Zum Supplement Nr. 7 in der DMW 49 am 5.12.2008 – Zuschrift
Nr. 1
Trudy Bekkering und Jos Kleijnen haben im Auftrag des deutschen
Verbands forschender Arzneimittelhersteller (VFA) ein Gutachten
zum Verfahren der Nutzenbewertung von Arzneimitteln in Deutschland
erstellt. Bislang wurden solche Nutzenbewertungen alleine durch
das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit
im Gesundheitswesen (IQWiG) erarbeitet. Das Gutachten wurde jetzt
im European Journal of Health Economics [3] in
englischer Sprache und in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift
auf deutsch [2] praktisch zeitgleich veröffentlicht.
Einer der beiden Autoren (Jos Kleijnen) war als externer Sachverständiger
an mehreren Nutzenbewertungen des IQWiG aktiv beteiligt. Trotzdem
sind in dem Gutachten die Prozesse des IQWiG aus unserer Sicht nicht
angemessen beschrieben und seine Rahmenbedingungen nicht adäquat
berücksichtigt. Im Folgenden möchten wir diese
Aspekte erläutern.
Das IQWiG wurde 2004 gegründet. Seine aktuellen Methoden [8]
sind eine stabile Grundlage für
Entscheidungen im deutschen Gesundheitswesen und genügen
voll den wissenschaftlichen und rechtlichen Anforderungen [4]. Weitere Anpassungen und Erweiterungen
werden aber mit Sicherheit sinnvoll werden. Deshalb nehmen wir Anregungen
gerne auf, soweit sie auf die deutsche Situation anwendbar sind. Hier
liegt jedoch die entscheidende Schwäche des Gutachtens:
Bekkering und Kleijnen erheben das NICE („National Institute
for Health and Clinical Excellence”, Großbritannien)
zum internationalen Standard und unterschätzen dabei die
Bedeutung der strukturellen, gesetzlichen und kulturellen Vorgaben
des deutschen Gesundheitssystems. HTA-Institutionen (HTA = health
technology assessment ) mit wichtigen nationalen Aufgaben
sind immer an unterschiedliche Kontexte angepasst [9]
[13]
. Es ist sozusagen internationaler
Standard, dass sich die Verfahren der Nutzenbewertung von Land zu
Land unterscheiden. Eisenberg hat das als „Globalize the
evidence, localize the decision” umschrieben [6].
Für internationale Pharmaunternehmen beinhalten solche
lokalen Unterschiede allerdings eine zusätzliche Unsicherheit und
Erschwernis. Die Kritik von Bekkering und Kleijnen ist deshalb für
uns nicht neu. Der VFA und seine Mitgliedsfirmen haben die Vorgehensweise
des Instituts schon in der Vergangenheit wiederholt kritisiert und
insbesondere das NICE als Vorbild präsentiert [14]
[15].
Bereits im Dezember 2004 hatte ein Gutachter im Auftrag des VFA,
die IQWiG-Methoden 1.0 insbesondere mit denen des NICE verglichen [11].
Das neuerliche Gutachten von Bekkering und Kleijnen behandelt
im Wesentlichen folgende Themen: Scoping, Umgang mit externen Sachverständigen,
Stellungnahmen und Reviews, internationale EbM-Standards (EbM = evidenzbasierte
Medizin) und das Verhältnis von wissenschaftlicher Evaluation
zu Interpretation und Entscheidung (in der NICE-Terminologie als „assessment” und
„appraisal” bezeichnet).
Grundsätzlich stimmen wir Bekkering und Kleijnen zu:
Transparenz ist essenziell, ein Scoping-Prozess ist notwendig, EbM-Standards
sollten gelten und das Verhältnis von „Assessment” und „Appraisal” sollte
klar definiert sein. Wir sehen aber gute Gründe, warum
das IQWiG keine Kopie des NICE sein kann.
Scoping
Das Gutachten beschreibt ausführlich den Scoping-Prozess
des NICE mit der Empfehlung, ihn in Deutschland zu übernehmen. In
der Forderung, das IQWiG solle ein Scoping á la NICE einsetzen,
liegt ein häufiger Verständnisfehler: Während
beim NICE die Wahl der Bewertungsthemen, die methodische Festlegung
des Assessments und das Appraisal unter dem Dach einer Institution stattfinden,
ist in Deutschland zumeist der G-BA (= Gemeinsamer Bundesausschuss) als
Auftraggeber für die Wahl des Bewertungsthemas verantwortlich
und trifft später die Entscheidung (Appraisal), die dann unter
anderem auf den Ergebnissen der Nutzenbewertung beruht. Der GBA
beauftragt das IQWiG mit dem Assessment. Kennzeichnend ist aber,
dass der Auftrag bereits wesentliche Vorgaben für die Fragestellung
enthält, z. B. sind Patientengruppen und die zu
prüfende Technologie definiert.
