Priv.-Doz. Dr. med. Hermann Spießl
Die Basisdokumentation (BADO) für die stationär-psychiatrische Versorgung weist bereits
eine über 150-jährige Geschichte auf, beginnend mit dem „Normal-Schema” von Flemming
1846, die DGPN-BADO von Dilling und Mitarb. 1982 und schließlich die DGPPN-BADO von
Cording und Mitarb. 1995. Diese von der DGPPN für die bundesweite Dokumentation in
psychiatrisch-psychotherapeutischen Kliniken und Abteilungen empfohlene Form beinhaltet
über 70 soziodemografische und erkrankungsbezogene Variablen, die im Routinebetrieb
für jeden Patienten erhoben werden [1]
[2]. Gerade in Zeiten zunehmenden ökonomischen Drucks, geringeren personellen Ressourcen
und zunehmenden administrativen Aufgaben [3] ist die DGPPN-BADO unter anhaltender Kritik. In manchen Kliniken für Psychiatrie
und Psychotherapie wurde sie auf ein Minimum reduziert, Auswertungen finden oft nicht
mehr statt, „Datenfriedhöfe” entstehen. Auf der anderen Seite werden auch BADO-Daten
gerade zur ökonomischen Steuerung von Prozessen verwendet, die methodisch inadäquat
ausgewertet und vorschnell interpretiert werden.
Eine Reihe der in der DGPPN-BADO erfassten Variablen sind durchaus als Indikatoren
geeignet, die Prozessqualität und die Ergebnisqualität in psychiatrisch-psychotherapeutischen
Kliniken und Abteilungen zu beschreiben [1]
[2]:
-
Prozessqualität: diagnostische Maßnahmen, Psychopharmakotherapie, Probleme bei der
Psychopharmakotherapie, andere somatische Therapien, Psychotherapie, Probleme bei
der Psychotherapie, soziotherapeutische Maßnahmen, Komplikationen: Todesfälle, Suizidalität,
Aggression, Fixierung, Entweichung, Entlassung gegen ärztlichen Rat.
-
Ergebnisqualität: psychosoziales Funktionsniveau (GAF), Schweregrad der Erkrankung
(CGI), soziales Outcome (Arbeit, Wohnung), (kumulierte) Verweildauer, Wiederaufnahmerate.
BADO als Instrument der Versorgungsforschung und Qualitätssicherung
BADO als Instrument der Versorgungsforschung und Qualitätssicherung
Aufgrund fehlender Fallregister in Deutschland ist es ein wesentlicher Vorteil der
DGPPN-BADO, dass Auswertungen auf der Basis einer großen Fallzahl (meist mehrere 10 000
Patienten), über einen langen Zeitraum (über 10 Jahre) und auch klinikübergreifend
erfolgen können. Die in den letzten Jahren durchgeführten Evaluationen erbrachten
plausible und klinisch relevante Daten, zeigten aber bei einigen Variablen auch Defizite
auf [4]. Die DGPPN-BADO lieferte eine Vielzahl gesundheitspolitisch und -ökonomisch wichtiger
Daten zur stationär-psychiatrischen Versorgung in Deutschland, so z. B. zu Verweildauer,
Wiederaufnahmerate und Grad der Besserung [5] oder High Utilizer [6], aber auch zu klinisch wichtigen Themen wie z. B. Suizidalität [7]
[8] oder Aggression [9]. Zahlreiche krankheitsbezogene BADO-Auswertungen wie z. B. zu Schizophrenien, Depressionen,
bipolaren affektiven Störungen, Intelligenzminderung und deren Behandlung erbrachten
plausible Resultate und versorgungsrelevante Erkenntnisse [10]
[11]
[12]
[13]. Auch Behandlungswege psychiatrischer Patienten konnten nachgezeichnet und Konsequenzen
für die Versorgung abgeleitet werden [14]. Auch umfassende Therapieevaluationen [15]
[16] und Evaluationen der stationären Versorgung [17]
[18] fanden statt.
Limitationen und Revision der DGPPN-BADO
Limitationen und Revision der DGPPN-BADO
Seit Einführung der DGPPN-BADO besteht eine Diskussion um die Güte der dort verwendeten
Qualitätsindikatoren hinsichtlich ihrer Validität, Reliabilität, Objektivität, Praktikabilität,
Transparenz und Patientenorientierung. Daneben und neben den Problemen bei der Implementierung
der BADO in ein Klinikinformationssystem (KIS) wird angemerkt, dass keine ereignisbezogene
Dokumentation möglich ist [19] und eine personenbezogene, sektorübergreifende Datenerfassung nicht gegeben ist.
