Schlüsselwörter Bipede Lokomotion - Gangjustierhilfe - Oberkörperbewegung - Gehgeschwindigkeit
Keywords Bipedal Locomotion - Gait Adjustment Aid - Upper Body Movement - Walking Speed
Einleitung
Der Mensch nutzt seit mindestens ca. 3 Millionen Jahren den aufrechten, bipeden Gang
zur Fortbewegung [1 ]. Sehr wahrscheinlich
war das Freiwerden der Arme und Hände vorteilhaft für die Nahrungssuche und Aufnahme
[2 ]. Die Aufrichtung brachte enorme
evolutionäre Vorteile für die Hominiden und hat durch die Verlagerung des
Körperschwerpunktes über die Beine erhebliche skelettale Anpassungen insbesondere
des Beckens, der Gelenke, tragenden Knochen [1 ] und auch des Fußskeletts [3 ]
aber genauso der Muskulatur und hier der hüftaufrichtenden und Bein streckenden
Muskeln geführt [4 ]. Mit Abschluss der
Aufrichtung, die mit der vollständigen Kniestreckung verbunden war kam ein weiterer
positiver Effekt, nämlich ein gegenüber der vierbeinigen Lokomotion deutlich
verringerter Energieverbrauch hinzu [5 ].
Die Anpassungen des muskuloskelettalen Systems, obwohl die genannte Zeitspanne genug
Zeit für eine Anpassung an die Bipedie ermöglicht haben sollte, sind nicht als
abgeschlossen zu betrachten – wie es grundsätzlich für alle evolutionären Prozesse
gilt [6 ], da sich die Umweltbedingungen
ständig verändern. Das liegt für den Fall der Lokomotion vor allem daran, dass sich
der aufrechte Gang unter völlig anderen äußeren Bedingungen, nämlich auf weichen und
federnden Böden und dabei die überwiegende Zeit ohne festes Schuhwerk, als die
heutigen Bedingungen mit überwiegend harten Böden und dem Tragen eher modischem als
funktionellen Schuhwerks entwickelt hat. Zum anderen bewegen wir uns in der heutigen
modernen Gesellschaft immer weniger, wodurch weitere, vor allem degenerativ bedingte
Beschwerdebilder hinzugekommen sind. Nicht zuletzt spielt hier die gestiegene und
weiterhin steigende Lebenserwartung und die damit einhergehenden degenerativen
Erkrankungen ebenfalls eine Rolle. Lokomotionsassoziierte Beschwerden sind sehr
häufig. Seien es Rückenbeschwerden [7 ],
Abnutzungen der großen, Gewicht tragenden Gelenke [8 ] oder der Füße selber. Degenerative
Veränderungen des Fußes gehen oft mit einem Absinken des pyramidenförmigen
knöchernen Fußgewölbes einher, was mit Schmerzen verbunden ist. Damit wird die
passive Standstabilität beeinträchtigt, die dann zusätzlich muskulär kompensiert
werden muss. Durch die Induktion eines Kipp-Rotationsmomentes am Calcaneus kann
diese Situation funktionell behoben oder zumindest weitgehend korrigiert werden.
Dadurch erfolgt eine Dorsal- und Lateralverlagerung des Impulses der Körperlast,
wodurch das Fußgewölbe entlastet wird. Dies kann mit einer so genannten
Gangjustierhilfe (GJH), die an der Innenseite des Fußes appliziert wird
erfolgen.
Eigene vorangegangene Untersuchungen haben bereits ergeben, dass bei der Verwendung
einer so genannten Gangjustierhilfe (GJH) während des Gehens eine Verringerung des
muskulären Aufwandes insbesondere der sprunggelenksnahen Muskulatur, sowie eine
Verringerung vorhandener Seitendifferenzen nachgewiesen werden konnte [9 ]. Als nächstes stellte sich die Frage, ob
auch Einflüsse auf Bewegungsdaten des Oberkörpers durch die GJH nachweisbar wären.
