Martin Zinkler
Der Landesbeauftragte für den Maßregelvollzug (MRV) in Nordrhein-Westfalen hat eine
Arbeitsgruppe eingerichtet, um Empfehlungen für die Allgemeinpsychiatrie zum Umgang
mit Risikopatienten zu entwickeln [1]. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass ein größer werdender Anteil der Patienten,
die in die forensische Psychiatrie eingewiesen werden, bereits vor Begehen der Anlasstat
allgemeinpsychiatrisch behandelt wurde. Unterschiedliche Trends in der forensischen
Psychiatrie mit zunehmenden Unterbringungszahlen, längeren Unterbringungen und verzögerten
Entlassungen – in der Allgemeinpsychiatrie dagegen mit kürzeren stationären Aufenthalten
– haben zu einer lebhaften Diskussion über das Verhältnis zwischen forensischer und
allgemeiner Psychiatrie geführt [1]
[2]
[3]
[4]
[5]
[6]. Priebe et al. [7]
[8] sprechen von „Reinstitutionalisierung”, einer Art Gegenreformation in der psychiatrischen
Versorgung: mehr Menschen befinden sich im betreuten Wohnen, mehr werden untergebracht
und mehr Menschen sind im Gefängnis.
Zu früh entlassene Patienten, so das Argument, würden straffällig und in den MRV eingewiesen.
Es gebe eine „Verschiebung” von Patienten von der Allgemeinpsychiatrie in die forensische
Psychiatrie. Um diesem Phänomen zu begegnen befürworten einige Autoren: a) längere
stationäre Aufenthalte für allgemeinpsychiatrische Patienten, speziell diese mit komorbiden
Störungen, b) die allgemeinpsychiatrische Verwendung von strukturierten Instrumenten
zur Risikoeinschätzung, wie sie in der forensischen Psychiatrie Verwendung finden,
und c) ambulante Behandlungsanordnungen (community treatment orders).
Vier Fragen stellen sich bei der kritischen Überprüfung dieser Überlegungen: Kümmert
sich die Allgemeinpsychiatrie heute weniger um junge Menschen mit psychotischen Störungen?
Wie kommt es, dass sich mehr Menschen mit schizophrenen Störungen im MRV befinden?
Welche Folgen haben kürzere Aufenthalte in der Allgemeinpsychiatrie? Wie effektiv
sind strukturierte Risikoeinschätzung und ambulante Behandlungsauflagen?
Psychiatrische Behandlung in Deutschland und vielen anderen Ländern ist einfacher
erreichbar als vor 30 Jahren, psychiatrische Kliniken sind näher am Wohnort, die Bedeutung
der Früherkennung und -behandlung psychotischer Störungen ist weithin akzeptiert,
der Gang zur Psychiaterin oder zum sozialpsychiatrischen Dienst ist kürzer und zahlreiche
neue psychiatrisch-psychotherapeutische Praxen wurden eröffnet. Dort, wo ambulante
Behandlungspläne erarbeitet werden, Institutsambulanzen bestehen und aufsuchend gearbeitet
wird, kümmert sich die Allgemeinpsychiatrie um die Gruppe von schwer erreichbaren
Patienten. Laut WHO-Bericht von 2008 [9] haben die meisten Patienten in Deutschland Zugang zu einer langfristigen aufsuchenden
Behandlung (assertive outreach). Die größer werdende Gruppe von Drehtürpatienten und
rechtlich Betreuten, höhere Fallzahlen und steigende Unterbringungszahlen in der Allgemeinpsychiatrie
[8]
[10]
[11] sprechen ebenfalls dagegen, dass sich die allgemeinpsychiatrische Versorgung von
einer bestimmten Gruppe von Patienten abgewendet habe.
Für die ansteigende Zahl von MRV-Patienten bieten sich drei mögliche Erklärungen an:
a) an Schizophrenie erkrankte Menschen werden häufiger straffällig als früher, b)
sie bleiben länger im MRV in Behandlung, und c) die Gerichte sind heute eher geneigt
in den MRV einzuweisen.
