Kontra
Meilensteine markieren Etappen. So gesehen sind die positiven Resultate der
Phase-3-Studien mit den Amyloid-Antikörpern Lecanemab bzw. Donanemab zweifelsfrei
als Meilenstein zu verstehen. Immerhin haben die beiden Antikörper nach über 2
Jahrzehnten erfolgloser Arzneimittelstudien mit Amyloid-Antikörpern zeigen können,
dass sie nicht nur effektiv Amyloid aus dem Gehirn entfernen, sondern dass sie zudem
eine im Vergleich zu Placebo statistisch signifikante Wirksamkeit haben. Allerdings
liegt dieser Meilenstein ziemlich am Anfang eines wohl noch sehr langen Weges.
Tatsächlich ist der klinische Effekt der Antikörper nämlich so gering, dass
allenthalben diskutiert wird, ob die Wirksamkeit - wenn auch statistisch signifikant
- überhaupt klinisch relevant ist [1]
[2].
In den Zulassungsstudien wird beschrieben, dass die Antikörper den kognitiven Abbau
in einem 18-monatigen Studienzeitraum im Vergleich zu Placebo zwischen 27%
(Lecanemab) und 29% (Donanemab) verzögern. Diese Zahlen wirken zunächst recht
überzeugend, versprechen allerdings mehr Wirksamkeit als sie halten können, was am
Beispiel von Lecanemab erläutert werden soll:
Als primärer Endpunkt war in der Zulassungsstudie von Lecanemab, Clarity AD [3], das Ausmaß der kognitiven und funktionellen
Veränderung, gemessen mit dem Clinical Dementia Rating-Sum of Boxes Score
CDR-SB-Score (CDR-SB-Score) festgelegt worden. Das Clinical Dementia Rating [4] ermöglicht nach einem Interview des Betroffenen
und eines Zugehörigen eine Schweregradeinstufung in 6 Domänen (Gedächtnis,
Orientierungsvermögen, Urteilsvermögen & Problembewältigung, Leben in der
Gemeinschaft, Haushalt & Hobbys, Körperpflege). Für jede Domäne können vom
Untersucher 0 (keine Auffälligkeiten) bis 3 Punkte (schwere Beeinträchtigung)
vergeben werden. Dementsprechend bedeuten 0 Punkte im CDR-SB kognitiv unauffällig,
die maximal erreichbare Punktzahl 18 Punkte bedeutet schwer dement.
In Clarity AD wurden 1795 PatientInnen mit leichter kognitiver Beeinträchtigung bei
Alzheimer-Krankheit und leichtgradiger Alzheimer-Demenz eingeschlossen, 50%
erhielten Lecanemab, 50% Placebo. Zu Beginn der Studie erreichten beide Gruppen
durchschnittlich 3,2 Punkte im CDR-SB. Nach 18 Monaten nahm die Punktzahl in der
Lecanemab-Gruppe um 1,21 Punkte zu (eine höhere Punktzahl im CDR-SB entspricht einer
Verschlechterung), in der Placebo-Gruppe um 1,66 Punkte, es ergab sich also ein
Unterschied von 0,45 Punkten. Die relative Verzögerung der Verschlechterung wurde
berechnet mit 0,45÷1,66 x 100% = 27%.
Eine derartige Ergebnisdarstellung ist legitim. Die korrektere Vorgehensweise wäre
allerdings, die prozentuale Änderung unter Berücksichtigung des tatsächlich im
CDR-SB erreichten Werts zu berechnen: Der Ausgangswert bei Baseline war 3,2 Punkte,
am Ende der Studie hatte die Lecanemab-Gruppe 4,41 Punkte, die Placebo-Gruppe 4,86
Punkte. Die 0,45 Punkte Unterschied entsprechen 9,3%. (0,45÷4,86 x 100%) [5].
Selbstverständlich sind die 0,45 Punkte bzw. 9% Unterschied nur ein
Durchschnittswert. Aus dem Supplement von Clarity AD geht hervor, dass PatientInnen
über 75 Jahre, Männer und ApoE4 non-carrier mehr von Lecanemab profitieren. Im
Gegensatz dazu scheint der Effekt insbesondere bei Frauen und sehr jungen
Betroffenen leider ausgesprochen gering.
Es gibt bislang keine sicheren Hinweise dafür, dass die Verzögerung der
Symptomprogression im Behandlungsverlauf weiter zunimmt. Bislang vorgestellte
Ergebnisse, wie. „7,5 Monate time saved in 30 Monaten“ oder „Verlangsamung der
Krankheitsprogression um 2,5 bis 3.1 Jahre“ basieren auf extrapolierten Daten,
statistischer Modellierung oder auf Vergleichen mit einer unbehandelten
Patientenkohorte aus der Alzheimer’s Disease Neuroimaging Initiative (ADNI). Offen
weist Eisai in seinen diesbezüglichen Pressemitteilungen [6]
[7] hin: „Sie
sollten sich nicht in unangemessener Weise auf diese Aussagen oder die vorgelegten
wissenschaftlichen Daten verlassen“ (übersetzt mit www.deepl.com).
Zusammengefasst ist die Wirksamkeit – auch wenn die Pharmafirmen zusammen mit vielen,
leider teils unkritischen, teils sich als wohlmeinende Advokaten der PatientInnen
verstehenden Keyplayern aus Wissenschaft und Versorgung (mit und ohne
Interessenkonflikten) etwas anderes behaupten – sehr gering, die klinische Relevanz
mehr als fraglich. Der individuelle Patient wird eine Wirksamkeit (die im
individuellen Fall nur spürbar wäre, wenn eine Verbesserung auftreten würde) nicht
bemerken. Folglich werden die geplanten Registerstudien zur Langzeitbeobachtung mit
Sicherheit keine Erkenntnisse zur Wirksamkeit der Antikörper erbringen können. Die
Verzögerung einer Verschlechterung kann (anders als eine Verbesserung) nur im
Vergleich mit einer Placebo-behandelten Gruppe objektiviert werden.
In den USA wurde der Einführungspreis von Lecanemab/ Leqembi® mit 26500
USD-Dollar pro Jahr und Patient angegeben. Selbst bei sehr (!) konservativer
Schätzung würden in Deutschland aktuell mindestens mehrere 10000 PatientInnen neu
für eine Behandlung mit Antikörpern infrage kommen (für genauere Zahlen siehe [8]). Zu den jeweils neu behandelten PatientInnen
kommen nach 18 Monaten die PatientInnen in der zumindest für Lecanemab notwendigen
„Erhaltungstherapie“ hinzu. Damit würde die Lecanemab-Therapie alleine für die
Arzneimittel – ohne ärztliche Therapiekosten und Kosten für die erforderlichen
Magnetresonanztomografien –jährliche Kosten im Milliardenbereich verursachen.
Dürfen Medikamente mit minimaler Wirkung und im Einzelfall schweren Nebenwirkungen
(auf die hier aus Platzgründen nicht weiter eingegangen wird), den PatientInnen, die
sich ja auch große Hoffnungen machen, zugemutet werden? Dürfen sie das
Gesundheitssystem durch hohen Aufwand und – in Anbetracht der zahlreichen für die
Therapie in Frage kommenden PatientInnen – extremen Kosten belasten?
Ich glaube, nein. Wir dürfen uns auf keinen Fall zufriedengeben mit dem eben
passierten Meilenstein, sondern müssen das Ende der nächsten Etappe unbedingt und
mit allen Mitteln anvisieren: eine Alzheimer-Therapie, die zweifelsfrei eine
klinisch bedeutsame Wirkung hat.