Schlüsselwörter
ambulante psychotherapeutische Versorgung - Reform der Psychotherapie-Richtlinie -
psychotherapeutische Sprechstunde - Standardisierte Befragung
Keywords
outpatient psychotherapeutic care - quantitative survey - reform outpatient psychotherapy
- mental health
Einleitung
Das Hilfe- und Gesundheitsversorgungssystem für Menschen mit psychischen Erkrankungen
in Deutschland ist vielfältig. Je nach klinischen Faktoren, Alter, Symptomschwere,
Erkrankungsverlauf und Patientenpräferenz stehen niedrigschwellige psychosoziale
Interventionen, medikamentöse und/oder psychotherapeutische Behandlungsalternativen
sowie weitere Therapieverfahren zur Verfügung [1]. Ein wichtiges Element ist die ambulante vertragspsychotherapeutische
Versorgung, die durch die Psychotherapie-Richtlinie (PT-RL) geregelt wird [2]. Weiterhin sind im Kontext des SGB V
bspw. (teil-)stationäre oder tagesklinische Maßnahmen möglich. Darüber hinaus
existieren auch SGB-V-übergreifende Angebote, wie durch die Kommunen finanzierte
sozialpsychiatrische Dienste, Erziehungs-/Beratungsstellen oder
Rehabilitationsmaßnahmen für chronisch psychisch kranke Menschen im Rahmen der
öffentlichen Fürsorge oder nach Gesamt- und Teilhabeverfahren gemäß SGB IX und SGB
XII [1].
Um die Flexibilität der psychotherapeutischen Versorgung zu erhöhen, den Zugang zu
verbessern und Wartezeiten zu reduzieren, wurde mit dem Gesetz zur Stärkung der
Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung eine Strukturreform der PT-RL
angestoßen [3]. Diese trat im Jahr 2017
in Kraft und im Zuge dessen wurde u. a. die psychotherapeutische Sprechstunde (im
Folgenden Sprechstunde) eingeführt [3].
Ziel der Sprechstunde war ein niedrigschwelliger zeitnaher (Erst-)Zugang in das
ambulante psychotherapeutische System. Die Sprechstunde ist eine Pflichtleistung für
niedergelassene Psychotherapeut:innen (PT) und ist für die meisten Patient:innen
Voraussetzung für weitere psychotherapeutische Leistungen. Die Sprechstunde kann in
Einheiten von mindestens 25 Minuten bis zu sechs Mal bei Erwachsenen je
Krankheitsfall erbracht werden, bei Kindern und Jugendlichen bis zu 10-mal, ggf.
unter Einbezug der Sorgeberechtigten [2]. PT mit vollem Versorgungsauftrag müssen mindestens 100 Minuten pro Woche
für Sprechstunden bereitstellen [2].
In den Sprechstunden kann ein Erstgespräch zur Abklärung des Vorliegens einer
psychischen behandlungsbedürftigen Erkrankung erfolgen und es besteht die
Möglichkeit eine (differential-)diagnostische Abklärung und Beratung zu möglichen,
dem individuellen Behandlungsbedarf entsprechenden Versorgungsangeboten vorzunehmen
[2]
[3]. Die Sprechstunde dient somit der
Beratung und Information von Patient:innen. Überdies umfasst sie die Möglichkeit zu
Prävention, einer ersten Diagnosestellung sowie einer dem Bedarf entsprechenden
Empfehlung für eine fachspezifische Maßnahme im Leistungsbereich des SGB V (z. B.
ambulante Richtlinientherapie (RL-T), stationäre Versorgung) oder darüber hinaus
(u. a. Selbsthilfegruppen/Beratungsstellen). Am Ende der Sprechstunde wird eine
Patienteninformation (PTV 11) ausgehändigt, die schriftlich festhält, ob weitere
Maßnahmen erfolgen sollten und wenn ja, welche.
In den Diskussionen vor Einführung der Sprechstunde gab es den Wunsch, dass der
Sprechstunde eine Steuerungs- und Lotsenfunktion für Menschen mit psychischen
Problemen zukommen könnte, um das komplexe und fragmentierte Hilfe- und
Versorgungssystem für psychische Erkrankungen angemessen und effizient einzusetzen
[4]
[5]. Insbesondere Menschen, bei denen
innerhalb der Sprechstunde kein Bedarf für Leistungen gemäß SGB V identifiziert
wird, könnten unterstützt werden, für sie passende Angebote zu ermitteln.