Das Institut ist dann jedoch unabhängig in der Frage,
wie es einen Auftrag fachlich-methodisch bearbeitet. Diese enger begrenzte
Rolle des IQWiG im Vergleich zu der des NICE ist ein Grund dafür,
warum in Deutschland die präzise Formulierung der Fragestellung
als schrittweiser Prozess stattfindet. So lädt das IQWiG
in der Regel Patientenvertreter zu einem eigenen Treffen ein, um
sie in die Findung der patientenrelevanten Endpunkte einzubinden.
Wir denken nicht, dass der Prozess weniger transparent ist als
der des NICE. Das IQWiG stellt seinen Vorschlag zur methodischen
Ausgestaltung (vorläufigen Berichtsplan) in einer öffentlichen
Anhörung zur breiten Diskussion. In diese Diskussion sind
alle Gruppen eingebunden, die auch Bekkering und Kleijnen fordern.
Unser Prozess beinhaltet sowohl die Möglichkeit zur schriftlichen
Stellungnahme als auch zur Teilnahme an mündlichen Erörterungen.
Die dabei vorgebrachten Argumente werden dokumentiert und vom IQWiG
schriftlich gewürdigt (siehe unten). Dieser Diskussions-
und Würdigungsprozess wird nach Veröffentlichung
des Vorberichts noch einmal wiederholt.
Aus dem Auftraggeber-Auftragnehmer-Verhältnis zwischen
G-BA und IQWiG ergibt sich aber, dass sich der Präzisierungsprozess
des IQWiG nicht auf Aspekte erstrecken kann, die durch den Auftrag
vorgegeben sind.
Würdigung der Stellungnahmen
Bekkering und Kleijnen behaupten, dass das IQWiG Stellungnahmen
nicht offen evaluiere und dass es daher unklar sei, ob sie zu Änderungen
im Bericht geführt hätten oder nicht. Diese Wahrnehmung erstaunt
uns, weil die Dokumentation und Würdigung der Stellungnahmen
ein Standardelement jeder IQWiG-Nutzenbewertung ist; dazu werden
eigene Dokumente erstellt und auf der Internetseite www.iqwig.de
veröffentlicht. Diese Würdigungen schließen
eine Beschreibung ein, welche Konsequenzen die in den Stellungnahmen
vorgebrachten Argumente für das Projekt haben.
Es ist allerdings die Regel, dass wir viele und ausführliche
Stellungnahmen erhalten, die in vielen vorgebrachten Argumenten
identisch sind. In dieser Situation haben wir uns aus Effizienzgründen
entschieden, identifizierte Argumente nur einmal zu würdigen
und zu kommentieren. Wir nehmen den Hinweis, dass Bekkering und Kleijnen
unsere Würdigungen nicht als solche wahrnehmen, jedoch
als Anregung, die redaktionelle Darstellung zu überprüfen.
Umgang mit Reviewern und Reviews
Bekkering und Kleijnen fordern eine Veröffentlichung
externer Reviews. Es muss betont werden, dass der zentrale Review
der IQWiG-Nutzenbewertungen durch das öffentliche Stellungnahmeverfahren
stattfindet, an dem jeder teilnehmen kann, nicht nur „Stakeholder” [8]
. Alle Stellungnahmen werden dann veröffentlicht
(siehe oben). Gesonderte „Reviews” beauftragt
das IQWiG nur als Element der internen Qualitätssicherung.
Im Übrigen räumen Bekkering und Kleijnen ein,
dass auch das NICE externe Reviews nicht veröffentlicht.
Veröffentlichung der Namen der externen
Sachverständigen
Das IQWiG ist gesetzlich verpflichtet, bei Nutzenbewertungen
regelhaft mit externen Sachverständigen zusammenzuarbeiten.
Es trifft zu, dass das IQWiG die Namen dieser externen Sachverständigen
erst relativ spät im Laufe des Verfahrens veröffentlicht.
Hintergrund ist, dass einige unserer externen Sachverständigen
selbst um diesen Schutz bitten, weil sie fürchten, unter
Druck gesetzt zu werden. Wir bedauern diese Situation, müssen
sie aber vorerst akzeptieren. Wir müssen gewährleisten,
dass Transparenz nicht denen schadet, die mit dem IQWiG kooperieren.
