Einleitung
Einleitung
Die Tuberkulose erlebte im letzten Jahrzehnt eine Renaissance mit einer Zunahme um
ca. 20 % binnen 5 Jahren [4 ]. Ursächlich hierfür könnten die Verringerung des BCG-geimpften Anteils der Bevölkerung,
die Erhöhung des Anteils von Migranten und sozial benachteiligten Personen, die HIV-Infektion
sowie die weitere Verbreitung von immunsuppressiv wirkenden Medikamenten sein. Deswegen
werden auch wieder häufiger Antituberkulosemittel therapeutisch eingesetzt. Dermatologen
sollten daher die möglichen Nebenwirkungen dieser Präparate auf das Hautorgan bewusst
sein, und durch deren Kenntnis in Kooperation mit den behandelnden Pulmonologen frühzeitig
intervenieren, auch um schweren systemischen Symptomen wie bei der Pellagra vorzubeugen.
Kasuistik
Kasuistik
Wir berichten über einen 73-jährigen Patienten, bei dem seit vier Monaten eine vierfache
Tuberkulostatika-Kombinationstherapie mit Ethambutol 1200 mg, Pyrazinamid 2500 mg,
Isoniazid 300 mg und Rifampicin 600 mg tgl. wegen einer nicht offenen, histologisch
gesicherten Lungentuberkulose durchgeführt wurde. Zwei Wochen später entwickelte sich
ein stammbetontes deutlich juckendes makulopapulöses Exanthem, woraufhin nach etwa
sechs Wochen zunächst Ethambutol und Pyrazinamid (Pyrafat®), die von den vorbehandelnden
Kollegen als hierfür wahrscheinlich ursächlich angesehen wurden, abgesetzt wurden.
Trotz dieser Maßnahme und lokaler Kortikosteroid-Anwendungen kam es zu einem weiteren
deutlichen Progress des Exanthems. Daraufhin wurden nach sechs Wochen auch Isoniazid
und Rifampicin abgesetzt und der Patient stationär eingewiesen.
Bei Aufnahme fand sich eine Suberythrodermie mit Hyperkeratosen und Rhagaden palmoplantar.
Die peripheren Lymphknoten fanden sich palpatorisch nicht vergrößert.
Auch zum Ausschluss eines kutanen T-Zell-Lymphoms wurde eine Probebiopsie durchgeführt.
Histologisch fanden sich Veränderungen (herdförmige Spongiose, perivaskuläres und
interstitielles lymphohistiozytäres Infiltrat mit vereinzelten eosinophilen Granulozyten),
die mit einem Arzneimittelexanthem vereinbar waren.
Wir behandelten lokal initial mit Methylprednisolonaceponat-Creme im Gesicht und Triamcinolon
0,1 % in Ungt. leniens am Körper sowie mit Argentum nitricum und Urea 10 % in Unguentum
leniens palmoplantar. Wegen der Grunderkrankung verzichteten wir auf die systemische
Gabe von Kortikosteroiden. Symptomatisch gaben wir intern Clemastin. Nach Rücksprache
mit den behandelnden Pulmonologen begannen wir unter stationärer Kontrolle mit der
erneuten Gabe von Ethambutol und Pyrazinamid. Eine vorherige epikutane Testung war
wegen der Suberythrodermie nicht möglich. Trotz der Reexposition mit diesen Antituberkulosepräparaten
kam es, auch unter Ausschleichen der Lokaltherapie und schließlichem Umsetzen auf
pflegende Externa allein, binnen 14 Tagen allmählich zu einer vollständigen Abheilung
und zu keinem Rezidiv des Exanthems. Wir entließen den Patienten in ambulante Weiterbehandlung
mit der Maßgabe, ihn etwa 4 Wochen nach dem Ende der lokalen Steroidanwendungen zur
Epikutantestung und ggf. oralen Expositionstestung von Isoniazid und Rifampicin wiedervorzustellen,
da die Pulmonologen zumindest mit einer tuberkulostatischen Dreifach-Kombination weiter
behandeln wollten.
Eine Woche vor der beabsichtigten Testung wurde der Patient dann Anfang August während
einer hochsommerlichen Schönwetterperiode mit unter Ethambutol und Pyrazinamid neu
aufgetretenen Hautveränderungen vorgestellt. Er klagte über Juckreiz der Herde. Diarrhoen
wurden nicht angegeben. Es fanden sich flächige, unscharf begrenzte und gering schuppende
Erytheme an den Streckseiten der Hände ([Abb. 1 a ]), am Capillitium, an den Schläfen, an der Stirn, dem Nasenrücken und den Unterlidern,
am Dekolleté sowie an den Streckseiten der Unterschenkel und proximalen Fußrücken.
