Prof. Thomas Becker
Der Gedanke, Kreativität und Kunst hingen mit menschlichen Grenzerfahrungen zusammen,
ist nicht ungewöhnlich. Tatsächlich gibt es Hinweise, dass Erfahrungen im Rahmen psychischer
Erkrankungen mit dem Thema Kreativität im Zusammenhang stehen. Marneros [1] geht dem Thema „Das Gute im Bösen: Gibt es auch positive Aspekte bei bipolaren und
depressiven Erkrankungen?” nach. Er geht davon aus, dass Depression selbstverständlich
und im Kern Schmerz, Hoffnungslosigkeit, Dunkelheit und potenziell todbringend sei;
auch für die manischen Erkrankungen stellt er die schweren Belastungen an den Beginn.
Im Folgenden lotet er das Thema in Richtung Grenzerfahrung, Kreativität und Kunst
aus. Er zitiert Kay Redfield Jamison, Psychiaterin, Wissenschaftlerin, Autorin und
Patientin mit bipolarer Störung, die über Grenzerfahrungen in Depression und Manie
nachdenkt (Depression: … because I honestly believe that as a result of it I have felt more things, more
deeply …; und Manie: even when I have been most psychotic, delusional … I have been aware of finding new
corners in my mind and heart. … because I know of those limitless corners, with their
limitless views; in Marneros [1]). Tatsächlich ist die Liste der Kunstschaffenden in Literatur, Musik und bildender
Kunst, bei denen psychische Erkrankungen diskutiert oder berichtet wurden, lang. Ältere
Bücher und Texte bezeugen, dass es das Spannungsfeld Kreativität und psychische Erkrankung
gibt, nicht zuletzt Prinzhorns epochales Werk zur „Bildnerei der Geisteskranken” [2]. Die Liste der Bücher ließe sich fast beliebig verlängern. Eine aktuellere Arbeit
zum Thema bipolare Erkrankung und (bildnerische) Kreativität gilt der Auseinandersetzung
mit dem bildnerischen Schaffen von Edvard Munch und Jackson Pollock [3].
Warum nun dieses Thema?
Warum nun dieses Thema?
Ganz einfach: Es geht um die Ankündigung der Idee eines Titelbildwettbewerbs für die
Psychiatrische Praxis im Jahr 2011. Für die Beurteilung von „Kunst” suchen Menschen Kriterien. Diese Suche
ist nicht einfach, aber es gibt eine ganze Wissenschaft zur Geschichte und Bedeutung
künstlerischer Werke. Ein Weg unter vielen, um sich bei der Bildbetrachtung zurechtzufinden,
könnte der Preis sein, den ein Kunstwerk erzielt: Will sagen, was hohe Preise erzielt,
ist gut. Ein Künstler, der hohe Preise erzielte, war Joseph Beuys [4]. Joseph Beuys verdanken wir darüber hinaus Gedanken zum Thema „Jeder Mensch ein
Künstler”. Er war beteiligt an einer ungewöhnlichen Erweiterung des Kunstbegriffs,
er schuf Begriffe wie die „soziale Plastik”. Wir verdanken ihm Zitate wie [5]:
-
… Das war eigentlich der Ausgangspunkt, den Wissenschaftsbegriff zu erweitern, also …,
den Kunstbegriff zu erweitern, also mehr zu einem interdisziplinären Größeren zu machen. Das war mein Anfang. Es
hat sich nicht aus der Tätigkeit des Zeichnens, Modellierens usw. ergeben, sondern
umgekehrt: aus der Idee heraus, mit diesen Begriffen zu arbeiten, bin ich zur Kunst
gekommen.
-
… Das heißt, meine frühesten Arbeiten sind die ersten Versuche, eine Vorstellung zu
fassen im Bereich z. B. der Skulptur, wobei der Begriff der Skulptur bei mir von vornherein
der größere war als der von dem Material … mit Material zu arbeiten. So wie der Begriff
Sprache – der war bei mir von Anfang an sehr wichtig; dass ich mir bewusst war, dass das
Sprechen selbst Skulptur ist …
Die Beschäftigung mit Beuys kann den Blick auf die Vielfalt und Breite kreativen Schaffens
und auch auf das Besondere, die Aura, das Ureigene von Kunst lenken, auf die Schaffung
eines originären, noch nie da gewesenen Werks, vielleicht auch auf das „Erhabene”
[6]. In seiner Arbeit an einem erweiterten Kunstbegriff, den wir heute – vielleicht
– bei Künstlern wie Christoph Schlingensief (Theater, Film) oder Ai Weiwei (bildende
Kunst) wiederfinden, wird die Aufmerksamkeit auch auf die Weite der Kreativität gelenkt.