Im Gutachten des Sachverständigenrats aus dem Jahr 2018 wird als Ziel der Steuerung
von Gesundheitsdienstleistungen das Patientenwohl und eine bedarfsgerechte,
Patientenpräferenzen berücksichtigende Versorgung verstanden, bei der dem
aufgeklärten, mündigen Betroffenen eine Hilfestellung zur Orientierung im
Versorgungssystem gegeben wird [5]. In
Bezug auf die Sprechstunde ließe sich eine Steuerungs- bzw. Lotsenfunktion als eine
Form der bedarfsgerechten Patientennavigation verstehen. Dieses Verständnis von
Steuerungs- bzw. Lotsenfunktion ist zu unterscheiden vom Lotsenansatz, bei dem
Patient:innen über den gesamten Behandlungsverlauf einer Erkrankung begleitet werden
oder deren gesamte Behandlung koordiniert wird, wie bspw. durch Hausärzt:innen (HÄ)
im Rahmen der hausarztzentrierten Versorgung.
Die bei Einführung der Sprechstunde geführte Diskussion zeigt, dass der Sprechstunde
neben der Möglichkeit eines niedrigschwelligen Zugangs auch Potenzial zugeschrieben
wurde, sowohl die interdisziplinäre/-professionelle und sektorenübergreifende
Versorgung von Menschen mit psychischen Problemen zu stärken als auch SGB
V-übergreifende Leistungen bzw. regionale Versorgungsangebote im Kontext psychischer
Erkrankungen koordinierter einzubinden [4]
[5]. Eine solche Vernetzung
könnte Menschen mit psychischen Erkrankungen zu einer besseren Orientierung im
Hilfe- und Versorgungssystem und einer selbstbestimmteren Versorgung verhelfen.
Zudem sollen durch diagnostische Abklärungen im Rahmen der Sprechstunde die
entsprechenden Bedarfe frühzeitig erkannt und eine adäquate Versorgung unter
zielgerichtetem Einsatz therapeutischer Maßnahmen ermöglicht werden [3]. Mit einer bedarfsorientierten
Steuerung ist die Erwartung einer verbesserten Versorgungsqualität sowie einer
effizienteren Ressourcennutzung verbunden, welche durch eine stärkere Vernetzung der
verschiedenen Leistungsangebote und gesteigerte Kommunikation zwischen Akteur:innen
in der Versorgung psychisch kranker Menschen gefördert würde. Da die verschiedenen
Leistungsstrukturen finanziell unabhängig voneinander sind, bestehen bisher nur
unzureichende Anreize, die Vernetzung zum Wohle der Patient:innen zu stärken [1].
Mit der vorliegenden Untersuchung soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit
Potenzial hinsichtlich der mit der Einführung der Sprechstunde diskutierten
Steuerungs- bzw. Lotsenfunktion aus Sicht von PT in der Versorgung Erwachsener (PTE)
sowie Kinder und Jugendlicher (PTKJ) bereits zu erkennen ist. Zudem werden weitere
Faktoren wie Vernetzung und Kommunikation unter Leistungserbringenden untersucht,
die die Umsetzung einer möglichen Steuerungs- bzw. Lotsenfunktion im Kontext der
Sprechstunde im Praxisalltag fördern bzw. hemmen können. Diese Untersuchung stellt
einen Teilaspekt des Projekts Eva PT-RL (Evaluation der Reform der PT-RL;
Förderkennzeichen: 01VSF19006) dar [6].
Methodik
Datengrundlage ist eine Querschnittsbefragung von PT. Aus dem Adresspool eines
Zielgruppenspezialisten wurde jeweils eine hinsichtlich des Ausbildungshintergrunds
geschichtete Zufallsstichprobe von 1.700 PTE bzw. PTKJ gezogen, die an der
vertragsärztlichen bzw. -psychotherapeutischen Versorgung teilnehmen. Hierbei wurde
vorgegeben, dass jeweils 80% (n=1.360) einen psychologischen Hintergrund haben
sollten und 20% (n=340) einen ärztlichen, etwa Fachärzt:innen (FA) für
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, FA für Psychiatrie und Psychotherapie,
FA für Psychotherapie oder FA für Kinder-/Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Die
Gesamtstichprobe umfasste 34.151 Psychotherapeut:innen, 5.270 niedergelassene
Ärzt:innen der Fachrichtung Psychiatrie (mit Zusatz Psychotherapie) und 3.253
niedergelassene Ärzt:innen der Fachrichtung Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie. Die Stichprobe wurde im Juli 2021 postalisch angeschrieben und im
Oktober (PTKJ) bzw. November (PTE) 2021 erfolgte ein Reminderschreiben. Mit dem
Fragebogen wurde ein Informations- und Aufklärungsschreiben zur Erhebung verschickt.
