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DOI: 10.1055/s-0029-1223533
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Lesarten
Styles of ReadingDr. med. Ulrike Hoffmann-Richter
Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
Suva – Versicherungsmedizin
Leiterin Versicherungspsychiatrischer Dienst
Postfach 4358
Fluhmattstraße 1
6002 Luzern, Schweiz
Email: ulrike.hoffmannrichter@suva.ch
Publication History
Publication Date:
25 March 2010 (online)
- Einen Text lesen
- Lesen in den neuen Medien
- Zerstreuung – Aufmerksamkeitsdefizit – Erschöpfung – Ausbrennen
- Informationsflut
- Der Akt des Lesens
- Den Überblick behalten
- Die Wiederentdeckung des Gesprächs
- Was sich zu lesen lohnt und warum
- Literatur


Dr. med. Ulrike Hoffmann-Richter
„Orwell hatte Angst vor denjenigen, die Bücher verbieten würden. Huxley hatte Angst davor, dass es gar keinen Grund mehr geben könnte, Bücher zu verbieten, weil es niemanden mehr geben würde, der sie lesen wollte” [1].
„Ganz egal, wie gut oder schlecht das Produkt ist – Tatsache ist, dass die Leute nicht mehr lesen” [2].
Es gibt nicht nur bedrohte Arten, es gibt auch bedrohte Fähigkeiten, und wie erstere geraten sie ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn die Bedrohung weit fortgeschritten ist: Mailverkehr, SMS, Internet, Google, Twitter u. a. haben unsere Lesegewohnheiten und Lesefähigkeiten in einer Weise verändert, die nicht mehr als Abgesang auf die Buchlektüre durchgehen kann, sondern in unsere Denk- und Arbeitsfähigkeit im persönlichen und privaten Leben hineinreicht. An einem nur im Hinblick auf seine Spektakularität außergewöhnlichen Beispiel möchte ich die Bedeutung des Lesens illustrieren:
#Einen Text lesen
Vor fast genau einem Jahr, am 3.3.2009, stürzte das Kölner Stadtarchiv in sich zusammen. Am 17.4.2009 warf Andreas Rossmann in der FAZ die Frage auf, ob es sein könnte, „… dass die Katastrophe in Köln … hätte verhindert werden können, wenn ein Gutachten anders gelesen und daraus jene Schlüsse gezogen worden wären, die Fachleute für geboten erachten?” Er bezog sich dabei auf das Statikgutachten eines Ingenieurbüros vom 5.1.2009, das aufgrund einer Inspektion am 18.12.2008 zu folgendem Schluss gekommen war: „Die entstandenen Risse sind unbedenklich. Das Gebäude ist im jetzigen Zustand in statischer Hinsicht ausreichend standsicher … Um eine genaue Ursache für das unterschiedliche Setzungsverhalten herauszufinden und um evtl. weitere Schäden am Gebäude zu vermeiden, empfehle ich Ihnen, einen öffentlich anerkannten Sachverständigen für Bauwerkschäden einzuschalten.” Die Leiterin des Archivs, der Kulturdezernent und der Oberbürgermeister waren „beruhigt”. Ein um Interpretation gebetener Ingenieur erklärte: „Das ist ein Hilferuf. Wer so einen Hinweis gibt, der hat die Ursache nicht gefunden.” Eine auf Bau- und Architektenrecht spezialisierte Juristin liest den Satz „als dringende Empfehlung, die Ursache für das unterschiedliche Setzungsverhalten herauszufinden, insbesondere im Hinblick auf weitere Bauarbeiten”. Der Auftraggeber, die Gebäudewirtschaft der Stadt Köln, rechtfertigte ihr Abwarten mit dem Hinweis, „… selbst wenn die Empfehlung umgesetzt worden wäre, hätte man das immer nur auf das Bauwerk bezogen und nicht auch geotechnische Untersuchungen durchgeführt …” Der Satz entspreche einer „Allgemeinklausel”, die der überprüfende Ingenieur zu seiner Entlastung geschrieben habe. Der Ingenieur ist der Ansicht, dass „ein solches Gutachten … nie auf den Sachverständigen nur einer Disziplin begrenzt sein” kann. Und ein ergänzend befragter Statiker unterstreicht, dass „der Empfänger des Schreibens sofort hätte aktiv werden müssen” [3]. Seit dem Februar diesen Jahres erhärten sich die Hinweise dafür, dass an 5 der derzeit 8 Kölner U-Bahn-Baustellen Bewehrungseisen nicht wie vorgesehen eingebaut, sondern unter der Hand weiterverkauft wurden, die Schlitzwände zur Sicherung der Baugruben deshalb gefährdet und die entsprechenden Bauprotokolle gefälscht waren; dass Messdaten systematisch gefälscht wurden, mehr Brunnen gebaut wurden als genehmigt waren, Absenkungen nicht beachtet wurden und Beton minderer Qualität eingesetzt wurde [4]. Es kommt nicht selten vor, dass Gutachter nicht über alle entscheidenden Informationen verfügen. Aber es kommt selten vor, dass sie es offen sagen.