Hierfür haben wir einen dreiachsigen Inertialsensor verwackelungsfrei auf dem
Sternum befestigt, um entsprechende Daten zu gewinnen.
Methode
Für die Studie wurden insgesamt 40 gesunde Personen im Alter zwischen 19 und 35 Jahre
(20 Frauen, MW 24,7±3,3 Jahre) untersucht. Die Untersuchung erfolgte in einem
Sicherheitsschuh (Haix CONNEXIS SAFETY+GTX), welcher zunächst ohne und dann mit der
GJH ausgestattet war ([Abb. 1 ]). Alle
Probanden gingen auf einem 10 m langen Walkway zuerst in ihrer selbst gewählten
normalen Gehgeschwindigkeit, dann betont langsam, sowie im Anschluss betont schnell.
Die jeweilige Gehgeschwindigkeit wurde durch ein Lichtschrankensystem im zentralen
Bereich des Walkways detektiert und dokumentiert. Die Probanden absolvierten die
Gehstrecke insgesamt jeweils 8 mal (jeweils vier mal in jede Richtung), für die
langsame Gehgeschwindigkeit jedoch nur 6 mal. Akzelerationen, Dezelerationen sowie
Wendevorgänge wurden von der Analyse ausgeschlossen, indem lediglich Doppelschritte
mit einer maximalen Abweichung von±10% von der jeweils individuell ermittelten
medianen Gehgeschwindigkeit in die Analyse eingingen. Unter diesen
Untersuchungsbedingungen konnten verlässlich jeweils mindestens 40 gültige
Doppelschritte in die Analyse einbezogen werden. Während der Untersuchung wurde die
Schrittidentifikation anhand von auf den Schuhen befestigten Inertialsensoren
vorgenommen. Zudem wurde allen Probanden ein Inertialsensor körperschlüssig und
damit verwackelungsfrei auf dem Sternum befestigt, um die Oberkörperbewegung zu
messen. Für die vorliegende Analyse wurden dafür die Akzelerationsdaten (Acc), sowie
die Drehraten (Winkelgeschwindigkeiten, Gyro), jeweils in drei Achsen verwendet. Die
Messdaten aller genannten Sensoren wurden simultan mit einer Abtastrate von 286 /
s
erfasst (Cometa S.r.l. Auflösung: 16 bit). Hauptzielparameter waren Änderungen der
beschleunigungs- bzw. Winkelgeschwindigkeiten zwischen beiden Testsituationen (ohne
und mit GJH), Nebenzielparameter war eine Beeinflussung der individuellen
Gehgeschwindigkeit durch die Applikation der GJH. Die Untersuchung wurde der
Ethik-Kommission der Medizinischen Fakultät an der Friedrich-Schiller-Universität
Jena vorgelegt, von dieser begutachtet und positiv bewertet (2020-1653-BO,
2020-1653_1-BO).
Abb. 1 Gangjustierhilfe, bereits in Einlegesohle integriert.
Die statistische Verarbeitung der Daten erfolgte für die Gehgeschwindigkeiten mit
einem gemischten linearen Modell mit den Haupteffekten Geschlecht, Richtung, Lauf
(als absolvierter Gang, bestehend aus Hin- und Rückrichtung), Gehgeschwindigkeit und
GJH. Die Analyse ergab, dass lediglich die Gehgeschwindigkeit und GJH signifikante
Werte erreichten. Deswegen erfolgte die weitere statistische Bearbeitung unter
Einbeziehung aller Probanden, ohne Berücksichtigung der Gehrichtung und des
Laufes.
Die Daten der Inertialsensoren wurden als gemittelte zeitnormierte Verlaufskurven
mit
einer Auflösung von 0,5% des normierten Schrittes dargestellt und Differenzen
zwischen den Situationen ohne und mit GJH getestet. Die erforderliche Korrektur der
Signifikanzwerte wurde unter Verwendung der Bonferroni-Holm Methode vorgenommen
[10 ]. Das globale Signifikanzniveau war
wie üblich mit p<0,05 festgelegt. Zusätzlich erfolgt noch eine Darstellung der
jeweiligen Differenzen als MW±95% CI.
