Psychiatr Prax 2010; 37(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-0029-1223460
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Jeder Mensch ein Künstler”

„Everbody is an Artist”Thomas  Becker1
  • 1Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm, Bezirkskrankenhaus Günzburg
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Prof. Dr. med. Thomas Becker

Ärztlicher Direktor, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm, Bezirkskrankenhaus Günzburg

Ludwig-Heilmeyer-Straße 2

89312 Günzburg

Email: t.becker@bkh-guenzburg.de

Publication History

Publication Date:
13 January 2010 (online)

Table of Contents
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Prof. Thomas Becker

Der Gedanke, Kreativität und Kunst hingen mit menschlichen Grenzerfahrungen zusammen, ist nicht ungewöhnlich. Tatsächlich gibt es Hinweise, dass Erfahrungen im Rahmen psychischer Erkrankungen mit dem Thema Kreativität im Zusammenhang stehen. Marneros [1] geht dem Thema „Das Gute im Bösen: Gibt es auch positive Aspekte bei bipolaren und depressiven Erkrankungen?” nach. Er geht davon aus, dass Depression selbstverständlich und im Kern Schmerz, Hoffnungslosigkeit, Dunkelheit und potenziell todbringend sei; auch für die manischen Erkrankungen stellt er die schweren Belastungen an den Beginn. Im Folgenden lotet er das Thema in Richtung Grenzerfahrung, Kreativität und Kunst aus. Er zitiert Kay Redfield Jamison, Psychiaterin, Wissenschaftlerin, Autorin und Patientin mit bipolarer Störung, die über Grenzerfahrungen in Depression und Manie nachdenkt (Depression: … because I honestly believe that as a result of it I have felt more things, more deeply …; und Manie: even when I have been most psychotic, delusional … I have been aware of finding new corners in my mind and heart. … because I know of those limitless corners, with their limitless views; in Marneros [1]). Tatsächlich ist die Liste der Kunstschaffenden in Literatur, Musik und bildender Kunst, bei denen psychische Erkrankungen diskutiert oder berichtet wurden, lang. Ältere Bücher und Texte bezeugen, dass es das Spannungsfeld Kreativität und psychische Erkrankung gibt, nicht zuletzt Prinzhorns epochales Werk zur „Bildnerei der Geisteskranken” [2]. Die Liste der Bücher ließe sich fast beliebig verlängern. Eine aktuellere Arbeit zum Thema bipolare Erkrankung und (bildnerische) Kreativität gilt der Auseinandersetzung mit dem bildnerischen Schaffen von Edvard Munch und Jackson Pollock [3].

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Warum nun dieses Thema?

Ganz einfach: Es geht um die Ankündigung der Idee eines Titelbildwettbewerbs für die Psychiatrische Praxis im Jahr 2011. Für die Beurteilung von „Kunst” suchen Menschen Kriterien. Diese Suche ist nicht einfach, aber es gibt eine ganze Wissenschaft zur Geschichte und Bedeutung künstlerischer Werke. Ein Weg unter vielen, um sich bei der Bildbetrachtung zurechtzufinden, könnte der Preis sein, den ein Kunstwerk erzielt: Will sagen, was hohe Preise erzielt, ist gut. Ein Künstler, der hohe Preise erzielte, war Joseph Beuys [4]. Joseph Beuys verdanken wir darüber hinaus Gedanken zum Thema „Jeder Mensch ein Künstler”. Er war beteiligt an einer ungewöhnlichen Erweiterung des Kunstbegriffs, er schuf Begriffe wie die „soziale Plastik”. Wir verdanken ihm Zitate wie [5]:

  • … Das war eigentlich der Ausgangspunkt, den Wissenschaftsbegriff zu erweitern, also …, den Kunstbegriff zu erweitern, also mehr zu einem interdisziplinären Größeren zu machen. Das war mein Anfang. Es hat sich nicht aus der Tätigkeit des Zeichnens, Modellierens usw. ergeben, sondern umgekehrt: aus der Idee heraus, mit diesen Begriffen zu arbeiten, bin ich zur Kunst gekommen.