Einen Text zu lesen scheint eine anspruchsvollere Aufgabe zu sein, als gemeinhin angenommen wird. Es geht nicht nur darum die einzelnen Wörter und Sätze zu verstehen. Die Bedeutung der Aussagen, den Sinn des Textes als Ganzem kann man umso eher erfassen, je mehr man mit der Thematik vertraut ist, um die es geht. Zusätzlich wichtig sind Informationen über Anlass und Entstehungshintergrund des Textes, Wissen über die Textgattung, den Autor und das Verhältnis zwischen Autor und Adressat bzw. Auftraggeber. In unserem Beispiel kann man den Satz über die Unbedenklichkeit der Risse nicht für sich alleine nehmen, also ohne die Empfehlung, einen weiteren Sachverständigen zuzuziehen. Weiß man dazu, dass dieselbe Firma mit dem Gutachten beauftragt wurde, die auch schon vor dem U-Bahn-Bau die Statik untersucht hatte und kennt die (unausgesprochenen) Regeln, wie heikle Themen in Gutachten geäußert werden, hat man also Kenntnis von der Textgattung Gutachten, versteht man die Warnung, die dieser Satz enthält. Man kann diese Art der Textrezeption als tiefes Lesen bezeichnen [5], man kann aber auch schlicht beim aufmerksamen Lesen bleiben, im Gegensatz zum Überfliegen, Schweifen oder Schwirren.
#Lesen in den neuen Medien
Ein Thema können wir identifizieren, wenn wir einen Text überfliegen und danach entscheiden, ob wir uns ihm weiter zuwenden wollen oder nicht. Den Text aufgenommen, uns mit ihm gedanklich auseinandergesetzt haben wir damit noch nicht. Stefan Weber ist Medien- und Kommunikationswissenschaftler und befasst sich seit längerer Zeit mit Veränderungen von Schreiben und Lesen durch das Internet. Die Debatte um die Chancen und Probleme durch den kostenlosen Online-Zugang konzentriere sich bisher auf die Urheber- und Verlagsrechte, also das „Wer” und den „Kanal” der kommunikationswissenschaftlichen Lasswell-Formel – „Wer sagt was in welchem Kanal zu wem mit welchem Effekt?” – und blende Inhalte („was”), Rezipienten („zu wem”) und Wirkungen („mit welchem Effekt”) aus. Bereits jetzt spreche einiges dafür, dass sich Textproduktion wie -rezeption durch die Digitalisierung und das Internet nicht verbessert, sondern verschlechtert hätten. So sei man dabei sich vom Referenzsystem der Wissenskultur, also von der Idee des Originals zu verabschieden. Nicht nur in Schul-, sondern auch in Masterarbeiten nehme der Eigentextanteil zugunsten von Versatzstücken aus dem Netz bedrohlich ab. Verweise fehlten oder seien ungenau. Bereits Anfang des Jahrhunderts habe man feststellen müssen, dass Studierende nicht systematisch nach wissenschaftlicher Information suchten, sondern browsten: „Die viel beschworenen digitalen Eingeborenen scheinen also zum Teil massive Probleme mit der Informationsverarbeitung zu haben … Texte werden im Netz nicht mehr exakt gelesen, sondern maximal noch überflogen, dies großteils ohne quellenkritisches Bewusstsein und mit erstaunlich naiver Netzgläubigkeit.” Der einfachere und schnellere Zugang führe also nicht zu genauerem Lesen, Verstehen und Interpretieren. Man dürfe Open Access nicht, wie von den Befürwortern propagiert, mit Qualitätsverbesserung gleichsetzen. Auch führten freie Netze nicht automatisch zu freiem Wissen. „Die Basis für Innovation und Emanzipation ist nicht per se der freie Zugang zu Wissen, sondern das quellenkritische Rezipieren, Verstehen, Interpretieren und Einordnen desselben …” Man müsse sehr genau unterscheiden zwischen der Möglichkeit Zugang zu Informationen zu haben, und der Fähigkeit, die man brauche, um sie zu interpretieren, zitiert Weber Clifford Stoll aus seinem Buch „LogOut”. Paradox sei es, wenn sich einerseits akademische Qualifikationsarbeiten am Paradigma-Buch einschließlich ihrer strengen, buchkulturellen Zitationsweise orientierten und andererseits digitale Möglichkeiten der Recherche und Rezeption diese Formate überflüssig machten. In dieser Situation sei es nicht verwunderlich, wenn Schüler und Studenten orientierungslos seien und den Sinn wissenschaftlichen Arbeitens gar nicht erst begreifen könnten [6].
