Live-Übertragungen haben in Radio und Fernsehen seit jeher ihren festen Platz. Legendär ist etwa die
TV-Live-Übertragung der Fußballweltmeisterschaft der Herren im Jahr 1954 in Bern. Rund 90 Millionen Menschen
sahen zu, wie Deutschland im Endspiel schließlich Ungarn 3:2 besiegte und Weltmeister wurde. Um ein
Vielfaches höher war das öffentliche Interesse an der ersten Mondlandung im Juli 1969. Hier verfolgten rund
900 Millionen Menschen weltweit die Live-Übertragung der Landung der Apollo 11 an den Fernsehgeräten.
Alltägliche Live-Übertragungen in Radio und Fernsehen, etwa von Bundesligaspielen und Bundestagsreden, haben
natürlich deutlich geringere Reichweiten.
In Ergänzung zu Live-Übertragungen in Radio und Fernsehen hat sich inzwischen auch im Internet die
Live-Übertragung als sogenanntes Livestreaming oder Live-Casting etabliert. Die bislang
erfolgreichsten Online-Livestreams verzeichnen Zuschauer*innenzahlen im Millionenbereich. Hier wird
beispielsweise live verfolgt, wie digitale Games gespielt werden. Es gibt zudem Livestreams, in denen
unterschiedliche Themen besprochen und auch sexualbezogene Inhalte diskutiert werden. Im Unterschied zu
vorproduzierten On-Demand-Videos, die dauerhaft zur Verfügung stehen und zu selbst gewählten Zeitpunkten
individuell abrufbar sind, haben Live-Übertragungen einen stärkeren Erlebnischarakter. Sie bringen
Social-Media-Personalitys und ihre Fans zeitgleich zusammen, erlauben den wechselseitigen Austausch per
Chat, vermitteln ein Gefühl von sozialer Gemeinschaft und Exklusivität, da man in Echtzeit dabei ist, wenn
bestimmte Informationen erstmals geteilt werden. Livestreams werden daher nicht nur für die Übertragung
zeitkritischer sportlicher, politischer oder sozialer Events genutzt, sondern z. B. auch für
wissenschaftliche Konferenzen, Produktvorstellungen, Online-Shopping-Shows oder Frage-Antwort-Runden von
Fachleuten und Influencer*innen. Die Dauer von Livestreams variiert zwischen wenigen Minuten, mehreren
Stunden bis zu mehreren Tagen und sogar Jahren. So stellen manche Streamende Rekorde auf, indem sie die
Kamera in ihrem Wohnumfeld über einen sehr langen Zeitraum ununterbrochen laufen lassen und sich auch nachts
im Schlaf zeigen.
Das Konzept der Online-Live-Übertragung des Alltags ist indessen nicht neu. Noch vor der Social-Media-Ära
betrieb die US-amerikanische Studentin Jennifer Ringley über eine eigene Website von 1996 bis 2003 ihre
weltweit beachtete „JenniCam“ (https://de.wikipedia.org/wiki/JenniCam). Man konnte die Protagonistin stundenlang beim Arbeiten am
PC und beim Schlafen beobachten. Obwohl (oder weil) der Stream überhaupt nicht effekthascherisch inszeniert
war, sorgten die Szenen, in denen sie die Kleidung wechselte oder Sex mit ihrem Freund hatte, für die größte
Aufmerksamkeit. Anfangs wurde die „JenniCam“ als Hobby-Projekt betrieben, am Ende verkaufte Ringley
Abonnements für ihren Stream.
Online-Videos – und insbesondere das Livestreaming – erfreuen sich wachsender Beliebtheit in der
Medienlandschaft ([Goldhammer et al. 2023]). Die JIM-Studie 2023 zeigt,
dass 13 % der Jugendlichen in Deutschland die Livestreaming-Plattform Twitch (https://www.twitch.tv; im Besitz von Amazon) nutzen, davon 4 % täglich
([mpfs 2023]). Dabei ist das Livestreaming bislang stark männlich
geprägt: So sind drei Viertel der Streamenden auf Twitch männlich ([Goldhammer
et al. 2023]), was damit in Zusammenhang steht, dass die Plattform in der ebenfalls männlich
dominierten Gaming-Szene verankert ist. Viele Twitch-Streamer*innen zeigen sich beim „Zocken“ von
Digitalspielen.