Ergebnisse
Gehgeschwindigkeiten
Für die Gehgeschwindigkeiten konnte kein systematischer Geschlechtsunterschied
ermittelt werden, weswegen hier die Daten aller Probanden gemeinsam analysiert
wurden. Die Gehgeschwindigkeiten waren für die normale und schnelle
Gehgeschwindigkeit bei Verwendung der GJH signifikant höher als ohne ([Abb. 2 ]). Die Differenzen betrugen
dabei 4,1% für die normale und 1,6% für die schnelle Gehgeschwindigkeit.
Abb. 2 Mittlere Gehgeschwindigkeiten für alle Probanden bei selbst
gewählter normaler, langsamer und schneller Gehgeschwindigkeit. Die
Sternchen markieren signifikante Differenzen zwischen der Situation ohne
und mit GJH (p<0,05). Die Daten sind als Mittelwerte±95% KI
dargestellt.
Oberkörperbewegungen
Die über die Akzelerations- und Winkelgeschwindigkeitsdetektion registrierten
Oberkörperbewegungen wiesen generell die erwartbaren Verläufe auf. Dabei gab es
unabhängig davon, ob die GJH verwendet wurde oder nicht deutliche und
systematische Beeinflussungen der ermittelten Werte für die drei selbst
gewählten Gehgeschwindigkeiten. Hierzu erfolgte allerdings keine statistische
Testung, da dies nicht zu den Zielparametern gehörte. Eine vollständige
Darstellung der Verlaufsdaten sowohl der Beschleunigungsdaten als auch der
Drehraten kann im Supplement gefunden werden ([Supplement ]
Für den Vergleich ohne und mit GJH konnte für die Drehrate der y-Komponente
(Flexion/Extension des Oberkörpers) jeweils während der Lastübernahme (0–5% des
normierten Gangzyklus) deutlich höhere Winkelgeschwindigkeiten in
Extensionsrichtung für die Situation mit GJH nachgewiesen werden, die mit
zunehmender Gehgeschwindigkeit zunahmen und ab der normalen Gehgeschwindigkeit
als signifikant nachweisbar waren ([Abb.
3 ]). Dieser Effekt ist auch klar in den Differenzdarstellungen
sichtbar, bei denen in den genannten Bereichen das 95% ige Konfidenzintervall
(CI) die Nulllinie nicht überschreitet.
Abb. 3 Links: Drehraten während des normierten Schrittes in
Flexion- (−) und Extensionsrichtung (+) für die untersuchten
Gehgeschwindigkeiten. Die schwarzen Markierungen kennzeichnen
signifikante Unterschiede zwischen den untersuchten Situationen ohne und
mit GJH.
Diskussion
In der vorliegenden Untersuchung sollte die Wirkung einer in den Schuh eingebrachten
speziellen Einlage, der Gangjustierhilfe auf die Gehgeschwindigkeit und die
Oberkörperbewegung, die über Inertialsensoren am Sternum erfasst wurde evaluiert
werden.
Für die selbst gewählten Gehgeschwindigkeiten auf dem Walkway konnten systematisch
höhere Gehgeschwindigkeiten gemessen werden, als in der Situation ohne GJH. Das
weist auf einen lokomotionsaktivierenden Effekt der GJH hin, der vor allem für
normale und schnellere Gehgeschwindigkeiten zu Buche schlägt. Ohne dass hier
Aufwandskennwerte wie beispielsweise die Aktivierungsintensität der Beinmuskulatur
bzw. deren distanznormierter muskulärer Aufwand [11 ] untersucht wurden, kann aus bereits publizierten [9 ] und bisher noch nicht veröffentlichten
Daten angenommen werden, dass dies ohne zusätzlichen muskulären und damit
metabolischen Aufwand erfolgte.