Eine Revision der DGPPN-BADO nach nun fast 15 Jahren ihrer Implementierung ist sicher
erforderlich. Eine solche Revision sollte auf evidenzbasierten Grundlagen (z. B. Missing-Analysen
vorhandener Daten, BADO-Evaluationen, Analysen der Güte der Qualitätsindikatoren,
Anwenderbefragungen) und im Vergleich mit anderen „BADOs” sowie im Hinblick auf Forderungen
der Qualitätsberichterstattung und in Bezug zu aktuellen Behandlungsleitlinien erfolgen.
Grundzüge einer solchen Revision der DGPPN-BADO könnten sein: deutliche Straffung
soziodemografischer und krankheitsbezogener anamnestischer Variablen, genauere Spezifikation
des Behandlungsprozesses (insb. Aktualisierung der Items zur Psychopharmakotherapie),
Erweiterung der Outcome-Evaluation um eine subjektive Komponente (Lebensqualität,
Patientenzufriedenheit) und bessere Operationalisierung der Variablen zum sozialen
Outcome (Wohnen, Arbeit, Kontakte).
Ein möglicher Lösungsweg könnte ein modularer Aufbau sein, d. h. neben Basisvariablen
(„Kernmodul”) werden zusätzliche Module gebildet, z. B.
-
abteilungsspezifisch: Sucht, Gerontopsychiatrie, Psychosomatik, Forensik, …
-
diagnosenspezifisch: Depression, Schizophrenie, Demenz, …
-
therapiebezogen: Psychopharmakotherapie, Psychotherapie, …
-
ereignisbezogen: Zwangsmaßnahmen, Gewalt, Suizidalität, …
Eine Weiterentwicklung des modularen Systems könnte sich durch die Kombination der
DGPPN-BADO mit anderen Basisdokumentationen (z. B. AmBADO, BADO-K u. a.) ergeben,
wenn sektorübergreifende Kernkriterien definiert werden, die dann modular mit sektorspezifischen
Kriterien ergänzt werden. Somit wäre eine personenzentrierte Evaluation sektorübergreifend
im Längsschnitt möglich. Diese Weiterentwicklung der DGPPN-BADO würde auch einem neuen
Paradigma psychiatrischer Qualitätssicherung [20] besser entsprechen, das neben institutionszentrierten Auswertungen auch personenzentrierte
Evaluationen des Langzeit-Outcomes vorsieht und damit den Interessen der Betroffenen
wie auch der gesamtgesellschaftlichen Perspektive besser gerecht werden könnte, insbesondere
wenn ein flächendeckender Einsatz erfolgt.
Weiterentwicklung zu einem sektorübergreifenden Datenset
Weiterentwicklung zu einem sektorübergreifenden Datenset
Dies erfordert aber eine Weiterentwicklung nicht nur der DGPPN-BADO, sondern der gesamten
Basisdokumentation im ambulanten, stationären und komplementären Bereich der Psychiatrie
und Psychotherapie. Ein guter Ansatz dazu findet sich im sog. Health Care Quality
Indicators Project (HCQI) der OECD-Länder, in dem in einem strukturierten Review-Prozess
nach festgelegten Auswahlkriterien (Bedeutung der Indikatoren für Versorgung, Wissenschaftlichkeit,
Machbarkeit) Indikatoren der Versorgung ausgewählt wurden [21]. Im Ergebnis ergaben sich 12 Indikatoren zur Erfassung der Behandlungskontinuität,
der Koordination, der Behandlung und des Behandlungsergebnisses. Diese erfassen z. T.
nur sehr grob die Ergebnisqualität (Mortalität bei schwerer seelischer Erkrankung),
z. T. sehr speziell die Prozessqualität (Verwendung anticholinerger Antidepressiva
bei älteren Patienten). Relevante Indikatoren sind sicherlich z. B. die Zahl der stationären
Wiederaufnahmen, die Zahl der ambulanten Kontakte oder die Kontinuität der Behandlung
mit Antidepressiva. Diese 12 Indikatoren alleine erscheinen aber nicht ausreichend,
die Versorgung psychisch Kranker in den jeweiligen Institutionen, in einer Versorgungsregion
oder bundesweit angemessen abzubilden. Selbst ein „Minimum Data Set” wie in England
umfassen 60 Variablen und reichen von administrativen Daten bis hin zu Variablen des
Behandlungsprozesses im ambulanten und stationären Bereich [22].