Letztlich gebe es in einer vollständig digitalisierten Welt sogar neue Möglichkeiten von Zensur, nicht durch Vorenthalten, sondern durch den Überfluss an Informationen. „Der Matthäus-Effekt des Netzes könnte weiter dazu führen, dass Qualität und Innovation systematisch untergehen” [6]. Das „Google-Copy-Paste-Syndrom” betrifft also nicht nur Jugendliche und junge Erwachsene. Jeder Nutzer muss sich einen Weg durch die Fülle an Angeboten und Informationen suchen. Der spielend einfache Zugang verleitet dazu, nicht nur ihn, sondern auch die Inhalte als Spiel zu begreifen und nicht danach zu fragen, welches Versatzstück woher kommt, nicht nach seiner Bedeutung zu fragen und die fehlende Orientierung nicht als Warnsignal, sondern einzig als lästige Konfrontation mit der Realität zu erleben. Warum sich nicht weiter tragen lassen von Brücke zu Brücke über noch eine Idee, einen Happen, einen Appetizer. Verweilen, Nachfragen, Nachdenken, erscheint auf diesem Ritt nur noch als Störung. Der Zeitverlust wird dort erlebt, wo man nicht gleich das richtige Stichwort in einem Treffer findet, die Zeit des Surfens aber, während der man sich verliert und vergisst, wonach man ursprünglich gesucht hat, scheint nicht von Bedeutung zu sein. Es gibt nicht nur bestürzend viele primäre Analphabeten (die einen Vorleser brauchen wie Schlinks Hanna), sondern auch sekundäre Analphabeten in wachsender Zahl – Menschen, die durchaus in der Lage sind Buchstaben und Wörter zu entziffern, aber keine längeren Texte mehr zu lesen. Damit sind keineswegs nur Bücher von mehreren 100 Seiten aufwärts gemeint, auch nicht nur Zeitschriftenartikel, sondern schon längere Briefe oder gar Mails.