Veröffentlichung der Zwischendokumente
der externen Sachverständigen
Bekkering und Kleijnen [2] fordern,
dass das IQWiG „Berichte” der externen Sachverständigen
publiziert. Eine solche Veröffentlichung ist im Prozess
des NICE sinnvoll, da dort die externen Sachverständigen
alleine das Assessment übernehmen.
In Deutschland ist das Assessment aber gerade eine gemeinsame Aufgabe von IQWiG und externen
Sachverständigen. Eine Nutzenbewertung entsteht erst durch
den gemeinsamen Input, so dass eine Veröffentlichung von
Zwischendokumenten das Assessment zersplittern würde. Dieses
gemeinsame und konsentierte Assessment wird durch den Vorbericht
dokumentiert. Darüber hinaus erfordern die mit den Arzneimittelherstellern
getroffenen Vertraulichkeitsvereinbarungen zur Überlassung bislang
unveröffentlichter Daten einen besonderen Umgang mit diesen
Daten durch das IQWiG. Diese Daten müssen auch aus rechtlichen
Gründen institutsintern gehandhabt werden. Im Unterschied
zum NICE veröffentlicht das IQWiG dann aber alle Daten,
die für die Nutzenbewertung relevant sind. Auch das halten
wir für ein wichtiges Element der Transparenz.
Im Übrigen trägt das IQWiG allein die Verantwortung
für die Qualität der Berichte, so dass auch das
letzte Wort beim IQWiG liegen muss. Falls externe Sachverständige eine
Sachlage nicht angemessen durch das IQWiG interpretiert sehen, steht
es ihnen frei, das auch öffentlich zu kritisieren.
Internationale EbM-Standards
Bekkering und Kleijnen [2] behaupten,
dass die Bewertung der „best available evidence” internationaler
EbM-Standard sei. Das mag für die Leitlinien gelten, die
das NICE erstellt – das gilt aber sicher nicht für die
Erstellung von HTA-Berichten [12].
Hinzu kommt, dass es beim IQWiG zumeist um die Erarbeitung von
Nutzenbewertungen im Kontext der deutschen Sozialgesetzgebung geht.
Der Auftrag der Nutzenbewertung beinhaltet primär einen
Nachweis von Kausalität. Schließlich sind es ja auch
immer Kausalitätsbehauptungen, mit denen zum Beispiel Hersteller
die Überlegenheit einzelner Arzneimittel begründen. Da
ist es selbstverständlich, dass auch bei der Nutzenbewertung
Kausalitätsnachweise geprüft werden. Es ist internationaler Standard,
dass ein Kausalitätsnachweis hohe Anforderungen an die
Ergebnissicherheit stellt, also an die interne Validität.
Das IQWiG erhebt an keiner Stelle randomisierte kontrollierte
Studien zum „Dogma”, wie das Gutachten suggeriert,
sondern legt die Studientypen nach Fragestellung fest, die ausreichend
ergebnissicher sind. Das gilt auch für die Bewertung von Arzneimitteln.
Sofern es Hinweise auf einen dramatischen Effekt gibt, werden
sogar Fallserien betrachtet, wie zum Beispiel bei der Nutzenbewertung
bestimmter Formen der Stammzelltransplantation bei akuten Leukämien [7]
. Allerdings sind dramatische Effekte
bekanntermaßen eine seltene Ausnahme. Bei klein(er)en Unterschieden
sind prospektiv geplante, vergleichende Studien mit Sicherstellung
der Strukturgleichheit nötig, um mit einer ausreichenden
Ergebnissicherheit zu einer Aussage zu kommen [16].
Das ist internationaler Standard. Nicht das Beharren auf diesem
Prinzip, sondern das Abweichen davon bedarf einer besonderen Begründung [5]
[10]
. Wenn
es keinen Grund gibt, die „best available evidence” als
ausreichend ergebnissicher zu betrachten, dann teilt das IQWiG das
seinem Auftraggeber so mit. Im Übrigen kann während
des Anhörungsverfahrens Evidenz jeglichen Typs vorgebracht
werden, insbesondere mit Hinweis auf dramatische Effekte, die dann
vom IQWiG bewertet wird.
