorgung ist die vernetzende Natur von Digital
               Health-Technologien, die darauf abzielt, verschiedene Akteure und Systeme
               miteinander zu verbinden. Dies umfasst die Integration von mobilen
               Gesundheits-Apps, elektronischen Gesundheitsportalen,
               Gesundheitsdatenplattformen sowie traditionellen medizinischen Therapien (z. B.
               medikamentöse Therapien, Psychotherapie) in eine interoperable
               Gesundheitslandschaft. Beispiele hierfür sind auch
               Online-Selbsthilfe-Plattformen, die von PatientInnen als hilfreich erlebt werden
               [17]. Ein zentrales Problem in der
               aktuellen Versorgung besteht in der Fragmentierung des Versorgungssystems, was
               in der Praxis zu bürokratischen Hürden, komplizierten Strukturen und einer
               Diffusion von Zuständigkeiten führt. Hier könnten
               Digital-Health-Strategien, wie ethisch und partizipativ gestaltete
               Plattformen sowie die elektronische PatientInnenakte, helfen, bestehende Hürden
               abzubauen.
            
            Darüber hinaus könnten digitale Tools flexible Kontaktangebote
               ermöglichen, die einen niedrigschwelligen Zugang für schwer erreichbare Gruppen
               ermöglichen können, etwa durch Messaging, Telekonsultationen und einfache
               Terminvereinbarungen [18]. Beispiele wie die
               GBA-Richtlinie zur ambulanten Komplexbehandlung (KSVPsych-RL) bieten Potenzial
               für digitale Tools, um Informationsflüsse, Fallbesprechungen und
               Koordinationsaufgaben digital zu unterstützen und zu erleichtern.
            
            3. Präzise und personalisiert
            
            Durch Fortschritte in
               Analysemethoden, insbesondere im Bereich des maschinellen Lernens (ML), sowie
               die verbesserte Verfügbarkeit und Qualität vorhandener Daten [19], wird zunehmend das Potenzial einer
               personalisierten und maßgeschneiderten Medizin hervorgehoben
               („Präzisionsmedizin“). ML entwickelt sich zu einem wichtigen Instrument für
               Echtzeitvorhersagen sowie für die personalisierte Therapieplanung und
               Entscheidungsunterstützung [20]
               [21]. Anwendungsgebiete umfassen etwa den
               personalisierten Einsatz von Medikamenten oder Psychotherapie [22]. In Großbritannien wurden Chatbots
               erfolgreich zur Steuerung psychosozialer Angebote eingesetzt, was die
               Zuweisungsraten insbesondere bei unterversorgten Gruppen wie LGBTQI* Personen
               erhöhte [23]. Diese Technologien ermöglichen
               ein umfassenderes Bild von PatientInnen und deren Kontexten und bieten Chancen,
               die Versorgung bisher benachteiligter Gruppen zu verbessern.
            
            Gleichzeitig
               werfen diese Entwicklungen wichtige ethische und psychologische Fragen auf. In
               der synthetischen Biologie, einem Bereich, der Organismen durch das Hinzufügen
               neuer Fähigkeiten oder unnatürlicher Moleküle neugestaltet [24], beginnen die Grenzen zwischen Technologie
               und Biologie zunehmend zu verschwimmen. Weiterhin besteht Uneinigkeit bzgl. der
               Reliabilität der vorhandenen Biomarker in der Psychiatrie [21]. Ein weiteres Beispiel ist
               „Neuralink“, ein Brain-Computer-Interface, das darauf abzielt,
               die Heilung von neurologischen Erkrankungen wie Tetraplegie zu unterstützen,
               aber auch langfristig eingesetzt werden soll um die kognitiven Fähigen gesunder
               Menschen zu „optimieren“. Während diese Technologien zweifellos
               vielversprechende medizinische Möglichkeiten eröffnen, rufen sie auch tief
               verwurzelte Ängste hervor, die in der Psychiatrie bekannt sind. Die Vorstellung
               einer zunehmenden Verschmelzung von Mensch und Technik kann bei einigen Menschen
               Befürchtungen wecken, die denen ähneln, die PatientInnen mit psychotischen
               Störungen äußern – wie die Angst, mit einem Chip implantiert oder manipuliert zu
               werden. Daher ist es von zentraler Bedeutung, dass wir bei der Weiterentwicklung
               und Implementierung solcher Technologien nicht nur ihre potenziellen
               medizinischen Vorteile betrachten, sondern auch die psychologischen und
               ethischen Implikationen sorgfältig abwägen und unser klinisches Wissen im
               Bereich Psychiatrie einbringen. Es bleibt eine wichtige Aufgabe, einen
               verantwortungsvollen Umgang mit diesen Technologien zu finden z. B. hinsichtlich
               Fragen von Einwilligung, Autonomie, Zugang und Gerechtigkeitsfragen sowie
               persönlicher Identität [25].
            