#Zerstreuung – Aufmerksamkeitsdefizit – Erschöpfung – Ausbrennen
Das Internet bietet Zerstreuung, so sehr, dass die Konzentration nicht mehr erstrebenswert zu sein scheint. Eduard Kaeser spricht vom „Cogitus interruptus”, vom Bedürfnis diesen Zustand des ständigen Wechsels, der Mehrfachbeschäftigung nicht mehr zu entbehren. Technik könne zu dem Problem werden, für dessen Lösung sie sich halte. Der Illusion wachsender menschlicher Beherrschung der Dinge entspreche die wachsende Feindschaft (und Macht) der Dinge, die sich gegen ihn wendeten, zitiert Kaeser Paul Jennings. „Kaum sind wir im Netz, regt sich die Versuchung genau das nicht zu tun, was man sich eigentlich zu tun vorgenommen hat. Wir browsen, bloggen, chatten, googeln, simsen, twittern, zatooen wie die Gehetzten …” [7]. Die daraus resultierende chronische Zerstreuung meine „nicht einfach den Spiel-, Spass- und Zeitvertreibcharakter heutigen elektronischen Schnickschnacks, sondern die Tendenz, alle unsere täglichen Arbeiten, Aufgaben, Problemlösungen, Bedürfnisbefriedigungen in Prozeduren und Modulen zu fragmentieren”. In einer kalifornischen Studie habe man herausgefunden, dass Angestellte im Durchschnitt etwa 11 Minuten an einer Aufgabe arbeiteten ohne unterbrochen zu werden. Und auch diese Zeitspanne werde noch einmal in 3-Minuten-Phasen zerstückelt. Die Rückkehr zur ursprünglichen Aufgabe beanspruche durchschnittlich 25 Minuten. Die Vielfachbeschäftigung und die Ablenkungen führten nicht zum effizienteren Arbeiten, sondern zum Konzentrations- und Leistungsabbau. Selbst wenn sich unsere Gehirne den neuen Ansprüchen anpassen, geht die Nachhaltigkeit der Informationsverarbeitung darüber verloren. Frank Schirrmacher bringt es auf den Punkt: „Ich glaube, dass uns die Science-Fiction-Autoren auf die falsche Zukunft vorbereitet haben. Ihre Fantasie kreiste um die intelligenten Maschinen, die Frage, ob sie eines Tages klüger sein werden als der Mensch: Und ob sie schließlich die Menschen zu Untertanen machen. Und damit das Kräfteverhältnis umkehren. Die Frage, die sich heute tatsächlich stellt, ist aber eine ganz andere. Die Frage lautet, ob wir damit begonnen haben, uns selbst wie Maschinen zu behandeln. Und ob der Preis für Maschinen, die denken können, von Menschen gezahlt wird, die es mehr und mehr verlernen” ([8], S. 87). Das Ergebnis eines Versuchs, bei dem die Probanden der Aufforderung sich dem Computer anzuvertrauen, bereitwillig nachkamen, weil die Fragen der Interaktionsstruktur zwischen Menschen nachempfunden waren, fasst Schirrmacher folgendermaßen zusammen: „Wir lieben es, uns als denkende Wesen zu sehen, die nur von der bösen Medien- und Kommunikationswelt von tiefsinnigen Gedanken abgehalten werden … Die Frage, um die wir uns kümmern müssen, lautet aber nicht, was wir tun, wenn wir denken, sondern was wir tun, wenn wir nicht denken. Was geschieht, wenn wir routiniert auf Erfahrungen zurückgreifen, ohne über sie nachzudenken? Mit anderen Worten: Was geschieht, wenn unsere Aufmerksamkeit aufgefressen worden ist” ([8], S. 98)?
Stephen Baker hat uns im vergangenen Jahr vor Augen geführt, wie Unternehmen uns Daten entlocken: „Die Numerati. Datenhaie und ihre geheimen Machenschaften.” Durch die Bereitschaft, das Netz immer weiterzufüttern, würden wir konfus und zerstreut, „… in mancher Hinsicht vielleicht sogar dümmer, während die vernetzte Welt selbst immer intelligenter wird. Ich betrachte sie als einen gigantischen Parasiten, der sich bester Wachstumsbedingungen erfreut. Was geschieht unterdessen mit unseren Gehirnen? … Diese Herausforderung gleicht gewissermaßen der, vor der wir bei unserer Ernährung stehen. Die meiste Zeit seines Erdenlebens musste der Mensch, wie andere Tiere auch, nach Nahrung suchen. Höhlenmenschen zählen keine Kalorien. Angesichts des Überflusses in den heutigen reichen Gesellschaften führen unsere allesfresserischen Instinkte jedoch zur Fettleibigkeit. Auch Informationen waren lange Zeit ein rares Gut. Sie sind es aber nicht mehr. Wir können uns mit ihnen überfrachten. Wir können uns am Ramsch ins Koma saufen. Damit nähren wir das elektronische Gehirn und riskieren es, unser eigenes verhungern zu lassen. Mehr als je zuvor müssen wir steuern was wir in unsere Köpfe lassen …” [9]. Zerstreuung gab es auch schon vor dem Computerzeitalter, den Zappelphilipp wie Erschöpfungssyndrome. Aber alle diese Modediagnosen erhalten einen anderen Akzent, wenn man sie in Bezug zur Vereinnahmung durch die neuen Medien setzt. Und dieser Akzent vertieft sich, wenn Studien zeigen, dass sich die Symptome verlieren, sobald Distanz zur Arbeit mit den Medien hergestellt wird.
