Depressionen sind eine der häufigsten und schwersten Erkrankungen. Sie sind nicht
nur mit einer hohen Rückfallquote, sondern auch einem hohen Sterberisiko verbunden.
Jeder zehnte Patient im Wartezimmer einer hausärztlichen Praxis leidet unter einer
Depression. Leider wird die Diagnose oft nicht gestellt und somit den Patienten eine
zielgerichtete Therapie vorenthalten. Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation
WHO [5] gilt dies nicht nur weltweit, sondern auch in der Bundesrepublik Deutschland [8]. In der Studie wurde nachgewiesen, dass die unipolaren Depressionen die größte Bedeutung
unter den Volkskrankheiten der entwickelten Länder haben[1], die bipolare Störung rangierte danach immerhin auf Platz 6!
Studie „Depression 2000”
Studie „Depression 2000”
In der Studie „Depression 2000”, in der 412 Hausarztpraxen erfasst wurden, konnte
gezeigt werden, dass 10,9 % aller Patienten unter Depressionen leiden (11,9 % der
Frauen und 9,4 % der Männer) [8]. Nahezu 50 % dieser Depressionen wurden als schwergradig eingestuft. 51,3 % der
Erkrankten hatten bereits früher mindestens eine depressive Episode. Hausärzte wurden
häufiger konsultiert als Fachärzte. Bei lediglich ca. zwei Drittel wurde die Krankheit
als „psychische Störung” eingeordnet, davon immerhin 38,5 % als gesicherte Depression.
Das heißt im Umkehrschluss, dass etwa ein Drittel der Depressionen als somatische
Krankheit eingeordnet wurde, bei etwa zwei Drittel bestand keine Sicherheit in der
Diagnose. Fast zwei Drittel der Erkrankungen wurden vom Hausarzt behandelt mit ca.
10 % unter fachärztlicher oder psychotherapeutischer Mitbehandlung. Jeder fünfte Patient
wurde – meist wegen schwerer Depression – sofort überwiesen, ohne dass der Hausarzt
selbst behandelte.
Woraus bestand in der Studie die hausärztliche Behandlung?
Woraus bestand in der Studie die hausärztliche Behandlung?
Bei der Befragung nach der Art der Therapie [Abb. 1] wurden von den an der Studie beteiligten Hausärzten eine Kombinationsbehandlung
als indiziert angesehen. 70,1 % brauchen Beratung, Gespräch und Krisenintervention,
20,8 % Psychotherapie und 81,0 % Pharmakotherapie – davon 58,2 % Antidepressiva, 36,4 %
Phytotherapeutika, 23,8 % Sedativa/Hypnotika (in der Regel als Komedikation zu SSRI)
[1]
[8].
Auf der Kölner Tagung der AnyCare GmbH im Oktober 2007 wurde folgendes Fazit gezogen:
Nur etwa die Hälfte der Depressiven sucht ärztliche Hilfe, davon ist die Hälfte nicht
angemessen versorgt. Ein früher Therapieabbruch ist häufig, da sich die Beschwerden
nicht binnen kurzer Zeit bessern [7].
Nach dem bundesdeutschen Survey wurden 61 % der depressiven Patienten weder psychotherapeutisch
noch medikamentös behandelt [8].
Abb. 1 Ergebnisse der Studie „Depression 2000”: Art der hausärztlichen Behandlung bei Depression.
Schlüsselrolle für den Hausarzt?
Schlüsselrolle für den Hausarzt?
Da viele depressive Patienten zuächst ihren Hausarzt aufsuchen, kommt diesem eine
Schlüsselrolle zu [3]. Etwa 20 % der Patienten haben eine psychiatrische Diagnose nach ICD–10, wobei depressive
Syndrome überwiegen. Auch wenn sie oft leichter ausgeprägt sind als in der fachärztlichen
Behandlung, bedeuten sie für die Betroffenen eine hohe psychosoziale Beeinträchtigung
(Auftreten von Komorbidität, schlechtere Prognose begleitender somatischer Erkrankungen,
Chronifizierung, Übergang in schwergradigere Depressionen u.a.).
Schwere der Krankheit
Schwere der Krankheit
In der letzten Zeit scheint auch in der Öffentlichkeit die Schwere und Bedeutung der
Erkrankungen erkannt. Zwei Titel mögen dies verdeutlichen: „Frau Blum am Boden – Kampf
dem 'Krebs der Seele'”... titelt die Frankfurter Rundschau am 2. November 2007. „Die
Depression ist keine Bagatelle. In ihrer schwersten Form vermittelt sie derart quälende
Seelenpein, dass viele Betroffene sich lieber das Leben nehmen, als weiter mit ihrer
krankhaften Niedergeschlagenheit leben zu müssen” hieß es in der Sendung „Rätsel Depression”
von Quarks & Co des WDR–Fernsehens am 16. Oktober 2007 [6].
Depressionen beeinträchtigen Lebensqualität und Leistungsfähigkeit oft viel stärker
als rein somatische Erkrankungen (z.B. Diabetes mellitus, Polyarthritis, Hypertonie)
[3]. Vor allem bei älteren Patienten bedeuten Rückzug und Immobilität, Appetitlosigkeit
und verminderte Flüssigkeitsaufnahme immer wieder einen Übergang in lebensbedrohliche
Situationen.
Dramatisch ist auch das Ausmaß der Suizidalität. Mit ca. 10000 im Jahr 2004 beläuft
sich die Gesamtzahl der Suizidtoten auf mehr als das Doppelte der Anzahl an Verkehrstoten.
Mehr als die Hälfte aller Depressiven unternimmt im Lauf ihres Leben mindestens einen
Suizidversuch [3]. Diese Situation zu erkennen ist wichtig für alle Behandler, seien sie hausärztlich,
fachärztlich oder psychotherapeutisch tätig.