Der vorliegende Praxisbeitrag setzt die in Heft 1/2018 der „Zeitschrift für Sexualforschung” begonnene Serie
zur sexualbezogenen Online-Fortbildung für Fachkräfte fort ([Döring
2018a]). Nach YouTube und Webvideos ([Döring 2018b]), Webinaren
([Döring 2018c]), Podcasts ([Döring 2018
d]), Blogs ([Döring 2019]), dem Mikroblogging-Dienst Twitter
bzw. X ([Döring 2021]), der Kurzvideoplattform TikTok ([Döring 2022]) und der Foto- und Videoplattform Instagram ([Döring 2024]) geht es nun um das Online-Livestreaming und dessen Bedeutung
für Fachkräfte, die im Bereich der Sexuellen Bildung, Beratung und Therapie sowie der Sexualforschung tätig
sind. Zunächst werden die Besonderheiten von Livestreaming beschrieben und es wird der Forschungsstand zu
Livestreams dargestellt, bevor es dann um die sexualbezogenen Anwendungen geht.
Livestreaming
Zur Beschreibung von Livestreaming sollen im Folgenden kursorisch verschiedene Plattformen, Streamer*innen,
Zuschauer*innen und Inhalte behandelt werden.
Streaming-Plattformen
Die hier fokussierten Livestreaming-Dienste zum Mitmachen sind zu differenzieren von Video- und
Musikstreaming-Diensten, auf denen kommerziell vorproduzierte Inhalte zu selbst gewählten Zeitpunkten
abrufbar sind (z. B. Netflix, Spotify). Das Streaming hat dort in der Regel keine Live-Komponente, sodass
treffender von Video-on-Demand oder Musik-on-Demand zu sprechen ist. Auch lassen sich auf Netflix keine
eigenen Inhalte hochladen.
Anders ist es auf Social-Media-Plattformen, die definitionsgemäß niedrigschwellige Mitmach-Möglichkeiten
bieten. So kann man inzwischen auf allen führenden Social-Media-Plattformen einen eigenen Livestream
ausstrahlen (z. B. Facebook Live, YouTube Live, Instagram Live, TikTok Live). Zudem existieren dezidierte
Livestreaming-Plattformen (z. B. Twitch, Periscope, YouNow, Livestream, BIGO Live, Mixer). In Deutschland
ist Twitch führend unter den Livestreaming-Plattformen. Das ist unter anderem daran erkennbar, dass
bislang im Rahmen der bevölkerungsrepräsentativen JIM-Studie zur Online-Nutzung der 14- bis 19-Jährigen
in Deutschland lediglich die Nutzung der Streaming-Plattform Twitch erfasst wird ([mpfs 2023]). In der Presse und in Public-Relations-Materialien werden
immer wieder Empfehlungslisten der besten Livestreaming-Plattformen mit ihren jeweiligen Vor- und
Nachteilen veröffentlicht (z. B. [Ann 2022]). In der digitalen
Sexarbeit sind Live-Übertragungen per Webcam (sog. Live Sex Cams) seit den 1990er-Jahren etabliert.
Aktuell erfolgreiche Social-Media-Plattformen für NSFW (Not Safe for Work)- bzw. Erotik-Content bieten
ebenfalls Live-Übertragungen an (z. B. OnlyFans).
Das Online-Livestreaming hat in Zeiten der COVID-19-Pandemie einen Boom erlebt. Denn die aufgrund von
Distanz- und Hygiene-Regeln ausfallenden Offline-Events wurden teilweise durch Online-Live-Events
ersetzt. Das betrifft beispielweise Konzerte, Tanz-Partys und Clubnächte. Geselligkeit im Livestream
diente als Ersatz für nicht-mediale Formen des sozialen Zusammenseins. Darüber hinaus sind Livestreams
einfach auch Unterhaltungsangebote, die konzentriert am Bildschirm verfolgt oder oftmals auch einfach im
Hintergrund laufen gelassen werden, ähnlich wie Radio- oder Fernsehsendungen, um einen gewissen
Unterhaltsfaktor zu haben oder sich nicht allein zu fühlen.