#Informationsflut
Die Versuchung ist groß, sich das Denken abnehmen zu lassen: Wenn der Computer in Windeseile Stichworte suchen kann, eine unüberschaubare Trefferzahl liefern und beliebig viele Verknüpfungen zwischen ihnen, wozu sich noch selbst anstrengen? Aber die Trefferzahl ist nicht identisch mit Wissenszuwachs. Und selbst ihre Verknüpfungen verweisen nicht zwingend auf sinnvolle Zusammenhänge. Schätze sind nicht ohne Weiteres unterscheidbar von Müll. Sprache wird zum Geräusch. Kleinteiligkeit ersetzt große Bögen. Endlose Details reihen sich aneinander. Die Welt scheint in Einzelteile zu zerfallen mit allenfalls noch oberflächlichen oder schemenhaften Bezügen. Der freie demokratische Zugang zu Informationen ist keineswegs das einzige Problem im Internetzeitalter. Parallel zur Informationsflut im Netz hat sich auch die Landschaft der Psychiatrielehrbücher verändert: Aus einer überschaubaren Zahl von Einführungen ins Fachgebiet, in der Regel von einem Autor in Form eines zusammenhängenden – und von der Länge her noch bewältigbaren – Textes verfasst, erstanden ab Ende der 90er-Jahre umfangreiche Lehr- und Handbücher, verfasst von vielen Autoren mit einer schwer erfassbaren Fülle an Details. Der Stand des Wissens wurde regelmäßig aktualisiert. Die Differenziertheit, mit der die einzelnen Themen abgehandelt wurden, nahm zu. Aber das Fachgebiet hat sich in den Einzelheiten verloren. Die Veränderungen durch die sogenannten deskriptiven Diagnosesysteme haben ihren Teil dazu beigetragen, dass sich theoretische Begrenzungen aufgelöst haben. Mit ihnen aber sind auch die Strukturierungshilfen verloren gegangen, ohne die wir nicht auskommen.
#Der Akt des Lesens
Selbst in den Lehrbüchern wurde Blättern und Nachschlagen zur ausschließlichen Lesemethode. Was nicht sofort greifbar war, blieb ungelesen. Ohne Geduld und Ausdauer aber ist der Akt des Lesens nicht denkbar. Anlässlich der Einführung einer neuen Outlook-Version im vergangenen Jahr wiederholte die Softwaresupporterin einen Satz wieder und wieder: „Lesen Sie. Lesen Sie. Lesen Sie, was da steht”, womit sie sagen wollte, wenn man sich nur ausreichend Zeit ließe, fände man all das von alleine, was in eine neue Ordnung gebracht worden und an einen anderen Platz gerückt war. „Wer schreibt, denkt an einen Leser”, erinnert uns Umberto Eco. Virginia Woolf hat sehr genau zwischen dem Gelehrten, dem lesenden Kritiker und dem gewöhnlichen Leser unterschieden, wobei ihr letzterer die wichtigste Autorität beim Schreiben war. „Der gewöhnliche Leser … ist schlechter ausgebildet, und die Natur hat ihn nicht so reichlich mit ihren Gaben bedacht. Er liest mehr zum eigenen Vergnügen und kaum, um Wissen zu vermitteln oder die Ansichten anderer zu korrigieren. Vor allem wird er von einem Instinkt geleitet, aus allem Zufälligen, das ihm in die Hände fällt, eine Art Ganzes für sich zu erschaffen …” ([10], S. 7). Vielleicht ist unser Mut solch ein Ganzes für uns zu erschaffen mit den neuen Medien gesunken. Virginia Woolfs Bemerkungen über den gewöhnlichen Leser, die sich an verschiedenen Stellen ihrer Essays finden lassen, machen zunächst einmal darauf aufmerksam, in welch enger Verbindung Autorin und Lesende stehen. Woolf räumt dem gewöhnlichen Leser einen Einfluss auf die Texte ein, die sie schreibt. Umgekehrt beeinflusst die Lektüre auch ihre Leser. Alan Bennett hat dazu ein wunderbar leichtes, ironisch abgründiges Buch geschrieben. Seine ungewöhnliche Leserin ist die Queen, die durch Zufall an eine Wanderbibliothek gerät, sich entgegen ihrer bis dahin gepflegten Gewohnheiten zur Leseratte entwickelt und darüber zeitweise fast ihre Pflichten vernachlässigt, zumindest aber feststellt, dass es fesselndere Dinge im Leben gibt als Wohltätigkeitsveranstaltungen zu besuchen und repräsentieren zu müssen. Als man versucht ihr die Bücher zu entwenden, muss sie vertraute Angestellte versetzen. Und schließlich geschieht, was einige zu befürchten schienen: Sie tritt zurück [11].