Die Studie wurde von der Ethik-Kommission der Medizinischen Fakultät der Universität
Duisburg-Essen (20-9792-BO) beraten und zustimmend bewertet.
Aufgrund des geringen Rücklaufs der PTKJ, rekrutierten im Januar 2022 die im Projekt
Eva PT-RL beteiligten Berufsverbände per Mail unter ihren Mitgliedern weitere PTKJ.
Um eine Online-Teilnahme zu ermöglichen, wurde der Erhebungsbogen in digitaler Form
mittels LimeSurvey erstellt. Die Befragung wurde im Dezember 2021 (PTE) bzw. März
2022 (PTKJ) beendet.
Fragebogenentwicklung
Eine orientierende Literaturrecherche zur Umsetzung der PT-RL ergab nur wenige
inhaltlich ähnlich ausgerichtete empirische Studien. Diese fanden bei der
Erstellung des Fragebogens Berücksichtigung. Zur weiteren Exploration von
Fragestellungen im Kontext der Strukturreform der PT-RL wurden sechs
Fokusgruppen und fünf Einzelinterviews mit PT, Kostenträger:innen und
Patientenvertreter:innen durchgeführt [7]. Auf dieser Basis wurden für die standardisierte Befragung
geschlossene Fragen zu folgenden Oberthemen entwickelt: telefonische
Erreichbarkeit, Terminservicestelle, Sprechstunde, psychotherapeutische
Akutbehandlung, RL-T, Rezidivprophylaxe, Praxisorganisation. Ziel war es,
Erkenntnisse zur Umsetzung der Reform der PT-RL, zur Zufriedenheit der PTE und
PTKJ mit der Reform sowie zu möglichen Problemen der Umsetzung zu gewinnen. Der
Fragebogen umfasste 29 themenspezifischen Fragen. Zudem wurden zur Einordnung
der Studienpopulation Fragen zu soziodemographischen Merkmalen, Zugehörigkeit
zur Kassenärztlichen Vereinigung (KV) und Ausbildungshintergrund gestellt. Für
das vorliegende Manuskript wurden Einschätzungen der PT zum Potenzial der
Sprechstunde hinsichtlich einer dem Bedarf angepassten Steuerungs- bzw.
Lotsenfunktion, (Differential-)diagnostik, inner-/intersektoralen Kommunikation
und Beratung anhand einer 5-stufigen Likert-Skala erhoben ([Tab. 2]). Zudem wurde eine Frage zu
den empfohlenen Maßnahmen im Rahmen einer Sprechstunde gestellt. Hierbei wurden
Antwortoptionen gemäß PTV 11 vorgegeben und die Befragten gebeten, anzugeben,
wie häufig (in%) sie diese empfehlen.
Tab. 2 Einschätzungen zur Sprechstunde.
|
Die Einführung der Sprechstunde…
|
PTE
|
PTKJ
|
|
n
|
Zustimmung (%) Teils, teils (%) Ablehnung
(%)*
|
n
|
Zustimmung (%) Teils, teils (%) Ablehnung
(%)*
|
|
…hat die gewünschte Lotsenfunktion (=bedarfsgerechte Steuerung
der Patient:innen) erfüllt.
|
441
|
17
|
356
|
16
|
|
33
|
36
|
|
51
|
48
|
|
…hat dazu geführt, dass Patient:innen bedarfsorientiert
versorgt werden.
|
439
|
7
|
355
|
17
|
|
30
|
31
|
|
63
|
52
|
|
…ermöglicht es, Patient:innen angemessen zu
beraten.
|
441
|
39
|
356
|
46
|
|
38
|
34
|
|
23
|
20
|
|
…hat zu einer besseren Zusammenarbeit mit psychosozialen
Angeboten geführt.
|
441
|
4
|
356
|
6
|
|
16
|
25
|
|
80
|
69
|
|
…hat zu einem besseren Austausch mit Haus-/Fachärzt:innen
geführt.
|
441
|
2
|
356
|
4
|
|
7
|
17
|
|
91
|
79
|
|
…hat zu einer besseren sektorenübergreifenden Kooperation
geführt.
|
440
|
4
|
358
|
5
|
|
11
|
16
|
|
86
|
79
|
|
…kann zu gezielter (Differential-)Diagnostik genutzt werden.
|
440
|
46
|
356
|
48
|
|
29
|
29
|
|
26
|
23
|
|
…führt zu einem Druck, Vorgaben umzusetzen, obwohl keine
Therapieplätze vorhanden sind.
|
440
|
78
|
353
|
69
|
|
14
|
18
|
|
8
|
13
|
|
…wird von Patient:innen gut angenommen.
|
439
|
57
|
357
|
60
|
|
33
|
31
|
|
10
|
9
|
PTE: Psychotherapeut:in für Erwachsene; PTKJ: Psychotherapeut:in für
Kinder/Jugendliche. *Für eine bessere Lesbarkeit wurden die
5-stufige-Likert-Skala (stimme voll zu, stimme zu, teils, teils, stimme
nicht zu, stimme gar nicht zu) zu 3 Kategorien zusammengefasst.