  • … Das heißt, meine frühesten Arbeiten sind die ersten Versuche, eine Vorstellung zu fassen im Bereich z. B. der Skulptur, wobei der Begriff der Skulptur bei mir von vornherein der größere war als der von dem Material … mit Material zu arbeiten. So wie der Begriff Sprache – der war bei mir von Anfang an sehr wichtig; dass ich mir bewusst war, dass das Sprechen selbst Skulptur ist …

Die Beschäftigung mit Beuys kann den Blick auf die Vielfalt und Breite kreativen Schaffens und auch auf das Besondere, die Aura, das Ureigene von Kunst lenken, auf die Schaffung eines originären, noch nie da gewesenen Werks, vielleicht auch auf das „Erhabene” [6]. In seiner Arbeit an einem erweiterten Kunstbegriff, den wir heute – vielleicht – bei Künstlern wie Christoph Schlingensief (Theater, Film) oder Ai Weiwei (bildende Kunst) wiederfinden, wird die Aufmerksamkeit auch auf die Weite der Kreativität gelenkt. Nichts ist hier exklusiv oder gehört wenigen, nichts ist garantiert, Preis und Markt helfen nicht ohne weiteres (obwohl beide mit ihrem weiten Kunstbegriff am Markt erfolgreich sind).

Wir alle, die wir Bildwerke betrachten, versuchen uns an einem Blick, der das Ungewöhnliche sucht und der „die Spreu vom Weizen trennen” soll. In einer solchen Sicht gibt es (aus dem jeweiligen Blick) immer nur Kunst oder Nichtkunst. Ein bildnerisches Werk kann das „Kunst”-Kriterium erfüllen oder nicht – und wir wissen nichts davon, ob und wie der Künstler mit einer Grenzerfahrung, einer Nicht-Psychiatrie-Erfahrung oder auch einer Erfahrung in und um die Psychiatrie konfrontiert war, wo und wie er lebt, was er tut und hat. Dieser Titelbildwettbewerb soll ein Fest der Kreativität sein. Dann könnte ein Kritiker sagen, das sei eine Art Nichtbeschäftigung mit der Psychiatrie und psychischen Erkrankungen. Ja, es handelt sich eher um einen Wettbewerb um bildnerische Originalität und Qualität in – oder besser auf dem Titelblatt – einer Zeitschrift der psychiatrischen Praxis und Wissenschaft. Das Projekt kann vielleicht auch ganz ohne das Denken an die Psychiatrie gelingen. Kunst sprengt die Grenzen, auch der Psychiatrie. Denn denken wir daran: „Jeder Mensch ein Künstler” – so das Motto dieses Wettbewerbs.

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Details zum Titelbildwettbewerb

Zum Schluss ein wenig Detail und etwas genauer: Beim Titelbildwettbewerb Psychiatrische Praxis 2011 soll es um bildnerisches Schaffen oder Bildwerke jeder Art in und um die Psychiatrie gehen. Die Ausschreibung wendet sich an all jene Menschen, die Bildwerke jeder Art schaffen oder geschaffen haben und Erfahrungen mit oder Interesse an der Psychiatrie, psychischen Erkrankungen, Krisen oder Grenzerfahrungen haben: Gemeint sind Erfahrungen durch eigene Erkrankung (Experten durch Erfahrung), Erfahrungen aus der Angehörigenperspektive (Experten durch Erfahrung), durch berufliche Tätigkeit (Professionelle) oder durch Interesse an den Themen der seelischen Gesundheit oder Psychiatrie. Ziel sind 8 spannende, ungewöhnliche Titelbilder für die 8 Hefte der Psychiatrischen Praxis des Jahrgangs 2011.