Wichtig ist zu beachten, dass Livestreams nicht selten aufgezeichnet werden und dann im Nachgang auch als
On-Demand-Videos zur Verfügung stehen. Dies geschieht durch die Streamer*innen selbst, die z. B. auf
Twitch Aufzeichnungen ihrer Livestreams in einem Archiv bereitstellen. Darüber hinaus schneiden auch
Zuschauer*innen Livestreams der von ihnen verfolgten Influencer*innen mit und veröffentlichen diese
ausschnittweise mit eigenen Kommentaren als neuen Content, etwa in Form sogenannter Reaction-Videos. Wenn
also beispielsweise ein*e Twitch-Streamer*in mitten in der Nacht live geht, vor einer kleinen Gruppe von
Zuschauer*innen sich betrunken zeigt und private Details erzählt, werden Mitschnitte dieses Streams
typischerweise am nächsten Tag auf YouTube, Instagram und Tiktok geteilt und kommentiert und womöglich
auch von der Presseberichterstattung aufgegriffen.
Streamer*innen
Die erfolgreichsten Streamer*innen auf Twitch, gemessen an der Zahl ihrer Follower*innen, werden unter
anderem auf Streams Charts (https://streamscharts.com/), auf
Twitch Metrics (https://www.twitchmetrics.net/) und auf
Social Blade gelistet (https://socialblade.com/twitch/). Es ist zu beachten, dass die Social-Media-Welt großer Dynamik
unterliegt und sich daher auch die Rankings der populärsten Livestreamer*innen schnell ändern können.
An der Spitze der Top-Twitch-Streamer*innen stand Anfang 2024 Richard Tyler Blevins, ein
US-amerikanischer Webvideoproduzent und professioneller E-Sportler im Alter von Anfang 30 Jahren. Unter
seinem Online-Namen ninja erreichte er auf Twitch eine Fan-Gemeinde von 19 Millionen Personen
(https://www.twitch.tv/ninja), auf YouTube sogar 24
Millionen (https://www.youtube.com/@Ninja). Zu seinem
Erfolgsgeheimnis gehört, dass er auf vielen Social-Media-Plattformen parallel aktiv ist: neben Twitch und
YouTube auch auf Facebook, Twitter, Instagram und TikTok. Zudem spielt er auf sehr hohem, professionellem
Niveau eine Reihe populärer Games wie Fortnite, Valorant und Warzone. Als professioneller E-Sportler, der
zu Gaming-Wettkämpfen antritt, kann er für Gaming-Hobbyist*innen ein Vorbild und eine Inspiration sein.
Sein erfolgreichstes YouTube-Video stammt aus dem Jahr 2018, wurde mehr als 50 Millionen Mal angeschaut
und zeigt seine Spielerfolge in Fortnite. Als E-Sportler und Streamer hat er lukrative Werbeverträge (z.
B. mit Adidas) und tritt auch in TV-Sendungen auf.
Unter den Frauen im Livestreaming steht die Deutsche Isabell Schneider alias HoneyPuu aktuell
international an der Spitze. Auf Twitch folgen ihr rund eine Million Menschen (https://www.twitch.tv/honeypuu), womit sie unter den Top
30 rangiert. Auf Platz 1 katapultierte sie sich über besonders lange Abrufzeiten (https://streamscharts.com/channels?lang=de&type=female&platform=twitch): In der dritten
Januarwoche 2023 beispielsweise streamte sie 60 Stunden. Eine ähnlich lange Arbeitswoche absolvierten
auch andere Streamer*innen. Doch keine andere Streamerin wurde so lange angeschaut, wie eine auch über
Twitter verbreitete Statistik von Streams Charts zeigte (https://twitter.com/streamscharts/status/1617678003177426945). Die 24-Jährige ist in der
Gaming- und Twitch-Szene gut vernetzt ([Lux 2023]). Sie spielt vor der
Kamera oft gemeinsam mit bekannten Streamer*innen und dreht auch die allseits beliebten Reaction-Videos.
Neben Twitch bespielt sie zahlreiche weitere Social-Media-Plattformen, etwa YouTube (https://www.youtube.com/@HoneyPuu), Instagram (https://www.instagram.com/honeypuu) und TikTok (https://www.tiktok.com/@honeypuu), wo ihr jeweils rund
eine halbe Million Menschen folgen.