Die Unterlippe fand sich deutlich geschwollen, gerötet und erosiv und war großenteils
von einer grau-weißlichen bis hämorrhagisch tingierten Kruste bedeckt ([Abb. 2 a ]). Das Nikotinamid im Serum fand sich drei Tage nach Beendigung der Pyrazinamideinnahme
mit 9 ng/ml am untersten Rand des Normbereichs (8 – 52 ng/ml). Der Metabolit Vitamin
B6 (Pyridoxol) fand sich im Sammelurin mit 0,27 µmol/24 h. (Normbereich ≥ 5 µmol/24 h)
deutlich erniedrigt. Die 5-Indolessigsäure zum Ausschluss eines Karzinoids und die
Gesamtporphyrine zum Ausschluss einer Porphyrie waren im Sammelurin negativ bzw. im
Normbereich. Antinukleäre Faktoren und dsDNS-Antikörper fanden sich negativ. Die Erythemschwellen
für UV-A und UV-B waren auch in der Ablesung nach 72 Stunden unauffällig.
Aufgrund der bekannten photosensibilisierenden Eigenschaften von Pyrazinamid und der
Morphe und insbesondere Lokalisation der aktuellen Hautveränderungen stellten wir
die Verdachtsdiagnose eines medikamentös induzierten Pellagroids und empfahlen dem
Patienten Lichtschutz durch entsprechendes Meidungsverhalten auch hinter (Auto-) Fensterglas,
geeignete lange Bekleidung und Kopfbedeckung sowie die topische Anwendung eines Sunblockers
mit hoher Schutzwirkung gegen UV-B und UV-A (Anthelios XL 50+ Crème Fondante®). Drei Tage später wurde die Pyrazinamid-Medikation durch die Pulmonologen
abgesetzt. Bei Wiedervorstellung drei Tage später fanden sich sämtliche Haut- und
Schleimhautveränderungen ohne weitere spezifische Therapie weitestgehend abgeheilt
([Abb. 1 b ] und [2 b ]). In der anschließenden Epikutantestung ließ sich keine Kontaktsensibilisierung
vom Spättyp gegen Isoniazid und Rifampicin nachweisen. Auf eine orale Provokationstestung
mit diesen Substanzen wurde zunächst verzichtet, da eine Fortsetzung der tuberkulostatischen
Therapie seitens der Pulmonologen nicht mehr für erforderlich gehalten wurde, und
somit die Gefahr einer Rezidivauslösung des Arzneimittelexanthems durch die Provokation
unverhältnismäßig gewesen wäre.
Abb. 1 Hochsommerlich lichtexponierte Handrücken eines 73-jährigen Patienten unter einer
oralen tuberkulostatischen Therapie mit Pyrazinamid (a ) und sieben Tage nach Beginn konsequenten Lichtschutzes bzw. drei Tage nach Absetzen
des Medikaments (b ). Pellagroide Erytheme mit Schuppung und rascher Rückbildung ohne weitere spezifische
Therapie.
Abb. 2 Gesicht mit Unterlippe sowie Dekolleté desselben Patienten unter Therapie mit Pyrazinamid
(a ) und nach Beginn konsequenten Lichtschutzes bzw. Absetzen des Medikaments (b ). Pellagroide Erytheme mit Schuppung periorbital und am Nasenrücken und am Dekolleté
und ödematöser Lippenschwellung mit Krustenbildung und rascher Rückbildung ohne weitere
spezifische Therapie.
Diskussion
Diskussion
Als Pellagra wird eine polysymptomatische Erkrankung bezeichnet, die aufgrund eines
Mangels an der essenziellen Aminosäure Tryptophan bzw. des Vitamins B3 (Nikotinsäureamid,
Nikotinamid) aufgrund Malnutrition (z. B. durch einseitige Mais- oder Reisernährung)
oder einer Resorptionsstörung (Harnup-Syndrom) entsteht. Weitere, sekundäre Ursachen
für Tryptophan- bzw. Nikotinamidmangel sind das Karzinoid, chronisch-entzündliche
Darmerkrankungen, chronische Diarrhoen, AIDS, chronischer Alkoholismus und verschiedene
Medikamente. Zu letzteren gehören neben einigen Chemotherapeutika und Psychopharmaka
auch die Tuberkulostatika Isoniazid, Pyrazinamid und Ethionamid. Letztere Substanzen
sind vermutlich aufgrund ihrer chemisch ähnlichen Struktur kompetitiv zu Nikotinamid
bei der Synthese von Nikotinamid-Adenosid-Dinukleotid-Phosphat (NADP), einem essenziellen
Koenzym der zellulären Atmungskette, und bei der Synthese von Pyrimidinen und von
Vitamin B6 (Pyridoxol). Die klinischen Symptome bei der Pellagra können sich in den
drei „D” Dermatitis, Diarrhoe und Demenz manifestieren, also in Organsystemen, in
denen ein besonders hoher Zellumsatz oder ein besonders hoher Energiebedarf besteht.