Die Fragebögen für PTE und PTKJ unterschieden sich in sechs Items. PTKJ wurden
bspw. zusätzlich befragt, wie Sorgeberechtigte/Bezugspersonen in die
psychotherapeutische Versorgung eingebunden werden.
Die Fragebogenentwicklung erfolgte in Abstimmung mit allen Projektpartner:innen.
Als Pre-Test wurden die Fragebögen mit Vertreter:innen der entsprechenden
Professionen diskutiert und im Anschluss entsprechend den Rückmeldungen
angepasst.
Auswertung
In die Auswertung wurden Fragebögen von PT mit KV-Zugehörigkeit einbezogen, die
über Angaben zur Person hinausgehende Antworten beinhalteten. Keiner der
Befragten beantwortete alle Fragen (Items). Aufgrund dessen wurde für jedes Item
die Gesamtzahl der gültigen Antworten (inkl. Prozentangaben) ausgewiesen.
Aufgrund des explorativen Charakters der Befragung, erfolgte eine deskriptive
Auswertung mittels uni-/bivariater Analysen. Je nach Variablentyp wurden
Häufigkeitsverteilungen und Lageparameter ermittelt.
Ergebnisse
Studienpopulation
Insgesamt gingen 760 Fragebögen online und schriftlich ein. Nach Eingang der
Erhebungsbögen erfolgte die Zuordnung der Fragebögen zur Gruppe der PTE oder
PTKJ. Eine Einbeziehung in die Stichprobe beider Gruppen erfolgte, wenn im
schriftlich erhobenen Fragebogen angegeben wurde, dass Erwachsene und KJ
versorgt wurden.
Von den Befragten PTE antworteten 16 (4%) online und 433 (96%) schriftlich [PTKJ:
195 (54%) bzw. 167 (46%)]. In beiden Gruppen konnten jeweils zwei Fragebögen
aufgrund der Angabe, keiner KV anzugehören, nicht eingeschlossen werden, sodass
447 (PTE) bzw. 360 Fragebögen (PTKJ) zur Auswertung vorlagen. Somit lag die
Rücklaufquote bei den PTE bei 26,3%. Eine Rücklaufquote für die PTKJ konnte
nicht ermittelt werden, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass es
Überschneidungen in den kontaktierten Stichproben gab.
Von den Befragten waren 68% (PTE) bzw. 62% (PTKJ) über 50 Jahre alt und gut drei
Viertel waren weiblich. In beiden Gruppen praktizierte etwa ein Viertel der
Befragten in einem Ort mit weniger als 20.000 Einwohner:innen und etwa die
Hälfte in einem Ort mit mehr als 100.000 Einwohner:innen.
Mehrheitlich hatten die PTE ein Psychologiestudium absolviert (89%) und über die
Hälfte (57%) besaß eine Zulassung für verhaltenstherapeutischen Verfahren. Bei
den PTKJ absolvierte gut die Hälfte ein pädagogisches und 21% ein
psychologisches Studium. Mit 53% hatten mehr als die Hälfte der PTKJ eine
Zulassung für das analytische und tiefenpsychologische Verfahren ([Tab. 1]).
Tab. 1 Charakteristika der Studienpopulation.