Weil die Autorin an einen Leser denkt, kann man in einem Text den Leser aufspüren, an den sich die Autorin richtet. Selbst wenn der Autor seine Lesenden nicht explizit benennt, kann man seine Rezipienten beschreiben. Wolfgang Iser versteht den Text als Prozess, zu dem auch der Leser gehört: „Der Text ist ein Wirkungspotenzial, das im Lesevorgang aktualisiert wird” ([12], S. 7). Der Sinn ist demnach nicht eine Botschaft im Text, die sich hinter oder zwischen den Textzeilen verbirgt und den Text überflüssig macht, sobald er erkannt ist. Zum Text gehört die „Weltzuwendung” des Autors, seine Auswahl und Kombination von Themen, Personen, Szenen etc., sein Ansatz der Sinnbildung bis hin zur Erfahrung, die der Lesende beim Akt des Lesens macht. Iser spricht vom impliziten Leser. Bei ihm rückt die Bedeutung des Lesers für den Text ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Zum impliziten Leser gehört nicht nur der fachliche Hintergrund, auf dem der Text gelesen wird, sondern auch die Lesegewohnheiten. Und just diese unsere Lesefähigkeit wird durch die neuen Medien erschüttert. Maryanne Wolf hat sich der Errungenschaft des Lesens und ihrer Komplexität ursprünglich über leseschwache Kinder zugewendet. In ihrer Darstellung unterschiedlicher Formen und Ausmaße von Legasthenie steht die kognitive Entwicklung, die mit dem Spracherwerb und dem Lesenlernen einhergeht im Zentrum. Ihre Tiefe gewinnt die Darstellung aber durch den Bezug zur mittlerweile 6000-jährigen Entwicklung der Schriftsprache, zum einen aus Bildern, zum andern aus Lauten. Durch das Lesen eines bedeutungsvollen Wortes werden neben den Seharealen und den visuellen Assoziationsarealen, frontale, temporale und parietale Regionen zur Identifikation der Phoneme – der kleinsten Lauteinheiten – aktiviert, zur Aufnahme der Wortbedeutung, der Funktion und den Bezügen zu anderen Wörtern. In Abhängigkeit von der Schriftsprache (z. B. Chinesisch gegenüber Deutsch oder Englisch) werden Areale des motorischen Gedächtnisses aktiviert, nicht nur beim Sprechen, sondern auch umso mehr, je häufiger die Schriftzeichen beim Lernen geschrieben werden müssen. Eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung kommt dem Sprach- und Leseerwerb auch für die Entwicklung und Differenzierung von Emotionen zu. So konnte man eindeutig nachweisen, dass das Lesevermögen eines Kindes stark davon beeinflusst wird, wie oft und wie lange Eltern und andere Bezugspersonen ihm vorlesen. Auf dem sicheren Schoß einer vertrauten Person werden Bilder mit Geschichten verknüpft, die Gefühle vermitteln und mit Wörtern in Verbindung gebracht werden. Das Repertoire an Emotionen erweitert sich und kann an einem sicheren Ort erprobt werden. Die Evolution des Schreibens habe die Grundlage für die Entstehung so wichtiger Fertigkeiten wie Dokumentation, Codifikation, Klassifikation, Organisation, Internalisierung von Sprache, Bewusstsein für sich und anderes und für das Bewusstsein selbst geschaffen. „Es ist zwar nicht so, dass das Lesen direkt all diese Fertigkeiten hervorbrachte, doch das stillschweigende Geschenk der Zeit zum Nachdenken, das das zentrale Merkmal des lesenden Gehirns ist, diente als nie dagewesener Anreiz für ihre Entwicklung” ([5], S. 269).