Unabhängig davon konnte für die Oberkörperbewegung während des Gehens, ohne dass
systematische Änderungen der vertikalen, rotatorischen und Flexionsbewegungen
nachweisbar waren deutliche und dabei signifikant erhöhte Winkelbewegungen in
Extensionsrichtung während der initialen Standphase, also zum Zeitpunkte der
Lastübernahme unmittelbar nach dem jeweiligen Fersenaufsatz nachgewiesen werden. Die
laut Wirkprinzip der GJH [12 ] erfolgende
Korrektur der Situation des Calcaneus in der Phase des Bodenkontaktes im Sinne eines
zusätzlichen Kipp-Rotationsmoment kann dies hier, da ansonsten keinerlei
Veränderungen an der Versuchsumgebung vorgenommen wurden als ursächlich angenommen
werden. Der nachgewiesene vermehrte Aufrichtungseffekt durch die GJH sollte somit
zu
einer Rückverlagerung des Körperschwerpunktes und damit einer Optimierung in
Relation zur durch das während der initialen Standphase schräg angestellten Beines
führen. Eine beschleunigte Streckbewegung in dieser Phase sollte einerseits den
Bremseffekt des Kontaktbeines vermindern und andererseits den muskulären Aufwand der
Rumpfextensionsmuskulatur beeinflussen. Die sich anschließende Bewegung des Körpers
über das Standbein hinweg (umgekehrtes Pendel) sollte damit weniger Aufwand der ja
ohnehin erforderlichen Aufrichtung verursachen. Ob diese Veränderung der
Oberkörperbewegung dazu beiträgt, die beobachteten Effekte herbeizuführen, oder
selber ebenfalls positiv, meint aufwandvermindernd beeinflusst wird kann ohne
entsprechende Daten nicht beantwortet werden. Dies wird Gegenstand weiterer
Untersuchungen und Analysen sein. Aufgrund technischer Limitationen konnten bisher
keine Messungen der Bodenreaktionskraft durchgeführt werden, sodass der beschriebene
Befund nicht endgültig funktionell aufgeklärt werden kann. Dennoch bleibt zu
konstatieren, dass die Anwendung der GJH zu systematischen Änderungen der
Oberkörperbewegung führt, die mit einer vermehrten Aufrichtung einhergeht. Diese
hier beobachtete verstärkte Aufrichtung kann zukünftig, vor allem im Licht einer
alternden Bevölkerung helfen, vor allem auch bei älteren Personen das Gangbild im
Sinne der beschriebenen verstärkten Aufrichtung und damit einer weniger nach vorn
geneigten Haltung während des Gehens zu verbessern. Damit wäre sie eine sinnvolle
Ergänzung zu weiteren Maßnahmen der Sturzprophylaxe. Bis dato sind derartige
Schlussfolgerungen allerdings noch hypothetisch und erfordern Untersuchungen an
geriatrischen Probanden.
Die beobachtete Erhöhung der Extensionswinkelgeschwindigkeit kann dabei nicht durch
die geringen, wenn auch signifikanten Differenzen in den Gehgeschwindigkeiten
versursacht sein. Die Unterschiede der mittleren Gehgeschwindigkeiten zwischen den
selbst gewählten Gehgeschwindigkeiten betrug ca. 45% (langsam zu normal) bzw. ca.
25% (normal zu schnell), die dabei zu berücksichtigenden Unterschiede in der
Winkelgeschwindigkeit betrugen für die beiden Geschwindigkeitsstufen jedoch 12%
(ohne GJH) und 20% (mit GJH), sowie 15% und 18%. Demgegenüber stehen
Geschwindigkeitsunterschiede von 4,25% bzw. 1,84% (ohne vs. mit GJH) und
Unterschiede der Bewegungsgeschwindigkeiten von 16% bzw. 19% - also auf ähnlichem
Niveau wie die Unterschiede die zwischen den unterschiedlichen selbst gewählten
Gehgeschwindigkeiten zu beobachten waren.