|
PTE
|
PTKJ
|
|
Merkmal
|
Ausprägung
|
n
|
%
|
n
|
%
|
|
Altersgruppe
|
21–40a
|
42
|
10
|
39
|
11
|
|
41–50
|
100
|
23
|
99
|
28
|
|
51–60
|
155
|
35
|
122
|
34
|
|
>60
|
146
|
33
|
99
|
28
|
|
Gesamt
|
443
|
100
|
359
|
100
|
|
Geschlecht
|
Männlich
|
98
|
23
|
82
|
24
|
|
Weiblich
|
331
|
77
|
261
|
76
|
|
Gesamt
|
429
|
100
|
343
|
100
|
|
Absolvierter Studiengang
|
Medizin
|
41
|
9
|
45
|
13
|
|
Psychologie
|
389
|
89
|
71
|
21
|
|
Pädagogisch
|
/
|
/
|
187
|
54
|
|
Anderes
|
6
|
1
|
42b
|
12
|
|
Gesamt
|
436
|
100
|
345
|
100
|
|
Psychotherapeutische Verfahren
|
Nur tiefenpsychologisch
|
111
|
26
|
63
|
18
|
|
Verhaltenstherapie
|
250
|
57
|
79
|
23
|
|
Analytisch und tiefenpsychologisch
|
57
|
13
|
185
|
53
|
|
Sonstige
|
18
|
4
|
24
|
7
|
|
Gesamt
|
436
|
100
|
351
|
100
|
|
Größe des Ortes, in dem praktiziert wird
|
Landgemeinde (<5.000 EW)
|
35
|
8
|
19
|
5
|
|
Kleinstadt (5.000 bis<20.000 EW)
|
69
|
16
|
74
|
21
|
|
Mittelstadt (20.000–100.000 EW)
|
110
|
25
|
96
|
27
|
|
Großstadt (>100.000 EW)
|
227
|
52
|
171
|
48
|
|
Gesamt
|
441
|
100
|
360
|
100
|
EW: Einwohner; PTE: Psychotherapeut:in für Erwachsene; PTKJ:
Psychotherapeut:in für Kinder/Jugendliche; aZusammenfassung
der Gruppen 21–30/31–40 aufgrund geringer Fallzahlen. bz.B.
pädagogische Studiengänge kombiniert mit Kunst-/Musiktherapie oder
Medizin/Psychologie, Grundschullehramt, etc. .
Erfahrungen mit der Sprechstunde
Von den Befragten stimmten 39% (PTE) bzw. 46% (PTKJ) der Aussage zu, dass die
Sprechstunde eine angemessene Beratung von Patient:innen ermögliche und 46%
(PTE) und 48% (PTKJ) stimmten zu, dass die Sprechstunde zu gezielter
(Differential-)diagnostik genutzt werden kann. Der Aussage, dass die
Sprechstunde eine Lotsenfunktion erfülle, stimmten 17% (PTE) bzw. 16% (PTKJ) zu,
etwa ein Drittel der Befragten war indifferent. Eine Zustimmung, dass die
Einführung der Sprechstunde zu einer bedarfsorientierten Versorgung der
Patient:innen führe, gaben 7% (PTE) bzw. 17% (PTKJ), wohingegen 63% (PTE) bzw.
52% (PTKJ) dieser Aussage nicht zustimmten.
Hinsichtlich des Aspekts des Austauschs mit anderen Akteur:innen stimmten nur
wenige Befragte zu, dass die Einführung der Sprechstunde 1. zu einer besseren
Zusammenarbeit mit psychosozialen Angeboten (PTE: 4%; PTKJ: 6%), 2. einem
besseren Austausch mit Haus-/Fachärzt:innen (PTE: 2%; PTKJ: 4%) oder 3. einer
besseren sektorenübergreifenden Kooperation geführt hat (PTE: 4%; PTKJ: 5%).
Darüber hinaus gaben 78% (PTE) bzw. 69% (PTKJ) an, dass mit der Einführung der
Sprechstunde ein Druck entstehe, Vorgaben umzusetzen, obwohl keine
Therapieplätze vorhanden sind. Gleichzeitig wird die Sprechstunde nach
Einschätzung der befragten PT von Patient:innen (bzw. Bezugspersonen) gut
angenommen ([Tab. 2]).
Anhand der Angaben zur Häufigkeit empfohlener Maßnahmen im Anschluss an eine
Sprechstunde gemäß PTV 11 zeigt sich, dass sowohl PTE als auch PTKJ in nur
wenigen Fällen nach einer Sprechstunde keine Maßnahmen oder Präventionsmaßnahmen
empfehlen (s. e-supplement). Vielmehr gaben 60% der befragten PTE an, dass sie
häufig eine Verhaltenstherapie empfehlen und 48% der PTKJ empfehlen häufig eine
tiefenpsychologisch fundierte Therapie. Weiterhin werden in etwas geringerem
Maße fach-/hausärztliche Abklärungen empfohlen, seltener stationäre oder
rehabilitative Maßnahmen. Angebote außerhalb des SGB V, wie
(Erziehungs-)Beratungsstellen oder Selbsthilfegruppen, werden vor allem durch
PTKJ empfohlen.
Mehr als ein Drittel der Befragten gab an, dass sie nicht wissen, ob ihre
Vermittlung erfolgreich ist, wenn eine Weiterbehandlung bei ihnen selbst nicht
möglich ist. Von den PT, die eine Info erhalten, gaben ca. 30% an, dass eine
Weitervermittlung nicht gelinge, weil es zu wenig Kapazitäten im Umkreis gibt
bzw. es gelingt eine Weitervermittlung mit Wartezeit (PTE: 15%; PTKJ: 29%). Nur
2% (PTE) bzw. 4% (PTKJ) der Befragten gaben an, dass Weitervermittlungen ohne
große Verzögerungen gelingen. Der Hauptgrund für die Verweisung von
Patient:innen im Anschluss an eine Sprechstunde sind fehlende Kapazitäten ([Tab. 3]).