Wir wissen es längst: die neuen Medien sparen nicht einfach Zeit. Sie verschieben die Ansprüche an Zeit, die wir uns für Dinge einräumen. Byung-Chul Han spricht von der temporalen Verdichtung der Erkenntnis, die wir nicht durch Browsen im Netz erwerben können. Sie „unterscheidet die Erkenntnis auch von der Information, die gleichsam zeitleer oder zeitlos im privativen Sinne ist. Aufgrund dieser temporalen Neutralität lassen sich die Informationen abspeichern und beliebig abrufen. Wird den Dingen das Gedächtnis genommen, werden sie zu Informationen oder auch zu Waren. Sie werden in einen zeitleeren, ungeschichtlichen Raum verschoben” ([13], S. 13). Wer nun ist der implizite Leser im Netz? Ein spielender Nutzer, ein wie gut aufgeklärter Konsument – oder nur noch ein Datensatz?
#Den Überblick behalten
Technikschelte oder gar Verzicht auf Technik und neue Medien ist keine Option. „Wir bleiben Autofahrer, auch wenn das Auto in der Garage steht. Wir bleiben Fernsehzuschauer, selbst wenn wir nicht schauen. Technik ist nicht neutral. Technik ist eine Lebensform, die uns prägt bis in die verstecktesten Nischen der Seele. Das geschieht meist unbewusst, weil der Vorgang in der Banalität eingebürgerten Gerätegebrauchs versinkt. Ihn auf Bewusstseinsstufe zu heben, gehört daher zu einer der vordringlichsten Zivilisationsaufgaben des neuen Jahrhunderts. Sie beginnt damit das zu lernen, was wir schon können” [7]. Dieser Aufgabe hat sich Frank Schirrmacher als Herausgeber der FAZ bereits seit einiger Zeit zugewendet, wie nicht nur sein „Payback” zeigt, sondern die vielen Beiträge, die im vergangenen und in diesem Jahr in der FAZ erschienen sind, und von denen hier einzelne zitiert werden. Die unvorstellbaren Speicher-, Such- und Kombinationsmöglichkeiten von Daten scheinen die Realität neu zu erschaffen. Wir laufen Gefahr sie mit der Wirklichkeit zu verwechseln, wenn wir uns mit diesem Prozess nicht kritisch auseinandersetzen. Der Mensch wird in Mathematik verwandelt, oder, um mit Frank Rieger zu sprechen, „der Mensch wird zum Datensatz”. Heute gibt es nicht nur eine „Rasterfahndung”. Es gibt „… genügend digital erfasste Lebensäußerungen, Kommunikation, Bilder, Mobiltelefon-Bewegungsinformationen, Einkaufsentscheidungen … Getrieben vom reichlich verfügbaren Datendünger, sprießen die mathematischen und statistischen Methoden zur Auflösung der Persönlichkeit in klassifizierbare Einzelaspekte zu ungeahnter Güte … Death-Metal-Fans über 35 Jahre, die sich für Spanienreiseführer interessieren, bestellen überdurchschnittlich oft Babywindeln und Schnuller online”. Hier geht es nicht um den Einzelnen, die Individualität scheint sich gleichsam aufzulösen in Gruppen und Gruppierungen, mit denen eine Person die größte Ähnlichkeit hat. Da kann es geschehen, dass ein Überfallkommando die Wohnung stürmt oder durch sog. Gegenwirken Ordnung erzwungen wird, wenn sich ausreichend Verdachtsmomente für Verfehlungen häufen, ohne dass Delikte nachgewiesen werden können: „Wer … ins Visier von ,Gegenwirken‘ gerät, hat plötzlich dauernd eine Steuerprüfung, jeder Behördengang wird zum Spießrutenlauf, dank eines nicht einsehbaren ,Vorsicht!