Streamer*innen leben davon, ihr Gesicht und ihren Körper vor der Kamera zu zeigen. Dabei werden häufig
digitale Filter eingesetzt, die das Aussehen optimieren sollen. Gleichzeitig gibt es einen in Japan
entstandenen und mittlerweile globalen Trend zu virtuellen Streamer*innen (kurz: VStreamer*innen). Hier
treten die Streamer*innen verkörpert als Avatare (animierte computergenerierte Charaktere) auf. Die
Avatare werden typischerweise sehr individuell und kreativ gestaltet. Mimik und Gestik der Streamer*innen
werden live auf den animierten Avatar übertragen. Neben virtuellen Streamer*innen gibt es auch virtuelle
YouTuber*innen (kurz: VTuber*innen) und virtuelle TikToker*innen (kurz: VTikToker*innen). In der
Genderforschung befasst man sich u. a. mit der Gestaltung der Avatare, die mehrheitlich wie hyperfeminine
Anime-Mädchen aussehen ([Brett 2022]). Eine neue Entwicklung besteht
darin, dass virtuelle Streamer*innen zum Einsatz kommen, die beim Live-Auftritt nicht mehr von einem
Menschen, sondern von einer künstlichen Intelligenz gesteuert werden, also nach entsprechender
Implementierung durch einen Menschen dann autonom live Games spielen und mit dem Publikum chatten ([Xiang 2023]).
Interessant sind schließlich auch Überschneidungen zwischen den Medienwelten. So gelten Soziale Medien
oftmals als Konkurrenz zu den klassischen elektronischen Massenmedien Radio und Fernsehen. Doch
erfolgreiche Entertainer*innen sind inzwischen sowohl im TV als auch auf Sozialen Medien zu sehen. Ein
Beispiel ist Jens Knossolla, genannt Knossi, der als Entertainer zuerst in TV-Sendungen auftrat,
bevor er mit aktuell rund 2.4 Millionen Follower*innen zu einem der erfolgreichsten deutschen
Streaming-Stars wurde (https://www.twitch.tv/therealknossi). Obwohl der bald 40-jährige Knossi zur Elterngeneration
der heutigen Jugendlichen gehört, kommt er gut an. Er selbst bezeichnet sich als „König des Internet“ und
tritt üblicherweise mit einer Pappkrone auf dem Kopf auf. Im Dezember 2023 mietete Knossi den Container
des Big-Brother-Formats von RTL und organisierte „Big Brother – Knossi Edition“. Diverse andere
Twitch-Streamer*innen und Social-Media-Persönlichkeiten verbrachten 57 Stunden im Container vor laufenden
Kameras. Das Format fand bei RTL über zwei Millionen Zuschauer*innen, auf Twitch dagegen fast neun
Millionen ([Orlean 2023]). Knossi reüssierte mit diesem Format also
gleichzeitig als TV-Moderator und Livestreamer und personifiziert damit die zunehmende Konvergenz
zwischen Massenmedien und Sozialen Medien.
Ingesamt ist festzustellen, dass in der Welt des Livestreamings viele Einzelpersonen aktiv sind; seien es
Hobbyist*innen mit geringen Reichweiten und Umsätzen oder Profis mit bis zu siebenstelligen
Follower*innen-Zahlen und entsprechenden Jahresumsätzen. Medienorganisationen spielen im
Online-Livestreaming in Deutschland bislang eine untergeordnete Rolle.
Streaming-Zuschauer*innen
Gesamtstatistiken zu den Zuschauer*innen von Livestreaming sind kaum verfügbar, da sich die Streams über
viele verschiedene Plattformen verteilen. Sicher ist jedoch, dass das Streaming-Publikum deutlich jünger
ist als beispielsweise das TV-Publikum. Die Geschlechterverteilung hängt stark von der Plattform ab. So
ist Twitch durch die Verankerung in der Gaming-Szene stärker männlich dominiert, während das bei anderen
Plattformen (z. B. YouNow) nicht der Fall ist.
Mit Blick auf die Zuschauer*innen von Online-Livestreams ist von besonderem Interesse, welche
Beteiligungsmöglichkeiten sie haben. In erster Linie können sie den Streams zuschauen und zuhören.
Darüber hinaus können sie begleitend zum Stream mit den jeweiligen Streamer*innen sowie mit anderen
Zuschauer*innen chatten, also schriftliche Kommentare abgeben und Fragen stellen. Diese Chats werden
normalerweise moderiert, etwa um Verletzungen der Community-Regeln (z. B. Online-Hassrede) zu
sanktionieren und störende User*innen zu blockieren oder zu bannen.
