Der Klinikarzt 2009; 38(2): 62
DOI: 10.1055/s-0029-1214174
Medizin & Management

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Infodemiologie am Beispiel Influenza – Die neuen Chancen des Internets

Rainer H. Bubenzer
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Rainer H. Bubenzer

Medizin– und Wissenschaftsjournalist Multi MED vision – Berliner Medizinredaktion

Lützowstraße 47

10785 Berlin

Fax: 030/806136-80

Email: Rainer@Bubenzer.com

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Publication Date:
26 February 2009 (online)

Table of Contents

Gesundheitsverantwortliche in Politik oder Gesundheitswesen sowie Ärzte haben ein begründetes Interesse, aussagekräftige epidemiologische Surveillance–Informationen über grassierende Seuchen zu bekommen. Hierfür gibt es verschiedene klassische Ansätze auf Basis von Sentinelsystemen, Apotheken– oder Verbraucherumfragen sowie den neuen Verfahren der „Infodemiologie”, also der Erhebung epidemiologischer Verfahren mit Mitteln der Informationstechnologie.

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Surveillancesystem der Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI)

In Deutschland ist das Surveillancesystem der Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI) am bekanntesten, das seit 1992 Daten zur Influenzaaktivität in der Bundesrepublik Deutschland sammelt. Neben der Überwachung des Syndroms der „akuten respiratorischen Erkrankungen” (ARE) in etwa 500 Sentinelpraxen, koordiniert vom Deutschen Grünen Kreuz (www.dgk.de/agi), gehören die virologische Diagnostik von Rachenabstrichen, durchgeführt von den Nationalen Referenzzentren für Influenza (www.rki.de/DE/Content/Institut/OrgEinheiten/Abt1/FG12/Influenza/influenza__Tab.html), sowie die Sammlung von Meldedaten direkter Virus–Nachweise von Influenza, die beim Robert Koch–Institut (www.rki.de) eingehen (seit 1.1.2001 ist der direkte Influenza–Nachweis gemäß Infektionsschutzgesetz meldepflichtig), zu den Aufgaben der AGI (influenza.rki.de).

Die jeweils zwischen 40. Woche eines Jahres bis zur 20. Woche des Folgejahres in den Sentinelpraxen zur Häufigkeit von akuten respiratorischen Erkrankungen (ARE) freiwillig gesammelten Daten werden von der AGI in Grafiken sowie Wochen– und Saisonberichten aufgearbeitet und publiziert. Sie sind kostenfrei abrufbar. Sowohl die Datenerfassung als auch die Verarbeitung der teilweise stark fehlerbehafteten Daten – ein Problem aller Sentinelsysteme – sind von der AGI selbst gut dokumentiert [1]. Ein Beispiel ist der längere Datenausfall in Ferienzeiten, vor allem zwischen den Jahren, wenn viele Sentinelpraxen geschlossen sind. Die trotz Meldepflicht vergleichsweise geringe Nachweisrate von Influenzainfektionen hat zudem die methodischen Fragen nach der Aussagekraft von ARE–Nachweisen als Beleg tatsächlich stattfindender saisonaler Influenza nicht gelöst. Ganz abgesehen davon, dass das AGI–System auf eine Influenza–Pandemie außerhalb des Sentinelzeitraums zunächst überhaupt nicht anspricht.

Kommentar

Die – als Begriff vom Medizininformatiker Günther Eysenbach geprägte – Infodemiologie ist ein neuer Zweig der Epidemiologie [3]. So beeindruckend die ersten Ergebnisse sein mögen, so kritisch sollte zunächst das Werkzeug selbst untersucht werden. Nicht zuletzt, weil die Entstehung und Speicherung der verwendeten Grunddaten – in den beiden Fällen mit Google–Verwendung – nicht transparent und von Wissenschaftlern nicht kontrollierbar ist. Umgekehrt würde eine verstärkte Einbeziehung von subjektiven Nutzer(=Patienten)–Daten in die Epidemiologie einem grundlegenden Trend in den Medizinwissenschaften entsprechen – nämlich neben harten Endpunkten verstärkt auch „weiche” Parameter wie Lebensqualität oder eben die Symptomatik von Patienten zu berücksichtigen.