Die Entwicklung eines sektorübergreifenden Datensets bedarf sicher einer Herangehensweise
wie im HCQI-Projekt und sollte Indikatoren bezüglich sinnvoller Kriterien der Versorgung
operationalisieren. Ein Anhalt könnten folgende, schon vor Jahren von der Joint Commission
on Accreditation of Healthcare Organization (JCAHO) vorgestellten, qualitätsrelevanten
Kriterien der Versorgung sein:
-
Zugänglichkeit der Versorgung (accessability)
-
Rechtzeitigkeit der Versorgung (timeliness)
-
Angemessenheit der Versorgung (appropriateness)
-
Kontinuität der Versorgung (continuity)
-
Wirksamkeit in der Versorgungspraxis (effectiveness)
-
Wirksamkeit unter Idealbedingungen (efficacy)
-
Wirtschaftlichkeit der Versorgung (efficiency)
-
Patientenorientierung in der Versorgung (patient perspective)
-
Sicherheit in der Versorgungsumgebung (safety)
Resümee und Ausblick
Resümee und Ausblick
Als Resümee lässt sich ziehen, dass die DGPPN-BADO in den letzten Jahren eine unverzichtbare
Datengrundlage für Qualitätssicherung, Versorgungsforschung und Klinikmanagement darstellte.
Eine Weiterentwicklung erscheint notwendig und sollte den Erfordernissen einer sektorübergreifenden
Dokumentation gerecht werden.
Vor diesem Hintergrund fand am 17. Juni 2008 in Berlin ein initiales DGPPN-Hauptstadtseminar
zum Thema „Routine-Daten in der Psychiatrie” statt, deren Beiträge in Buchform erschienen
sind [23]. Die Beiträge verdeutlichen, dass viel Arbeit zu Routinedaten in Psychiatrie und
Psychotherapie geleistet worden ist. Verschiedene Instrumente kommen in unterschiedlichen
Segmenten des Versorgungssystems zum Einsatz, eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten
sind auf der Grundlage von BADO-Daten entstanden, Routinedaten werden in der klinischen
Berichterstattung und in Qualitätsberichten verwendet. Verschiedene konzeptuelle Ansätze
wie die sektorübergreifende Dokumentation, die Leitlinienkonformität der Versorgung,
die Entwicklung von Qualitätsindikatoren und der Begriff der Personenzentrierung wurden
entwickelt. Noch fehlt jedoch ein Gesamtkonzept zur Verwendung von Routinedaten, welches
die Anforderungen der Machbarkeit, hinreichender Differenziertheit und einer klaren
Ziel- oder Leitlinienorientierung erfüllt. Neue Aspekte ergeben sich zudem durch die
Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems, das – obwohl auf der Grundlage der
PsychPV-Klassifikation entwickelt – weitere Ansprüche an die Güte der Dokumentation
im Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie stellen wird.
Wie kann es weitergehen? In einem strukturierten Review-Prozess sollten unter Berücksichtigung
der o. g. internationalen Entwicklungen und Erfahrungen (z. B. auch SIEP-DIRECT Programm,
[24]) die für unser Versorgungssystem relevanten Indikatoren nach festgelegten Auswahlkriterien
wie Bedeutung für Versorgung, Leitlinienorientierung, Wissenschaftlichkeit und Machbarkeit
ausgewählt werden. Ein Konsens der beteiligten Institutionen, Kostenträger und Fachgesellschaften
erscheint dabei ebenso wichtig wie die Berücksichtigung der Anliegen von Patienten
und Angehörigen [25]
[26]. Die Entwicklung eines modularen, personenbezogenen und sektorübergreifenden Datensets,
das geeignet ist, die Versorgung psychisch Kranker in Deutschland abzubilden, relevante
Veränderungen sensitiv erfasst und eine valide Datengrundlage in der gesundheitspolitischen
Diskussion liefert, ist das Ziel der Zukunft. Von der Versorgungsforschung muss dieser
Weg begleitet werden [27]
[28]
[29].