Darüber hinaus haben Zuschauer*innen die Möglichkeit, ihre Lieblings-Streamer*innen auf Twitch oder
TikTok finanziell zu unterstützen, indem sie ein kostenpflichtiges Kanal-Abonnement abschließen und/oder
während des Streams geldwerte virtuelle Geschenke senden. Live-Geschenke werden für alle im Stream
Anwesenden angezeigt. Oftmals bedanken sich die Streamenden dann mündlich und namentlich während des
Streams für größere eingehende Geschenke. Die Live-Geschenke sind daher eine Möglichkeit für Fans,
gegenüber dem Streaming-Star in Erscheinung zu treten und sich von anderen Fans abzuheben. Streamer*innen
können ihr Live-Publikum auch ausdrücklich dazu animieren, Likes und Geschenke zu senden, etwa indem sie
versprechen, noch eine weitere Stunde zu streamen, sofern innerhalb der nächsten fünf Minuten eine
bestimmte Mindestzahl an Likes oder Geschenken eingeht. Die Geschenke-Funktion ist nur für volljährige
Nutzer*innen vorgesehen. Bei Live-Sex-Streams können die Zuschauer*innen durch ihre Coins und Kommentare
in das Geschehen eingreifen und die Darsteller*innen zu bestimmten Aktionen vor der Kamera animieren. Bei
Game-Streams kann das Publikum beispielsweise über Abstimmungen mit beeinflussen, welchen Weg die
Streamer*innen im Spiel verfolgen sollen.
Streaming-Inhalte
Einen Überblick über die verschiedenen Themenbereiche im Livestreaming bieten die Inhaltskategorien von
Twitch (https://www.twitch.tv/directory/), denen die
einzelnen Streaming-Kanäle zugeordnet sind. Dabei geben die jeweils gleichzeitig anwesenden
Live-Zuschauer*innen einen Hinweis auf die Beliebtheit der Themenbereiche. Exemplarisch werden im
Folgenden Zuschauer*innenzahlen einer Samstagnacht im Januar 2024 dokumentiert. Da Twitch eine
international genutzte Plattform ist, sind rund um die Uhr Zuschauer*innen präsent, wechseln aber im
Tagesverlauf nach regionalen Zeitzonen. Da genau wie im Fernsehen die Abendzeit die Prime Time ist,
werden auch Livestreaming-Angebote überwiegend am Feierabend angeschaut.
Entsprechend der Verankerung der Plattform Twitch in der Gaming-Szene ist „Spiele“ (https://www.twitch.tv/directory/gaming) die größte
und wichtigste Inhaltskatagorie. Sie zerfällt in diverse Unterkategorien nach Spielgenres (z. B. Shooter,
Rollenspiele, Rennspiele, aber auch Brettspiele) und einzelnen Spielen (Mindcraft, Counter-Strike,
Fortnite usw.). Bei den einzelnen Spielen liegen die Zuschauer*innenzahlen im sechsstelligen Bereich, z.
B. summieren sich die live anwesenden Zuschauer*innen aller Fortnite-Kanäle auf rund 200 000 und die
aller Counter-Strike-Kanäle auf 100 000. In der mit „Spiele“ verwandten Kategorie „Esports“ (https://www.twitch.tv/directory/esports) geht es
um Gaming-Wettkämpfe und Content von professionellen E-Sportler*innen. Auch hier sind für die einzelnen
Spiele Zuschauer*innenzahlen im sechsstelligen Bereich beobachtbar, z. B. sind es bei „League of Legends“
rund 200 000.
Der Kategorie „Musik“ (https://www.twitch.tv/directory/music) sind Kanäle zugeordnet, auf denen Musiker*innen und DJs
ihre Künste zeigen. Hier gibt es vergleichweise wenige Kanäle. Diese haben Zuschauer*innenzahlen im
unteren zwei- bis dreistelligen Bereich. In der Kategorie „Kreative Ideen“ (https://www.twitch.tv/directory/creative) wird
live vor der Kamera gezeichnet und gemalt, programmiert, gekocht, genäht, gestrickt und gebastelt. Auch
hier sind Zuschauer*innenzahlen im zwei- bis dreistelligen Bereich typisch.