Tab. 3 Angaben zur Weitervermittlung nach Sprechstunde.
|
Merkmal
|
Ausprägung
|
PTE
|
PTKJ
|
|
n
|
%
|
n
|
%
|
|
Gründe für die Verweisung von Patient:innen nach
Beendigung der Sprechstunde*
|
Keine Kapazitäten
|
356
|
81
|
285
|
80
|
|
Anderes Therapieverfahren angemessen
|
334
|
76
|
231
|
65
|
|
Persönliche Gründe der Patient:innen
|
68
|
16
|
78
|
22
|
|
Problematische Therapeut-Patient:innen-Passung
|
234
|
53
|
140
|
39
|
|
Terminfindung schwierig
|
203
|
46
|
153
|
43
|
|
Anfahrt der Patient:innen zu lang
|
108
|
25
|
154
|
43
|
|
Kommt nicht vor
|
15
|
3
|
17
|
5
|
|
Gesamt
|
440
|
100
|
356
|
100
|
|
Unterstützung von Patient:innen, die im Anschluss an eine
Sprechstunde für eine Akutbehandlung/RL-T
weitervermittelt werden müssen*
|
Hinweis auf Möglichkeit der Terminvereinbarung über
Terminservicestelle
|
313
|
72
|
210
|
59
|
|
Ausgabe einer Liste mit PT
|
212
|
49
|
235
|
66
|
|
Kontaktherstellung zu PT innerhalb des eigenen Netzwerkes
|
167
|
38
|
186
|
52
|
|
Hinweis auf Krankenkasse als Unterstützer
|
202
|
46
|
150
|
42
|
|
Gar nicht. Keine Kapazität, Patient:innen bei der PT-Suche zu
unterstützen
|
57
|
13
|
25
|
7
|
|
Gar nicht. Nicht meine Aufgabe, Patient:innen bei der
PT-Suche zu unterstützen
|
26
|
6
|
7
|
2
|
|
Gesamt
|
435
|
100
|
355
|
100
|
|
Gelingt es, Patient:innen weiterzuvermitteln, die nach
einer Sprechstunde nicht in Ihrer Praxis weiter
behandelt (d. h. Akutbehandlung/RL-T) werden können?
|
Nein, nicht genügend Kapazitäten im Umkreis.
|
108
|
32
|
85
|
28
|
|
Ja, ohne große Verzögerungen. Das psychotherapeutische
Angebot im Umkreis ist gut.
|
3
|
1
|
9
|
3
|
|
Ja, ohne große Verzögerungen. Weitervermittlung über
persönliches Netzwerk.
|
6
|
2
|
11
|
4
|
|
Ja, mit Wartezeiten.
|
51
|
15
|
87
|
29
|
|
Ich weiß nicht. Ich gebe Patient:innen PT-Kontaktdaten,
erhalte aber keine Rückmeldung, ob es zu einer erfolgreichen
Weitervermittlung gekommen ist.
|
133
|
39
|
109
|
36
|
|
Ich weiß nicht. Ich vermittle keine Patient:innen weiter.
|
38
|
11
|
4
|
1
|
|
Gesamt
|
339
|
100
|
305
|
100
|
*
Mehrfachnennungen möglich. RL-T: Richtlinientherapie;
PT: Psychotherapeut:innen; PTE: Psychotherapeut:in für Erwachsene; PTKJ:
Psychotherapeut:in für Kinder/Jugendliche.
Diskussion
Die vorliegende Befragung niedergelassener PT in Deutschland zu Erfahrungen mit der
neu eingeführten Sprechstunde zeigt, dass die bei Einführung formulierten Ziele
einer gezielten (Differential-)Diagnostik als auch einer angemessenen Beratung nach
Einschätzung der Befragten erreicht wurden und Patient:innen die Sprechstunde gut
annehmen. Allerdings gibt sie auch Hinweise darauf, dass das Potenzial der
Sprechstunde nicht voll ausgeschöpft ist. So geben die Befragten an, dass sich die
Kommunikation und Vernetzung mit anderen Akteur:innen des Hilfe- und
Versorgungssystems aufgrund der Einführung der Sprechstunde nicht wesentlich
verändert hat. Auch einen Einfluss auf eine bedarfsgerechte Steuerung bzw.
Versorgung wird nur von wenigen Befragten erkannt.