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Google Flu Trends

2008 präsentierte der weltweit größte Suchmaschinenbetreiber Google das System Google Flu Trends (www.google.org/flutrends) für die USA. Das System dokumentiert Nutzeranfragen an die Suchmaschine, die sich auf Influenza bzw. akute Atemwegserkrankungen beziehen [2]. Und präsentiert diese Daten zeitnah und etwa 2 Wochen früher als das US–amerikanische Sentinelsystem der Centers of Disease Control and Prevention in Atlanta (CDC, www.cdc.gov/flu), das ähnlich wie das bundesdeutsche AGI–System arbeitet. Hierzu haben die Mathematiker bei Google ein vollautomatisches Analysesystem entwickelt, das Hunderte von Millionen von Suchanfragen seit Anfang 2004 mit den CDC–Analysen statistisch korreliert hat. Die aussagekräftigsten Anfragen beschreiben seither als gewichteter Summenscore die Ergebnisse von Google Flu Trends. Ohne großen wissenschaftlichen Widerspruch wurde das System als wertvolle Ergänzung der „klassischen” Influenza–Surveillance akzeptiert.

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FluSearch Index: Influenza–Aktivität in Deutschland

Mit dem „FluSearch Index” (FSI, www.medrat.de) [Abb. 1] haben Berliner Wissenschaftler jetzt ein System vorgestellt, das auf Basis des gleichen Datenbestandes – aber mit anderer Analysetechnik (rund ca. 65 Millionen Suchanfragen) – Daten zur Influenza–Aktivität in Deutschland ermittelt. Bei weitgehender Kongruenz der von der AGI erhobenen ARE–Aktivität mit dem FSI sind epidemiologisch letztlich nur die Publikationszeitpunkte relevant. Technisch bedingt liefert der FSI seine Informationen mit zweitägiger Verzögerung, also – wie auch Google – nicht ganz in Echtzeit. Vergleichbar zu Flu Trends ergibt sich jedoch im Vergleich zum Publikationsdatum der AGI–Daten ein Zeitunterschied von 4 bis mehr als 10 Tagen, sowie eine vollständige Datenabdeckung zwischen 20. und 40. Kalenderwoche. Auf der vorgestellten Website finden sich methodische Hinweise sowie eine Diskussion typischer Probleme von Epidemiologie auf Basis von Internetnutzungsdaten. Beispielsweise die Auswirkungen von medialen Angstkampagnen auf Suchmaschinen–Nutzung.

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Abb. 1 Hohe Übereinstimmung: FluSearch Index vs AGI Praxisindex (aktuelle Daten online)

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Literatur

  • 1 Uphoff H, Buchholz U, Lang A. et al. . Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz.  2004;  47 279-287
  • 2 Ginsberg J, Mohebbi MH, Patel RS. et al. .Nature 2008
  • 3 Eysenbach G.. AMIA Annu Symp Proc 2006: 244-248
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Rainer H. Bubenzer

Medizin– und Wissenschaftsjournalist Multi MED vision – Berliner Medizinredaktion

Lützowstraße 47

10785 Berlin

Fax: 030/806136-80

Email: Rainer@Bubenzer.com

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Literatur

  • 1 Uphoff H, Buchholz U, Lang A. et al. . Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz.  2004;  47 279-287
  • 2 Ginsberg J, Mohebbi MH, Patel RS. et al. .Nature 2008
  • 3 Eysenbach G.. AMIA Annu Symp Proc 2006: 244-248
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Abb. 1 Hohe Übereinstimmung: FluSearch Index vs AGI Praxisindex (aktuelle Daten online)