Nichts ist hier exklusiv oder gehört wenigen, nichts ist garantiert, Preis und Markt
helfen nicht ohne weiteres (obwohl beide mit ihrem weiten Kunstbegriff am Markt erfolgreich
sind).
Wir alle, die wir Bildwerke betrachten, versuchen uns an einem Blick, der das Ungewöhnliche
sucht und der „die Spreu vom Weizen trennen” soll. In einer solchen Sicht gibt es
(aus dem jeweiligen Blick) immer nur Kunst oder Nichtkunst. Ein bildnerisches Werk
kann das „Kunst”-Kriterium erfüllen oder nicht – und wir wissen nichts davon, ob und
wie der Künstler mit einer Grenzerfahrung, einer Nicht-Psychiatrie-Erfahrung oder
auch einer Erfahrung in und um die Psychiatrie konfrontiert war, wo und wie er lebt,
was er tut und hat. Dieser Titelbildwettbewerb soll ein Fest der Kreativität sein.
Dann könnte ein Kritiker sagen, das sei eine Art Nichtbeschäftigung mit der Psychiatrie
und psychischen Erkrankungen. Ja, es handelt sich eher um einen Wettbewerb um bildnerische
Originalität und Qualität in – oder besser auf dem Titelblatt – einer Zeitschrift
der psychiatrischen Praxis und Wissenschaft. Das Projekt kann vielleicht auch ganz
ohne das Denken an die Psychiatrie gelingen. Kunst sprengt die Grenzen, auch der Psychiatrie.
Denn denken wir daran: „Jeder Mensch ein Künstler” – so das Motto dieses Wettbewerbs.
Details zum Titelbildwettbewerb
Details zum Titelbildwettbewerb
Zum Schluss ein wenig Detail und etwas genauer: Beim Titelbildwettbewerb Psychiatrische Praxis 2011 soll es um bildnerisches Schaffen oder Bildwerke jeder Art in und um die Psychiatrie
gehen. Die Ausschreibung wendet sich an all jene Menschen, die Bildwerke jeder Art
schaffen oder geschaffen haben und Erfahrungen mit oder Interesse an der Psychiatrie,
psychischen Erkrankungen, Krisen oder Grenzerfahrungen haben: Gemeint sind Erfahrungen
durch eigene Erkrankung (Experten durch Erfahrung), Erfahrungen aus der Angehörigenperspektive
(Experten durch Erfahrung), durch berufliche Tätigkeit (Professionelle) oder durch
Interesse an den Themen der seelischen Gesundheit oder Psychiatrie. Ziel sind 8 spannende,
ungewöhnliche Titelbilder für die 8 Hefte der Psychiatrischen Praxis des Jahrgangs 2011.
Eine Preisjury wird die Titelbilder auswählen. Die Zusammensetzung der Preisjury spiegelt
die Vielfalt der Perspektiven zum Thema: Es werden ihr 2 Vertreter des Bundesverbandes
der Psychiatrieerfahrenen (BPE) e. V. (Dr. Wilfried Pfaff und Ruth Fricke, gleichzeitig
Kulturbeirätin der Stadt Herford) sowie 2 Vertreterinnen des Bundesverbandes der Angehörigen
psychisch Kranker (BApK) e. V. (Gudrun Schliebener und Ursel Brand) angehören. Neben
diesen 4 Mitgliedern repräsentieren zwei Jurymitglieder ästhetisch-künstlerische Perspektiven:
Die Perspektive der Ästhetik als eines Teils der philosophischen Wissenschaft (Prof.
Dr. Maria Isabel Peña Aguado, Akademie der Bildenden Künste München) sowie die der
Kunst (Prof. Karin Kneffel, Akademie der Bildenden Künste München). Prof. Dr. Ulrich
Elbing, Hochschule für Kunsttherapie Nürtingen, vertritt die wissenschaftlich-kunsttherapeutische
Perspektive. Katrin Stauffer, Projektplanerin, vertritt den Georg Thieme Verlag und
der Autor dieses Editorials, Prof. Dr. Thomas Becker, ist als Psychiater dabei.
Die besten Einreichungen werden in einer Ausstellung im öffentlichen Raum gezeigt
werden. Wir wissen noch nicht sicher, wo das sein wird, aber wir werden den „Kunstraum”
in der Zeitschrift ankündigen – und da werden nicht nur die 8 prämierten Bilder, sondern
eine Auswahl der besten Einreichungen ausgestellt werden. Wir sind überzeugt, dass
der Reichtum der Erfahrungen in der Psychiatrie, im Umkreis von Psychiatrie und seelischer
Gesundheit sowie all jener, die sich für die Psychiatrische Praxis interessieren, uns anregen wird – und dass in dieser Vielfalt eine Chance und Herausforderung
für die Psychiatrie liegt.