Die Kategorie „IRL“ (engl. in real life, dt. im realen Leben) ist eine Sammelkategorie, die sehr
vielfältigen Content vereint (https://www.twitch.tv/directory/irl). Unterrubriken sind „Politik“, „Wissenschaft und Technik“,
„Fitness“, „Reisen und Outdoor-Aktivitäten“, „Besondere Events“, „Talkshows und Podcasts“ sowie „Just
Chatting“. Unter „Just Chatting“ werden alle Kanäle vereint, in denen vor der Kamera gesprochen wird,
hier werden Zuschauer*innenzahlen im mittleren sechsstelligen Bereich erzielt. Zum Just-Chatting-Bereich
gehört beispielsweise der preisgekrönte Kanal „Marmeladenoma“ (https://www.twitch.tv/marmeladenoma), auf dem eine
Großmutter jeden Samstag in gemütlicher Atmosphäre live Gedichte und Märchen vorliest. Darüber hinaus
sind diverse andere IRL-Rubriken eher weniger populär. Wenn beispielsweise in der Rubrik „Wissenschaft
und Technik“ ein Roboter ausprobiert wird, schauen fünf Personen live zu. Und wenn in der Rubrik
„Fitness“ ein Kraftsportler seine Beinübungen zeigt, schaut eine Person zu.
Doch innerhalb der Rubrik „IRL“ gibt es neben „Just Chatting“ noch zwei Rubriken, die zwar in ihrer
Beliebtheit nicht an „Gaming“ herankommen, aber doch immerhin fünfstellige Zuschauer*innenzahlen
erreichen. Dazu gehört „ASMR“ (https://www.twitch.tv/directory/category/asmr). Mit ASMR (engl. autonomous sensory meridian,
dt. autonome sensorische Meridianreaktion) ist ein angenehmes, kribbelndes Gefühl auf der Haut gemeint,
das sich typischerweise vom Hinterkopf über den Nacken bis in den Schulter- und Rückenbereich ausbreitet.
Es wird als wohltuend und beruhigend erlebt und kann beim Einschlafen helfen. Ausgelöst wird ASMR bei
einem Teil der Menschen unter anderem durch bestimmte Geräusche wie Flüstern, Lecken, Schlucken, Knistern
oder Reiben. Die ASMR-Livestreaming-Kanäle auf Twitch liefern eine solche Geräusch-Kulisse, oft in
sexualisierter Inszenierung präsentiert von leicht bekleideten jungen Frauen unter Titeln wie „ASMR
Mouthsounds Only“, „ASMR Massage“ oder „ASMR Earlicks and Kisses“.
Neben „ASMR“ gibt es innerhalb der Sammelkategorie „IRL“ noch eine weitere sexualbezogene Unterkategorie,
die ebenfalls fünfstellige Zuschauer*innenzahlen verzeichnet, nämlich „Pools, Whirlpools und Strände“
(https://www.twitch.tv/directory/category/pools-hot-tubs-and-beaches). Der Kontext von
Schwimmbad, Whirlpool oder Strand gibt dabei den Vorwand, unter dem sich hauptsächlich junge Frauen in
sexualisierter Form leicht bekleidet präsentieren. Auch Dehnübungen und Yoga-Posen werden vorgeturnt,
offenbar aber weniger unter gesundheitlichen als unter erotischen Vorzeichen. Die Nutzungsregeln von
Twitch verbieten Nacktheit und sexuell anzügliche Inhalte, was Kontroversen über die Legitimität
erotischer Streams auslöste. Durch die im Mai 2021 eingeführte Kategorie „Pools, Hot Tubs, & Beaches“
hat Twitch die Möglichkeit eröffnet, Streams in Badebekleidung anzubieten.
Sexualbezogene Nutzung von Livestreaming
Innerhalb der Streaming-Forschung mehren sich die Studien, die sich mit sexualbezogener Nutzung von
Livestreaming befassen ([Ruberg und Brewer 2022]). Dabei lassen sich vier
Themenschwerpunkte ausmachen: Sexarbeit, sexuelle Gewalt, queere Community sowie Sexuelle Bildung.
Sexarbeit
Livestreams werden für digitale Sexarbeit genutzt, etwa für explizite Live-Sex-Shows vor der Kamera oder
auch für erotische Tanz-Vorführungen oder sexuellen ASMR-Content. Dabei sind mehrheitlich Frauen als
Content-Creator*innen aktiv und können teilweise sehr hohe Umsätze generieren. Die digitale Sexarbeit
erlaubt ihnen dabei ein selbstständiges und vergleichsweise sicheres Arbeiten.