Dass über Depressionen viel offener gesprochen wird ist positiv, denn die öffentliche
Diskussion erleichtert das Gespräch über die Krankheit und trägt zur Entstigmatisierung
bei. Dennoch ist immer noch eine Hürde zu überwinden, wenn man Patienten antidepressiv
behandeln oder sie zum Nervenarzt bzw. zur Psychotherapie überweisen will.
Die Schwierigkeit der Diagnose
Die Schwierigkeit der Diagnose
Die Diagnose 'Depression' wird zu häufig nicht richtig gestellt. Die Patienten geben
oft nur körperliche Beschwerden an („Mein Rücken schmerzt.”, „Mir ist schwindelig.”,
„Ich habe Kopfschmerzen.”) oder ihre Angaben sind unspezifisch („Ich bin fertig, ausgebrannt.”,
„Ich habe keine Energie mehr.”). Dahinter die Depression zu erkennen, ist nicht immer
leicht, genauso wenig, wie zwischen normalen psychischen Reaktionen (z.B. Trauer)
und einer behandlungsbedürftigen Depression zu unterscheiden. Hilfreich könnten standardisierte
Tests sein, wobei die zwei Fragen „Fühlten Sie sich im letzten Monat häufig niedergeschlagen,
traurig, bedrückt oder hoffnungslos?” und „Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger
Lust und Freude an Dingen, die Sie sonst gerne tun?” kaum schlechter abschneiden als
der WHO–5–Fragebogen zum Wohlbefinden [1]. Aufwändigere Tests sind in den Ablauf einer hausärztlichen Praxis kaum einzugliedern.
Eine große Hilfe ist die Broschüre „Depression – Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission
der deutschen Ärzteschaft” [Abb. 2], in der die diagnostischen Schritte ebenso erläutert sind wie klare Regeln für die
Überweisung zu einem Facharzt [1].
Genauso wie eine Depression kann auch eine körperliche Erkrankung als ihre Ursache
für psychische Beschwerden übersehen werden. (Nicht umsonst werden in den Leitlinien
„Affektive Erkrankungen” der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie
und Nervenheilkunde (DGPPN) [8] unter Punkt „4. Zusatzuntersuchungen” wichtige Hinweise auf mögliche organische
Störungen gegeben). Hierbei sind vor allem Schilddrüsenfunktionsstörungen, Viruserkrankungen,
Medikamente (Betablocker, Antibiotika, Kortison u.a.), Leber– und Nierenerkrankungen
zu nennen.
Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass die Patienten oft an mehreren Krankheiten
leiden: Der Diabetiker kann sehr wohl depressiv sein und der Depressive eine Koronare
Herzkrankheit (KHK) haben. Wir müssen eine Depression ebenso aktiv suchen wie wir
auch nach somatischen Krankheiten systematisch forschen. Und wir dürfen den komorbid
Depressiven eine antidepressive Therapie aus Angst vor unerwünschten Arzneimittelnebenwirkungen
nicht vorenthalten. Als Beispiel sei die antidepressive Therapie bei KHK–Patienten
genannt. Hier wurden gerade zwei Studien veröffentlicht: Bis zu 27 % der Patienten,
die mit einer KHK stationär behandelt wurden, leiden an einer Depression, die zu einer
3–fach erhöhten kardialen Letalität führt. Die selektiven Serotonin–Wiederaufnahmehemmer
Sertralin (SADHART–Studie) und Citalopram (CREATE–Studie) hatten keine unerwünschten
kardiovaskulären Effekte und konnten wirksam bei KHK–Patienten eingesetzt werden.
Es profitierten vor allem die Patienten, die schon einmal wegen einer depressiven
Episode behandelt wurden [2]
[4].
Abb. 2 Broschüre „Depression – Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen
Ärzteschaft.
Wo ist der Weg aus der Chronifizierung?
Wo ist der Weg aus der Chronifizierung?
Die Krankheit Depression ist nicht nur schwerwiegend, sie kostet die Gesellschaft
auch viele Ressourcen und Geld. Psychische Erkrankungen sind die häufigste Ursache
für Berufsunfähigkeit. Der TK–Gesundheitsreport aus 2005 verzeichnete nach Angaben
des Verbandes Deutscher Rentenversicherter bei Männern einen Anstieg der Berufsunfähigkeit
von 8 % in 1983 auf fast 27 % in 2004. Bei Frauen erhöhte sich der Anteil von unter
10 % auf rund 37 % (#1) in demselben Zeitraum. Krankschreibungen aufgrund psychischer
Störungen haben bei sinkenden Gesamtzahlen in den letzten 5 Jahren um 20 % zugenommen
(TK–Gesundheitsreport 2005) [10]. Der Anteil der aufgrund einer Depression arbeitsunfähigen Erwerbstätigen wuchs
von 2000 bis 2004 um beachtliche 42 %. In 2004 waren absolut gesehen bereits 1 % der
Erwerbstätigen wegen Depression arbeitsunfähig (DAK–Gesundheitsreport 2005) [10].
Eine wichtige Aufgabe ist, eine Chronifizierung der Depression zu verhindern. Nur:
Wo sind die Schnittstellen, an denen die Profis die Patienten zu ihrer Arbeit zurück
begleiten – vielleicht mit weniger Arbeitszeit dafür mit mehr Verständnis für die
speziellen Probleme? Wer zeigt den Patienten ihre Stärken? Wir brauchen über die bisherigen
Netzwerke hinaus Kontakte u.a. über die verschiedenen Kostenträger, den Medizinischen
Diensten der Krankenversicherung (MDK) und den Betriebsärzten. Es bleibt eine wichtige,
eine spannende Diskussion.