Gründe b) und c) haben kaum etwas mit der Behandlung in der Allgemeinpsychiatrie zu
tun, folgen aber gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten 40 Jahre: die Behandlung
schizophrener Patienten wird im Zuge der Psychiatriereform und seit der Einführung
effektiver Psycho- und Pharmakotherapien optimistischer beurteilt; das mag dazu führen,
dass die Gerichte eher in den MRV einweisen, in der Hoffnung damit das Beste für den
Betroffenen zu erreichen.
Mit einem wachsenden Sicherheitsbedürfnis in der Gesellschaft dürfte es zusammenhängen,
wenn die Behandlungszeiten im MRV länger werden. In Deutschland und anderen Ländern
Europas sind die Gefängnispopulationen angestiegen [12]
[13]
[14]. Verzögerte Entlassungen aus dem MRV können als sensibler und zeitnaher Indikator
dieses Trends gelten, denn die Dauer der Behandlung im MRV wird ja im Unterschied
zu Haftstrafen nicht im Voraus festgelegt, sondern hängt von aktuellen Faktoren ab,
von den vom Patienten noch ausgehenden Risiken, aber auch vom Zeitgeist und möglicherweise
sogar vom Tagesgeschehen, wenn sich spektakuläre Verbrechen ereignet haben und die
öffentliche Wahrnehmung solcher Ereignisse durch multiple Berichterstattung verstärkt
wird.
Möglicherweise werden Menschen, die an Schizophrenie erkrankt sind, heute häufiger
straffällig als früher, allerdings scheint dieser Trend im Verhältnis zur Häufigkeit
von schweren Gewalttaten insgesamt eher schwach. Bei Tötungsdelikten wurde der Frage
in Großbritannien, Neuseeland und Deutschland nachgegangen. Während die Zahl von Tötungsdelikten
in England und Wales in den letzten 40 Jahren zugenommen hat, ist der Anteil von Tötungsdelikten,
die von psychisch kranken Menschen begangen wurden, rückläufig [15]. In Neuseeland ist der Anteil der von psychisch Kranken begangenen Tötungsdelikte
an der Anzahl von Tötungsdelikten insgesamt von 19 % 1970 (vor der Deinstitutionalisierung)
auf 5 % im Jahr 2000 gesunken [16]. Die Autoren schließen, dass die vorliegenden Daten keine Rechtfertigung für eine
„Reinstitutionalisierung” darstellen. Erb et al. [17] fanden in Deutschland beim Vergleich einer Kohorte von 1955–1964 mit einer Kohorte
von 1992–1996 keinen Anstieg von Tötungsdelikten schizophren erkrankter Menschen seit
der Psychiatriereform.
Diese Entwicklung ist auch deshalb bemerkenswert, weil psychotische Störungen heute
eher häufiger und früher diagnostiziert werden [18]. Ob dabei die sozial härteren Bedingungen in globalisierten urbanen Siedlungsräumen,
Drogenkonsum oder eine größere Bereitschaft zur Diagnosestellung eine Rolle spielen,
kann hier offen bleiben, jedenfalls wäre bei häufiger oder früher diagnostizierten
psychotischen Störungen eine relative Zunahme von Gewalttaten von Patienten mit solchen
Störungen zu erwarten. Dass diese Entwicklung ausgeblieben ist, mag indes mit der
Arbeit der Allgemeinpsychiatrie zu tun haben, wenn früher nicht behandelte Patienten
heute erreicht und betreut werden.
Kürzere Aufenthaltsdauern in der Allgemeinpsychiatrie wurden als Folge der Psychiatriereform
angesehen [4], finden sich jedoch überall in der Medizin aufgrund besserer Behandlungsmöglichkeiten,
stationär und ambulant, besseren sozialen Hilfen, geringerem Stigma, weniger Bettenkapazität
bei mehr Einweisungen und dem Wissen um die unbefriedigenden Behandlungsergebnisse
und unerwünschten Folgen von langen stationären Behandlungen, z. B. die Probleme mit
im Allgemeinkrankenhaus erworbenen Infektionen.
In einem Cochrane Review von 2008 [19] wurde untersucht, ob kürzere Aufenthaltsdauern negative Folgen haben. Die Autoren
schließen, dass geplante kurze stationäre Aufenthalte bei Patienten mit schweren psychischen
Störungen nicht zum sogenannten Drehtürphänomen und zu Behandlungsabbrüchen führen.