Eine Preisjury wird die Titelbilder auswählen. Die Zusammensetzung der Preisjury spiegelt die Vielfalt der Perspektiven zum Thema: Es werden ihr 2 Vertreter des Bundesverbandes der Psychiatrieerfahrenen (BPE) e. V. (Dr. Wilfried Pfaff und Ruth Fricke, gleichzeitig Kulturbeirätin der Stadt Herford) sowie 2 Vertreterinnen des Bundesverbandes der Angehörigen psychisch Kranker (BApK) e. V. (Gudrun Schliebener und Ursel Brand) angehören. Neben diesen 4 Mitgliedern repräsentieren zwei Jurymitglieder ästhetisch-künstlerische Perspektiven: Die Perspektive der Ästhetik als eines Teils der philosophischen Wissenschaft (Prof. Dr. Maria Isabel Peña Aguado, Akademie der Bildenden Künste München) sowie die der Kunst (Prof. Karin Kneffel, Akademie der Bildenden Künste München). Prof. Dr. Ulrich Elbing, Hochschule für Kunsttherapie Nürtingen, vertritt die wissenschaftlich-kunsttherapeutische Perspektive. Katrin Stauffer, Projektplanerin, vertritt den Georg Thieme Verlag und der Autor dieses Editorials, Prof. Dr. Thomas Becker, ist als Psychiater dabei.

Die besten Einreichungen werden in einer Ausstellung im öffentlichen Raum gezeigt werden. Wir wissen noch nicht sicher, wo das sein wird, aber wir werden den „Kunstraum” in der Zeitschrift ankündigen – und da werden nicht nur die 8 prämierten Bilder, sondern eine Auswahl der besten Einreichungen ausgestellt werden. Wir sind überzeugt, dass der Reichtum der Erfahrungen in der Psychiatrie, im Umkreis von Psychiatrie und seelischer Gesundheit sowie all jener, die sich für die Psychiatrische Praxis interessieren, uns anregen wird – und dass in dieser Vielfalt eine Chance und Herausforderung für die Psychiatrie liegt.

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Literatur

  • 1 Marneros A. Das Gute im Bösen: Gibt es auch positive Aspekte bei bipolaren und depressiven Erkrankungen. In: Marneros A, Hrsg Das Neue Handbuch der Bipolaren und Depressiven Erkrankungen. Stuttgart; Thieme 2004: 617-626
  • 2 Prinzhorn H. Die Bildnerei der Geisteskranken. Berlin, Heidelberg, New York; Springer 1922 (Neudruck der zweiten Auflage: 1968, 1983)
  • 3 Rothenberg A. Bipolar illness, creativity and treatment.  Psychiatr Q. 2001;  72 131-147
  • 4 Ermen R. Joseph Beuys. Reinbek bei Hamburg; Rowohlt Taschenbuch-Verlag 2007
  • 5 Beuys J. Jeder Mensch ein Künstler. Frankfurt, Berlin; Ullstein 1988
  • 6 Peña Aguado M. Ästhetik des Erhabenen: Burke, Kant, Adorno, Lyotard. Wien; Passagen Verlag 1994

Prof. Dr. med. Thomas Becker

Ärztlicher Direktor, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm, Bezirkskrankenhaus Günzburg

Ludwig-Heilmeyer-Straße 2

89312 Günzburg

Email: t.becker@bkh-guenzburg.de

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Literatur

  • 1 Marneros A. Das Gute im Bösen: Gibt es auch positive Aspekte bei bipolaren und depressiven Erkrankungen. In: Marneros A, Hrsg Das Neue Handbuch der Bipolaren und Depressiven Erkrankungen. Stuttgart; Thieme 2004: 617-626
  • 2 Prinzhorn H. Die Bildnerei der Geisteskranken. Berlin, Heidelberg, New York; Springer 1922 (Neudruck der zweiten Auflage: 1968, 1983)
  • 3 Rothenberg A. Bipolar illness, creativity and treatment.  Psychiatr Q. 2001;  72 131-147
  • 4 Ermen R. Joseph Beuys. Reinbek bei Hamburg; Rowohlt Taschenbuch-Verlag 2007
  • 5 Beuys J. Jeder Mensch ein Künstler. Frankfurt, Berlin; Ullstein 1988
  • 6 Peña Aguado M. Ästhetik des Erhabenen: Burke, Kant, Adorno, Lyotard. Wien; Passagen Verlag 1994

Prof. Dr. med. Thomas Becker

Ärztlicher Direktor, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm, Bezirkskrankenhaus Günzburg

Ludwig-Heilmeyer-Straße 2

89312 Günzburg

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