Vielmehr wird die Sprechstunde eher als ein der Therapie vorgelagerter Baustein
wahrgenommen, als ein vernetzendes oder steuerndes Element, welches
interdisziplinär, sektoren- und SGB-V-übergreifend genutzt werden könnte. Dabei
stößt die Verpflichtung der Durchführung der Sprechstunde vor allen Dingen bei einem
Mangel an Therapieplätzen bei der Weitervermittlung an Grenzen. Die Möglichkeit, die
Sprechstunde als ein Instrument zu nutzen, dass durch Kommunikation und Vernetzungen
innerhalb des komplexen Hilfe- und Versorgungssystems für psychische Erkrankungen
eine bedarfsgerechte Versorgung fördern könnte, scheint bisher von wenigen Befragten
genutzt zu werden. Dieses kann darin begründet sein, dass eine solche Funktion bei
Einführung der Sprechstunde nicht explizit formuliert wurde [2]
[3]. Demnach könnten die Befragten es auch nicht als ihre Aufgabe sehen,
eine Vernetzung und Kommunikation im Sinne einer verbesserten Patientensteuerung
aktiv zu verbessern.
Auch die Umsetzbarkeit von empfohlenen Maßnahmen mittels PTV 11 könnte von den PT
mitgedacht werden. Diese steht in Abhängigkeit von bestehenden Kapazitäten der PT
aber auch individuellen Ressourcen der Patient:innen. Zudem wurde die Einstellung
der Befragten zu einer Steuerungs- bzw. Lotsenfunktion und ob sie sich dazu befähigt
sähen, nicht abgefragt, was die Einordnung der Ergebnisse erschwert. Zudem ist es
möglich, dass der in der Befragung genutzte Begriff der bedarfsgerechten Steuerung
individuell unterschiedlich interpretiert wurde, wobei der Pretest diesbezüglich
keine Unklarheiten ergab. Anhand des normativen Konzepts zur Bedarfsgerechtigkeit
zeigt sich jedoch, dass der Begriff schwierig allgemeingültig zu definieren ist. So
ist diesem zufolge eine Versorgung bedarfsgerecht, wenn sie in qualitativer und
quantitativer Hinsicht dem Bedarf der Patient:innen entspricht [8]. Dabei wird zwischen dem objektiven
Bedarf, der sich bspw. an der Krankheitsschwere orientieren kann, und dem
subjektiven Bedarf, d. h. den individuellen Präferenzen und Wünschen der
Patient:innen, unterschieden [8].
Hingegen wird im Kontext der Gesundheitssystemforschung ein versorgungsbedürftiger
Bedarf im gesetzlichen Sinn durch Ärzt:innen bzw. PT bestimmt [9].
Die Evaluation der Funktion der Sprechstunde des Unterausschusses des G-BA kommt auf
Basis der Auswertung von KBV-Daten zu dem Schluss, dass die Steuerungsfunktion der
Sprechstunde erfüllt sei [10]. Dabei
wird eine Steuerungsfunktion aus Sicht der Autor:innen dahingehend erkannt, dass 40%
der Versicherten, die eine Sprechstunde wahrgenommen haben, im Anschluss keine
weiteren psychotherapeutischen Leistungen erhalten und somit die Sprechstunde in dem
Sinne steuere, diejenigen zu selektieren, die eine bzw. keine ambulante
psychotherapeutische Versorgung benötigen [10]. Hingegen weisen die Ergebnisse der vorliegenden Befragung darauf
hin, dass eher selten keine Maßnahmen im Anschluss an eine Sprechstunde empfohlen
werden und auch andere Maßnahmen als psychotherapeutische Leistungen empfohlen
werden. Dieses deckt sich mit Angaben von Versicherten der BARMER, wonach knapp 10%
der Befragten angaben, dass ihnen keine Maßnahme empfohlen wurden [11]. Unklar ist weiterhin, welche
Maßnahmen im Anschluss an eine Sprechstunde empfohlen und umgesetzt werden, wenn es
keine psychotherapeutischen Leistungen sind. Daneben ist es möglich, dass ein
gewisser Teil andere Formen der Versorgung oder Unterstützung benötigt. Es besteht
somit weiterhin Forschungsbedarf zu der Frage, inwieweit eine bedarfsgerechte
Steuerung unter Einbindung des gesamten Hilfe- und Versorgungssystems für psychische
Erkrankungen sowie insbesondere auch präventive Maßnahmen mit Hilfe der Sprechstunde
möglich ist.
