PiD - Psychotherapie im Dialog 2009; 10(1): 67-68
DOI: 10.1055/s-0028-1090195
Résumé

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sexuelle Identitäten: Trans- / Intersexualität

Wolfgang  Senf, Bernhard  Strauß
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Publication Date:
13 March 2009 (online)

Wir hoffen sehr, dass wir mit diesem Heft dazu beigetragen konnten, zunächst einmal Unklarheiten und Unsicherheiten bezüglich der Transsexualität und Intersexualität zu beseitigen und Sie, liebe Leserinnen und Leser, dazu motiviert zu haben, sich dieser Klientel in Ihrer psychotherapeutischen Arbeit stellen zu wollen.

Jene augenscheinlich dichotome Kategorie des Geschlechts ist ohne Frage eine der stabilsten Kategorien für die Selbstzuschreibung für den Menschen. Die körperliche und besonders die seelische geschlechtliche Entwicklung mögen zwar meistens konfliktreich verlaufen, letztlich sind sie aber mehr oder weniger eindeutig. Die darauf bezogenen Konflikte sind insbesondere soziokultureller Natur und bedingt durch gesellschaftliche Rollenfestschreibungen für Männer und Frauen, deren Vorgaben vielen Menschen Probleme bereiten.

Dies gilt übrigens auch für Transsexuelle, die ihren mühseligen Weg in ein anderes Geschlecht erfolgreich hinter sich gebracht haben. Erst kürzlich berichtete der Spiegel (49 / 2008) über eine Studie, der zufolge „neue Rollen” mit „alten Mustern” verbunden sind: Untersucht wurden in einem Projekt der Universitäten von Chicago und New York Transsexuelle im Hinblick auf ihre beruflichen Erfahrungen vor und nach der Geschlechtsumwandlung. Es zeigte sich, dass Männer, die zu Frauen geworden waren, sich in ihrer neuen Rolle häufiger diskriminiert fühlten als Frauen, die zu Männern umgewandelt waren. Außerdem zeigte sich, dass Mann-zu-Frau-Transsexuelle durchschnittlich ein Drittel ihres Verdienstes einbüßten, während Transsexuelle, die zu Männern geworden waren, an Einfluss und Autorität gewannen, ihre Jobs häufiger behalten und mehr verdienen konnten. Daran sieht man, dass die kulturell-soziale Matrix, die geschlechtsbezogene Inhalte definiert, von großer Bedeutung ist.

Auf diesen Aspekt sind wir in diesem Heft sehr viel weniger eingegangen als auf die psychischen Nöte und Nötigungen, denen Transsexuelle und Intersexuelle ausgesetzt sind. Wir möchten aber auch dazu zur Diskussion anregen.

Mit diesem Heft wollen wir die Phänomene beschreiben und die wissenschaftlichen Befunde zur Transsexualität und zur Intersexualität skizzieren, die aus psychologischen bis hin zu neurobiologischen Studien stammen. Speziell das Gebiet der Intersexualität ist in jüngster Zeit mit sehr viel Eifer neu beforscht und konzeptualisiert worden und hat gezeigt, dass lange gültige Auffassungen, bspw. über die durchschlagende Wirkung des Zuweisungsgeschlechtes, doch sehr stark infrage gestellt werden müssen.

Die Wissenschaft hat dieses Phänomen entdeckt, die Betroffenen haben inzwischen begonnen, sich vermehrt zu organisieren. Dies ist schon lange der Fall im Zusammenhang mit der Transsexualität, wo vor Jahren bereits Volkmar Sigusch beobachtet zu haben glaubte, dass unter den Transsexuellen eine Befreiungs- und Aufbruchsbewegung zu beobachten sei, die jener gleicht, die etwa zu Anfang des letzten Jahrhunderts bei den Homosexuellen entstanden war.

Mittlerweile gibt es einen Konsens bezüglich der aus psychotherapeutischer Sicht notwendigen diagnostischen und Interventionsmaßnahmen bei der Transsexualität, wie sie bspw. in den veröffentlichen Standards of Care dargestellt sind. Sophinette Becker macht dies in ihrem Kapitel deutlich. Annette Güldenring beschreibt den Prozess und die damit verbundenen Konflikte aus der Sicht einer Betroffenen. Diese beiden Beiträge beschreiben naturgemäß den Spannungsbogen zwischen wissenschaftlich-klinischer Professionalität einerseits und reflektierter Betroffenheit andererseits. Hierin zeigt sich vielleicht das Besondere dieser „Störung”, die eigentlich eine „besondere Lebensentwicklung” ist.

Darüber hinaus können sich Leser in diesem Heft über die rechtlichen Regelungen informieren. Die Kommentierung der rechtlichen Lage und deren Perspektiven durch Deborah Reinert ist zwangsläufig kontrovers, und wir erwarten, dass die von ihr vorgetragenen Auffassungen zu lebhafter Diskussion führen werden. Gerade in den rechtlichen Aspekten verdichtet sich der Spannungsbogen zwischen divergenten Auffassungen der Transsexualität als Krankheit und besonderem Lebensstil.

Realitäten sind die bei Wunsch notwendigen Schritte im Kontext der medizinischen und operativen Behandlungen. Realitäten könnten auch die vorliegenden Befunde schaffen, welche die Neurobiologie im Zusammenhang mit der Transsexualität in jüngster Zeit erbracht hat.

Als ein eigenes Thema erscheint (auch in diesem Heft) die Intersexualität. Hertha Richter-Appelt und Katinka Schweitzer sind Repräsentanten einer der aktivsten Forschergruppen, die sich in jüngster Zeit mit der Intersexualität befasst haben. In zwei Kapiteln beschreiben die beiden Autorinnen zunächst die Erscheinungsformen der Intersexualität und die damit verbundenen potenziellen Störungen der Geschlechtsentwicklung, die ebenso wie die Transsexualität häufig eine Psychotherapie notwendig machen können. In dem Beitrag „Leben mit Intersexualität” gehen die Autorinnen deutlich weiter und zeigen auf, wie sie – wiederum auf der Basis ihres umfangreichen Forschungsprojektes – die Behandlungserfahrungen und deren Konsequenzen für die Betroffenen einschätzen. Ähnlich wie die Beiträge zur Transsexualität kommen auch die Hamburger Kapitel zu dem Schluss, dass es notwendig ist, psychosozial Tätige für die Probleme, Nöte und Eigenheiten intersexueller Menschen zu sensibilisieren und sie dafür zu öffnen, mit diesen Personengruppen auch intensiv zu arbeiten.

Was können wir Herausgeber aus der Erarbeitung und Zusammenstellung dieses Heftes resümieren? Es ist die Erfahrung, dass wir in diesen Dingen nie auslernen werden. Das hat auch damit zu tun, dass wir uns als nicht direkt Betroffene den Phänomenen einer veränderten Geschlechtsidentität nur verstehend annähern können. Jene vermeintlich dichotome Kategorie des Geschlechts ist zwar ohne Frage eine der stabilsten Kategorien für die Selbstzuschreibung für den Menschen. Was aber passiert, wenn diese Kategorie nicht mehr greift?

Stellen Sie sich selbst einmal vor, Sie würden feststellen, sich plötzlich nicht mehr Ihrem biologischen Geschlecht zugehörig zu fühlen, oder Sie würden erfahren, dass Ihr Partner, ein naher Verwandter oder ein Kind sich entschieden hat, ab sofort im anderen Geschlecht zu leben?

Ihre Antworten und Ideen dazu würden uns interessieren (Email: wolfgang.senf@uni-due.de).

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