Die wachsende Sichtbarkeit digitaler Sexarbeit hat zu kontroversen Debatten geführt. So verbieten viele
Social-Media-Plattformen jegliche sexuelle Inhalte. Der Erfolg von OnlyFans basiert u. a. darauf, dass es
eine der wenigen Social-Media-Plattformen ist, die NSFW-Content zulassen. Als im Jahr 2021 OnlyFans
überraschend ankündigte, sexuelle Inhalte nun auch zu verbieten, stand die Existenz der dort tätigen
Sexarbeitenden auf dem Spiel ([Lawlor et al. 2024]). Die starke
Abhängigkeit der Content-Creator*innen von den Plattformen und ihren Regeln wurde deutlich. OnlyFans
verwarf den Plan, sexuellen Content zu verbieten.
Eine Analyse der Nutzungsbedingungen von Twitch ([Ruberg 2020]) ergab,
dass die Regeln zu sexuellem Content widersprüchlich und doppelmoralisch sind, da sie es typischerweise
Männern erlauben, mit sexualisierten Spielen Geld zu verdienen. Als anstößig empfunden, problematisiert
und teilweise verboten werden dagegen sexualisierte Inhalte, mit denen Frauen auf Twitch Geld verdienen,
etwa in den Rubriken „ASMR“, „Pools, Hot Tubs, & Beaches“ oder auch in „Gaming“, und die als „Titty
Streamers“ abgewertet werden ([Ruberg et al. 2019]).
Hier gibt es eine Strömung in der Forschung und im sexualpolitischen Aktivismus, die sich für die Rechte
von digitalen Sexarbeiter*innen einsetzt. Auf der anderen Seite wird die Position vertreten, dass
sexualisierte Darstellungen von Frauen in Livestreams, auch wenn sie selbst produziert werden und für die
Produzentinnen selbst lukrativ sind, ein negatives Frauenbild vermitteln und daher unterbunden werden
sollten (z. B. [Anciones-Anguita und Checa-Romero 2024]).
Sexuelle Gewalt
Sexuelle Gewalt tritt in vielen Offline- und Online-Kontexten auf, so auch im Kontext von Livestreaming.
Zu digitalen sexuellen Gewaltformen zählen dabei beispielsweise sexuelle Bedrohungen und Beleidigungen,
die im Chat während Livestreams ausgesprochen werden, oder die Produktion von Deep-Fake-Pornos, die
Streamer*innen viktimisieren ([Döring 2023]). Das letztgenannte
Problem wurde offensichtlich, als der bekannte Twitch-Streamer Brandon Ewing, Internet-Name
Atrioc, am 26. Januar 2023 in einem Stream kurz seinen Computerbildschirm zeigte und bei den
geöffneten Browsertabs zu erkennen war, dass er eine Porno-Website geöffnet hatte, die illegale
Deep-Fake-Pornos von Streamerinnen vermarktet. Der Aufschrei in der Szene war zu Recht laut. Auch die
betroffenen Streamerinnen meldeten sich zu Wort und prangerten das Ausmaß an Gewalt und ungewollter
Sexualisierung von Frauen in der Szene an ([Diederich 2023]). Atrioc
veröffentlichte zusammen mit seiner Ehefrau ein tränenreiches Entschuldigungsvideo. Der Betreiber der
Porno-Website versicherte, die von ihm ohne Wissen und Einverständnis der betroffenen Streamerinnen
produzierten Deep-Fake-Pornos gelöscht zu haben. Doch das strukturelle Problem digitaler und
bildbasierter Gewalt gegen Frauen innerhalb und außerhalb der Streaming-Szene ist damit noch lange nicht
behoben.
Die kriminologische Fachliteratur dokumentiert zudem die Vermarktung von Livestreams von sexuellem
Kindesmissbrauch („live streaming of child sexual abuse“, kurz: LS-CSA; „child sexual abuse live
streaming“). Erste Forschungsübersichten liegen vor (z. B. [Christensen und
Woods 2024]; [Drejer et al. 2024]), die Tatumstände
beschreiben und Präventionsansätze diskutieren.