In etwa 80 % der Pellagra-Fälle sind Hautsymptome vorhanden, die sich typischerweise
initial als Erytheme in lichtexponierten Hautarealen, wie dem Gesicht, dem Dekolleté
und den Streckseiten von Unterarmen und Händen sowie von Unterschenkeln und Füßen,
manifestieren. Die Erytheme können vesikulo-bullös, verkrustet und deutlich ödematös
geschwollen sein. Im weiteren Verlauf über einige Wochen können Hyperpigmentierungen
(Pellagra-Maske, Halsband von Casàl [Erstbeschreiber 1762 bzw. Stadt in Süditalien]),
pergamentartige Atrophie und Trockenheit sowie eine starke Schuppung die Folge sein.
Dieser typische Zustand des pellagroiden Erythems erlaubt häufig die Diagnose, bevor
es zum Auftreten gastroenterologischer oder neuropsychiatrischer Symptome kommt. Auch
Glossitis und Dysphagien können vorkommen. Unbehandelt kann die Pellagra in 4 bis
5 Jahren zum Tode durch Kachexie führen [9 ]. Zu den klinischen Differenzialdiagnosen des pellagroiden Erythems zählen der kutane
Lupus erythematodes, die Porphyria cutanea tarda, andere Photodermatosen und Pemphiguserkrankungen
[6 ].
Der genaue Mechanismus der Photosensibilisierung bedingt durch Vitamin B3-Mangel ist
unbekannt. Vermutet kann jedoch werden, dass die Schädigung des Energiestoffwechsels
und der Pyrimidin-Nukleotidsynthese die Reparaturmechanismen des Hautorgans auf UV-induzierte
Schädigungen beeinträchtigen.
Pyrazinamid ist ein tuberkulozid wirkendes Chemotherapeutikum, das in Mehrfachkombination
neben anderen Tuberkulostatika oder als Reservemedikament bei anderwärtig resistenten
Mycobacterium-tuberculosis-Stämmen eingesetzt wird, da keine Kreuzresistenzen zu den
meisten gängigen Tuberkulostatika bekannt sind. Der genaue Wirkmechanismus ist unbekannt,
es wird jedoch im Tuberkelbazillus intrazellulär aufgrund seiner Ähnlichkeit mit Nikotinamid
enzymatisch in die ebenfalls antimykobakteriell wirksame Pyrazincarbonsäure umgewandelt.
Unseres Wissens wurde erst ein Fall einer durch Pyrazinamid im Rahmen einer Polychemotherapie
mit Antitubekulosemitteln induzierten Pellagra explizit publiziert [7 ]; laut Herstellerangaben wurde eine Photosensibilisierung mit Auftreten von Hauterscheinungen
aber häufiger gemeldet. Demgegenüber sind Dutzende Fälle von Pellagra und pellagroide
Erythmen unter dem chemisch ähnlichen Tuberkulostatikum Isoniazid in der Literatur
beschrieben [10 ]. Möglicherweise bewirkt bei einem Teil dieser Patienten ein homozygoter Defekt der
N-Acetyltransferase eine verminderte Metabolisierung des Isoniazids [8 ]. Pyrazinamid könnte auch einen Einfluss auf den Porphyrinstoffwechsel haben [11 ].
Die Therapie der Pellagra besteht in der Beseitigung der wahrscheinlichen Ursachen,
wie z. B. dem Absetzen auslösender Medikamente und der Substitution von Vitamin B3
und Vitamin B6. Diese können auch prophylaktisch oder therapeutisch bei laufender
Tuberkulostatika-Therapie gegeben werden [7 ]. Gleichwohl kann es auch hierunter gleichfalls zum Auftreten von Pellagra kommen
[1 ]
[2 ]
[5 ]. Ein spezifische Lokaltherapie wird nicht empfohlen, lediglich unspezifisch pflegende
Externa [9 ]. In einem Falle wurde aber über die erfolgreiche topische Anwendung von Nikotinamid
im Bereich der Hautveränderungen berichtet [3 ]. Die Rolle von externen Lichtschutzmitteln wurde bislang noch nicht näher untersucht,
jedoch spricht unser Fall mit promptem Ansprechen auf die Applikation eines Sunblockers
dafür, dass diese wirksam sind und konsequent angewendet werden sollten.
Angesichts der wieder zunehmenden Bedeutung von Tuberkuloseerkrankungen [4 ] und der entsprechenden Zunahme von Patienten unter tuberkulostatischer Chemotherapie
sollten Dermatologen sich der Möglichkeit von pellagroiden Erythemen hierunter bewusst
sein und in Kooperation mit den behandelnden Pulmonologen frühzeitig intervenieren.
Danksagung
Danksagung
Wir danken Herrn Dr. med. Michael Praus, Plauen, Labormedizinische Partnerschaft Dres.
Scholz, Hummel, Praus, Grimmer und Schottmann für die Bestimmung des Vitamins B6 im
Sammelurin.