            4. Immersiv
            
            Die zunehmende Nutzung immersiver digitaler
               Technologien im Gesundheitswesen, wie der Einsatz von
               Virtual-Reality-Technologien für therapeutische Anwendungen, virtuellen Coaches
               und Bots [23]
               [26], erfordert eine sorgfältige Betrachtung. Vielversprechende
               Einsatzbereiche finden sich etwa in der Behandlung von Angstsymptomen, wie
               sozialen Ängsten bei Schizophrenie [27], oder
               in der Cue-Exposition bei Personen mit Alkoholabhängigkeit [28]. Hier können VR-gestützte Trainings in
               simulierten Umgebungen, beispielsweise in einer Bar, dazu beitragen, die
               Abstinenz zu fördern. Solche Technologien bieten die Möglichkeit, schwer
               erreichbare PatientInnengruppen zu unterstützen und bisher aufwändige
               Expositionsübungen mit geringerem Aufwand ambulant
               umzusetzen.
            
            Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass PatientInnen durch
               virtuelle Erlebnisse eine Entfremdung von der realen Welt erfahren, was Bedenken
               hinsichtlich eines möglichen „Verlusts des Bezugs“ zur physischen Umgebung
               aufwirft [5]
               [29]. Die Herausforderung liegt darin, die Vorteile immersiver
               Technologien zu nutzen und gleichzeitig die Verbindung zu realen Erfahrungen zu
               bewahren oder sogar zu stärken, indem Ressourcen gezielt eingesetzt werden. Es
               erfordert eine sorgfältige Abwägung, um sicherzustellen, dass wir die
               Möglichkeiten digitaler Innovationen nutzen, ohne dabei die wesentlichen
               menschlichen Erfahrungen und Interaktionen zu vernachlässigen, die für eine
               wirksame psychiatrische Versorgung von zentraler Bedeutung sind.
            
            Ich
               möchte dazu ermutigen, sich intensiv mit den Entwicklungen im Bereich Digital
                  Health in der Psychiatrie auseinanderzusetzen. Die fortschreitende
               Digitalisierung eröffnet zwar neue therapeutische Möglichkeiten, sie stellt uns
               jedoch auch vor erhebliche ethische und gesellschaftliche Herausforderungen. Es
               ist daher unerlässlich, dass wir unsere digitalen Kompetenzen weiter ausbauen,
               um PatientInnen fundiert beraten und aufklären zu können. Gleichzeitig sollten
               wir aktiv an den ethischen und gesellschaftlichen Debatten teilnehmen bzw. diese
               anstoßen, die diese Technologien begleiten, um sicherzustellen, dass sie zum
               Wohle aller eingesetzt werden. Darüber hinaus ist sorgfältige Forschung
               notwendig, die inter- und transdisziplinär angelegt sein sollte und die
               Betroffenen eng partizipativ einbezieht. Nur so können wir die tatsächlichen
               Potenziale und Risiken dieser Technologien vollständig verstehen und sie in
               einer Weise nutzen, die den hohen Ansprüchen der psychiatrischen Versorgung
               gerecht wird. Die Zukunft der Psychiatrie wird auch davon abhängen, wie gut wir
               die digitalen Entwicklungen mit den menschlichen Bedürfnissen in Einklang
               bringen können.