Kurze Aufenthalte verbessern die Chancen bei der Arbeitssuche [19].
Diskutiert wird, ob sich die Allgemeinpsychiatrie für bestimmte Patientengruppen mehr
forensisch-psychiatrischer Arbeitsweisen bedienen sollte: längere Unterbringung, detailliertere
Risikoeinschätzung und längerfristige neuroleptische Behandlung, oft gegen den Willen
des Patienten. Dabei ist hinsichtlich der späteren Straffälligkeit lediglich die ambulante
Zwangsbehandlung einigermaßen gut erforscht: „beim gegenwärtigen Forschungsstand dürften
ambulante Behandlungsanordnungen (community treatment orders) keine effektive Alternative
zur Standardbehandlung sein. … Es ist schwer, sich eine andere gesellschaftliche Gruppe
vorzustellen, bei der 85 Personen ambulant zwangsbehandelt werden, um eine stationäre
Aufnahme zu vermeiden und 238 Personen ambulant zwangsbehandelt werden, um eine Verhaftung
zu vermeiden” (aus einem Cochrane Review von 2005) [20].
Die Frage des prädiktiven Werts bei der Risikoeinschätzung von Patienten mit schizophrenen
Störungen wurde von Szmukler diskutiert [21]
[22]. Weil sich die Risikoeinschätzung auf recht seltene Ereignisse (schwere Gewaltanwendung
gegen andere) bezieht, ist bei der Sensitivität und Spezifität derzeitiger Instrumente
zu erwarten, dass a) wegen der Seltenheit der Ereignisse viele Patienten als gewalttätig
eingeschätzt werden, aber nie gewalttätig werden und deshalb zu Unrecht zwangsbehandelt
und untergebracht werden, und dass b) nur ein geringer Anteil der Patienten erfasst
wird, die tatsächlich gewalttätig werden. In anderen Worten: jährlich müssten Tausende
Patienten zusätzlich untergebracht werden, um ein Tötungsdelikt zu verhindern, und
doch würde von den Patienten, die tatsächlich gewalttätig werden, nur einer von acht
untergebracht. Die methodischen Schwierigkeiten bei der Kriminalprognose wurden von
Volckart [23] ausführlich diskutiert.
Die Folgen konsequenter Anwendung von Risikoeinschätzungsinstrumenten in der allgemeinen
Psychiatrie wären zum einen durch präventives Einsperren eine vielfache Verletzung
von Menschenrechten [24], denn nur die allerwenigsten der präventiv eingesperrten Personen wären tatsächlich
straffällig geworden. Es würde sich an der Häufigkeit von Gewalttaten psychisch Kranker
kaum etwas ändern, denn die meisten späteren Gewalttäter würden durch die Risikoeinschätzung
nicht erfasst. Zum anderen wäre ein Wettbewerb um begrenzte finanzielle und personelle
Ressourcen in der Psychiatrie unausweichlich. Es käme zu einer Umverteilung von Behandlungs-
und Betreuungskapazitäten „zugunsten” solcher Patienten, die als Risikopatienten eingestuft
werden, und zuungunsten der Patienten, bei denen aufgrund klinischer Symptome und
subjektivem Leiden eine Behandlung geboten ist.
Die behauptete „Verschiebung” von Patienten von der allgemeinen zur forensischen Psychiatrie
aufgrund kürzerer stationärer Behandlungen erscheint wenig plausibel. Die beschriebenen
Trends im MRV sind besser erklärbar als Abbildungen eines gesellschaftlichen Trends
mit größerem Sicherheitsbewusstsein und geringerer Risikotoleranz. Sollten sich die
Empfehlungen zu strukturierter Risikoeinschätzung und ambulanter Zwangsbehandlung
in der Allgemeinpsychiatrie durchsetzen, hätte das empfindliche Folgen für die Menschenrechtssituation
in der Psychiatrie; begrenzte finanzielle und personelle Mittel würden einer bedarfsgerechten
Versorgung dadurch verloren gehen.