Kapazitätsmängel, Probleme in der Weitervermittlung, ein Mangel an
inner-/intersektoralem Austausch, unterschiedlich finanzierte Leistungsstrukturen
sowie ein Mangel an Kenntnissen des gesamten Hilfe- und Versorgungssystems könnten
mögliche Hemmschwellen für die Umsetzung einer Steuerungs- bzw. Lotsenfunktion
darstellen und eine Begründung für die Vielzahl an ablehnenden Antworten
hinsichtlich der Erfüllung einer Lotsenfunktion durch die Sprechstunde
darstellen.
Limitationen
Bei der vorliegenden Befragung handelt es sich um eine Querschnittsbefragung.
Eine weitere Limitation ist die zusätzliche Rekrutierung der PTKJ über die
Berufsverbände, da es sich aufgrund dieses Vorgehens nicht mehr um eine
Zufallsstichprobe handelt. Dieses könnte zu einer Einschränkung der
Übertragbarkeit der Ergebnisse führen. Allerdings deckt sich die
Studienpopulation der vorliegenden Untersuchung weitgehend hinsichtlich der
Parameter Alter und Geschlecht mit der deutschlandweiten Verteilung aller
niedergelassenen PT [12]. Zudem kann
nicht ausgeschlossen werden, dass die Teilnahmebereitschaft unter PT, die
besonders unzufrieden sind, höher ist als unter PT, die zufrieden sind.
Allerdings deutet die Verteilung über die Antwortkategorien nicht auf ein
homogenes Antwortverhalten hin.
Mögliche Ansätze zur Weiterentwicklung der psychotherapeutischen
Versorgung
Eine Vielzahl an Modellen und Verträgen einzelner Krankenkassen auf Länderebene
oder regional begrenzt, die u. a. durch bessere Vernetzung von
Leistungserbringenden positive Effekte für die Versorgung von Menschen mit
psychischen Erkrankungen erzielen [1], unterstreichen die Relevanz einer koordinierten Versorgung. Auch
in den Ergebnissen des vom Innovationsfonds geförderten Projekts eines gestuften
und koordinierten Versorgungsmodells für bestimmte psychische und neurologische
Erkrankungen (NPPV) wird dargestellt, dass für knapp 50% der teilnehmenden
Leistungserbringenden eine Vernetzung untereinander als auch die Steuerung der
Patientenversorgung als sehr wichtig wahrgenommen wird [13]. Die vorliegende Befragung von PT
zu Erfahrungen mit der Sprechstunde deutet darauf hin, dass auf verschiedenen
Ebenen Ansätze möglich wären, um die Funktion und das Potenzial der Sprechstunde
hinsichtlich einer Steuerungs- bzw. Lotsenfunktion im Hilfe- und
Versorgungssystem psychischer Erkrankungen und entsprechender Vernetzung zu
stärken. Ein Ansatzpunkt zur Verbesserung der Versorgungsqualität durch eine
interdisziplinäre und sektorenübergreifende Versorgung und Vernetzung könnte in
einer verstärkten und standardisierten Kommunikation liegen. Dazu ließen sich
neben dem bestehenden PTV 11, das als Informations- und Kommunikationsbasis
zwischen Leistungserbringenden für einen fallbezogenen Austausch genutzt werden
kann, bspw. Fallkonferenzen oder Qualitätszirkel nutzen. Zudem müssten
Kompetenzen der Steuerung- und Lotsenfunktion klar zugeordnet und definiert
werden und in den entsprechenden Aus-, Fort- und Weiterbildungscurricula
eingebunden werden. Als weiteren Ansatzpunkt ließe sich diskutieren, inwieweit
die Kenntnisse über das gesamte System und insbesondere zu regionalen Angeboten
verbessert werden könnten.
Grundsätzlich bedarf es eines ganzheitlichen koordinierten Ansatzes, wenn mit der
Sprechstunde eine bedarfsgerechte Steuerungs- bzw. Lotsenfunktion über
Disziplin-, Sektoren- und SGB-Grenzen hinaus in einem hochkomplexen und
fragmentierten System wie der Versorgung von psychisch kranken Menschen
gewünscht ist [1]. Auch vor dem
Hintergrund, dass psychische Erkrankungen oftmals im Zusammenhang mit
somatischen Erkrankungen auftreten, ist eine gute Vernetzung von
Leistungserbringenden und eine koordinierte Versorgung wichtig [14].
Die vorliegende Befragung gibt Hinweise darauf, an welchen Stellen Potenzial für
einen verbesserten Einsatz der Sprechstunde gegeben ist, um die bedarfsgerechte
Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen flächendeckend zu
verbessern und knappe Ressourcen adäquat und effizient zu nutzen.
Fördermittel
Innovationsausschuss des Gemeinsamen Bundesausschusses — Förderkennzeichen:
01VSF19006