Wenn keine ausreichend sichere Aussage möglich ist,
erlaubt das weitere Verfahren innerhalb der Entscheidungsfindung
des G-BA dann aber sehr wohl die Abwägung anderer Argumente [4]
. Außerdem hat der G-BA ausdrücklich
die Möglichkeit, eine Entscheidung auszusetzen, um weitere Evidenz
mit ausreichender Ergebnissicherheit abzuwarten.
Verhältnis von Assessment zu Appraisal
Es trifft zu, dass Assessment und Appraisal in Großbritannien
anders voneinander abgrenzt sind als in Deutschland. Nutzenbewertungen
des IQWiG sind ausdrücklich mit der im Sozialgesetzbuch
V festgelegten Pflicht verbunden, eine Empfehlung abzugeben [1]. Die Formulierung des Gutachtens, dass
es dem IQWiG lediglich „gestattet” sei, Empfehlungen
abzugeben, ist deshalb irreführend. Das IQWiG formuliert
seine Empfehlung in Form eines kurzen Fazits, das eine Beschreibung
der gefundenen Nutzenbelege enthält und macht eventuell Vorschläge
für (weitere) Forschung.
International herrscht Verfahrensvielfalt
Wir finden es im Übrigen überraschend, dass
Bekkering und Kleijnen aus der Beschreibung einer einzigen Institution
(dem NICE) einen „internationalen Standard” ableiten.
Nach unserer Sichtung der publizierten Vergleiche internationaler
HTA-Organisationen kommen wir vielmehr zu der Schlussfolgerung,
dass jede Institution in ihren nationalen Strukturen und Diskussionsprozessen
jeweils anders vorgeht [13]
[17].
Eine Gleichsetzung von IQWiG und NICE ist auch deshalb unmöglich,
weil beide Institute zum Beispiel bei der Bewertung von Arzneimitteln
grundsätzlich andere Funktionen haben. Das NICE ist eine
4.-Hürde-Institution, die über den Zugang neuer
Technologien in den Markt entscheidet. Das IQWiG ist ein Institut
der nachträglichen Nutzenbewertung von Technologien, die
längst im Markt sind. Dieser Unterschied schafft zum Beispiel
ein fundamental unterschiedliches Verhältnis zu den „Stakeholdern”,
wie etwa Pharmafirmen, für die Bekkering und Kleijnen ihr
Gutachten erstellt haben: Im englischen Gesundheitswesen haben die
Firmen eine hohe Motivation, zu einer Beschleunigung der Verfahren
im NICE beizutragen, weil jeder Tag Verzögerung Umsatzverlust bedeutet.
In Deutschland gibt es hingegen eine systembedingte Motivation,
die Arbeit des IQWiG so lange wie möglich hinauszuzögern,
weil sich solange am Status Quo nichts ändert, bis der
G-BA auf der Basis des IQWiG-Berichts eine Entscheidung getroffen
hat. Schon allein aus diesem Grund müssen sich die Verfahren
des NICE und IQWiG unterscheiden.
Die vielfach durch Vertreter von Arzneimittelherstellern in Deutschland
erhobene und von Bekkering und Kleijnen geteilte Forderung, bei
der Nutzenbewertung „alle” Evidenzlevel zu recherchieren,
zu sichten und zu bewerten, würde auch den Aufwand für
die Projekte massiv erhöhen und die Bearbeitungszeit unangemessen
ausdehnen. Das Fehlen von Studien mit ausreichender Ergebnissicherheit
würde dadurch trotzdem nicht kompensiert, da sich klare Empfehlungen
nur aus Studien mit ausreichender Ergebnissicherheit ableiten lassen.
Angesichts der wesentlichen Kontextunterschiede zwischen NICE
und IQWiG halten wir das deutsche Verfahren der Nutzenbewertung
für gleichwertig und nicht für weniger transparent.
Jeder Interessierte hat Gelegenheit zu Mitarbeit und Kritik. Gleichzeitig
garantiert das Verfahren die wissenschaftliche Unabhängigkeit
der Nutzenbewertung.
Aus unserer Sicht liegt die größte Gefährdung
von Transparenz ohnehin in der Tatsache, dass nach wie vor Pharmafirmen und
andere die Ergebnisse von Studien nicht, nicht vollständig
oder nur verzögert veröffentlichen. Wir stimmen
deshalb völlig mit der Forderung von Bekkering und Kleijnen überein,
dass „Hersteller alle Informationen zur Nutzenbewertung
zur Verfügung stellen” sollten. Wir sind jetzt gespannt,
wie die Mitgliedsfirmen des VFA diesen Aspekt des Gutachtens umsetzen.