Queere Community
Digitale Plattformen werden in vielfältiger Weise von queeren Communitys für Informationsaustausch und
Gemeinschafsbildung genutzt. Das gilt auch für das Livestreaming. So gibt es Forschung, die
beispielsweise aufzeigt, dass für schwule Männer in China kommerzielle Sex-Livestreams eine wichtige
Rolle für die Identitätsvalidierung spielen, und gleichzeitig erklärt, wie die Zuschauer sich behelfen,
seitdem das sexuelle Livestreaming in China verboten wurde ([Song
2022]). Eine andere Studie beschreibt die Erfahrungen des Livestreamings in Drag ([Persaud und Perks 2022]). Wieder eine andere Studie zeichnet nach, wie
zu Zeiten der Corona-Pandemie durch Twitch-Livestreams ein Raum für queere Geselligkeit geschaffen wurde
([Youngblood 2022]). Andere Arbeiten betonen, dass und wie LGBTQ +
-Streamer*innen alternative Selbstdarstellungen erproben ([Freeman und Wohn
2020]).
Im Jahr 2023 wurde die Streamerin Pia Scholz alias Shurjoka (https://www.twitch.tv/shurjoka) mit dem deutschen
Computerspielpreis ausgezeichnet (https://deutscher-computerspielpreis.de/chronik/pia-scholz-aka-shurjoka/). Dabei würdigte die
Jury ihr anhaltendes Engagement, Gaming mit politischer Aufklärung zu verbinden, insbesondere ihren
Einsatz für trans Personen und ihr Projekt #Wir4Queer. Die Auszeichnung wurde in der Gaming-Szene
kontrovers diskutiert, u. a. wurde infrage gestellt, ob Shurjoka überhaupt als Gamerin gelten kann, wenn
sie doch in ihren Livestream so viel redet. Dabei entfällt auch bei männlichen Gamern nicht selten ein
Großteil der Streaming-Zeiten auf das Chatten. Andere monierten, dass Shurjoka unsympathisch sei, wieder
andere sahen es als symptomatisch für die toxische Maskulinität in der Gaming-Szene an, dass eine
Streamerin, die sich für die queere Community einsetzt, abgewertet wird.
Sexuelle Bildung
Livestreams können genutzt werden, um sexuelle Bildungsangebote bereitzustellen. So zeigt eine Studie,
dass und wie Schulen in West-China professionellen Sexualkudeunterricht anbieten konnten, indem sie
Livestreaming nutzten ([Kaidbey et al. 2023]). Auch im
deutschsprachigen Raum sind Live-Übertragungen per Video möglich und sinnvoll, etwa im Bereich der
Online-Fortbildung von Fachkräften der Sexuellen Bildung. So bieten das Institut für Sexualpädagogik, pro
familia und die Aidshilfe inzwischen viele Fortbildungen im Live-Online-Format an, wofür dann z. B.
Plattformen wie Zoom genutzt werden.
Fachkräfte, wie ausgebildete Psychotherapeut*innen und Sexualpädag*innen, nutzen inzwischen ebenfalls
Livestreams, um ihre sexuellen Bildungsangebote der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, also
etwa ausgewählte Themen zu behandeln und Fragen von Zuschauer*innen zu beantworten. So ist der
Psychotherapeut Christian Hemschemeier auf YouTube (https://www.youtube.com/@Hemschemeier) und TikTok (https://www.tiktok.com/@liebeschip) vertreten und
streamt auch manchmal auf Twitch (https://m.twitch.tv/liebeschip). Ausgebildete Sexualpädagog*innen wie Benjamin Scholz von
„Jungsfragen“ (https://www.tiktok.com/@jungsfragenyt) oder Gianna Bacio (https://www.tiktok.com/@giannabacio) haben über ihre
TikTok-Präsenzen jederzeit die Möglichkeit, TikTok-Livestreams zu starten.
Peer-Aufklärer*innen wie Marie Joan (https://www.tiktok.com/@marieeejoan) und ihr Partner Fashion Steffen (https://www.tiktok.com/@fashionsteffen), denen auf
TikTok fast eine Million bzw. 75 000 Menschen folgen, bieten zuweilen Livestreams an. Sie gehen in ihren
On-Demand-Videos und Livestreams lebensnah und humorvoll auf Fragen der Beziehungsgestaltung und
sexuellen Paarkommunikation ein und können damit als positive Rollenmodelle wirken. Neben
Influencer*innen wie Marie und Steffen, die für ihren Aufklärungscontent bekannt sind, thematisieren auch
diverse andere Streamer*innen gelegentlich Themen mit Bezug zu Sexualität und Partnerschaft.