‘-Zeichens in den Datensätzen.” Die Algorithmen, Software und Parameter, erinnert Frank Rieger, der im Auftrag des Bundesverfassungsgerichts ein Gutachten zur Vorratsdatenspeicherung verfasst hat, werden von Menschen gemacht. Dies seien meist Berater, die bei einem Consulting-Unternehmen gemietet werden. Sie sollen Sparpotenziale realisieren oder Prozesse stromlinienförmig gestalten und – mehr auswertbare Daten erzeugen. „Die Erkenntnis, dass wir zu digitalen Menschenprofilen werden, ist nicht selbstverständlich … Wir sollten alle davon ausgehen, dass jedweder Datensatz, den wir irgendwo angeben, gegen uns verwendet wird” [14]. Algorithmen und Gruppeninformationen scheinen plötzlich nicht mehr nur Ergebnis von Datenanalysen zu sein, sondern Wahrheiten über Menschen auszusagen. Und als solche wirken sie auf unser Verhalten zurück. Sie verleiten dazu, „uns selbst und andere nur noch nach vorgegebenen Mustern (zu) beurteilen ohne die Chance aus ihnen auszubrechen und festzustellen, dass sie nicht zutreffen” ([8], S. 105). Als Beispiele für das Vertrauen in solche Algorithmen verweist Schirrmacher auf den Bankencrash und führt für die Kategorisierung von Menschen u. a. die Lesetafel der Augenärzte und Optiker an: Sie werde immer von oben nach unten gelesen, von der größten zur kleinsten Schrift, in der Erwartung, dass das Lesen zwar einfach beginne, aber irgendwann schwer bis unmöglich werde. In einem Versuch habe man die Reihenfolge der Buchstaben auf der Tafel schlicht umgekehrt. Die Probanden hätten mit der kleinsten Schrift begonnen und – siehe da – signifikant besser lesen können. Er plädiert deshalb für den systematischen Perspektivenwechsel und das Wissen, dass Dinge zwar so sein können, wie sie uns vermittelt werden. Möglicherweise aber verhalten sie sich nicht immer oder nicht ganz danach. Denn es sei dieses Mindestmaß an Ungewissheit, das zum eigenen Denken und kritischen Hinterfragen ermuntere.
Die szenische Lesung eines Gutachtens anlässlich eines Versicherungspsychiatrischen Kolloquiums in Luzern im März 2009 hat hörbar gemacht, was im gutachterlichen Alltag untergegangen war: Wie aus einer banalen Fußdistorsion nach 4-maliger Teilamputation ein Beinverlust resultierte. Der Akt des Lesens wurde zur symbolischen Handlung, weil er das Drama sichtbar machte, das mit den Protagonisten Patientin, Hausarzt und Chirurgen unerbittlich seinen Lauf genommen hatte [15]. Fremdes im Akt der Lektüre zu denken bedeutet nach Iser nicht nur, dieses Fremde aufzufassen, sondern etwas zu formulieren, das – zumindest zuerst einmal – nicht das eigene ist. Der Text hat das Potenzial unsere Spontaneität zu mobilisieren, und wenn wir bereit sind uns mobilisieren zu lassen, erlauben wir damit zugleich fremden Gedanken in unserem Bewusstsein formuliert zu werden. Diese Spontaneität, zu der wir uns bewegen lassen, war bis dahin nicht unsere eigene, und deshalb – nur deshalb – kann etwas Neues entstehen: die Formulierung eines uns bis dahin fremden Gedankens, aber auf unsere Weise. Die Formulierung von etwas Unformuliertem (in uns) enthält zugleich die Möglichkeit uns selbst auf eine Weise zu formulieren, die unserem Bewusstsein bisher entzogen schien. Man kann dies auch als Übertragung bezeichnen. Übertragung durch Lesen [12].
Wir haben es mit Theorien und Hypothesen zu tun, nicht mit Wahrheiten. Ein Perspektivenwechsel ist deshalb so wichtig, weil es keine Aperspektivität, weil es kein Ding an sich gibt. Das Verführerische an den Datensätzen ist die Suggestion, des Dinges als solchem doch noch habhaft zu werden. Man kann die Perspektive nicht ablegen, wohl aber verbergen. Man kann versuchen sie unkenntlich zu machen und damit auch den Anteil des Darstellenden an dem Blick, den er auf die Sache wirft. Eine Möglichkeit des Perspektivenwechsels, und damit der Erkenntnis, ist die Änderung der Textgattung. So lautet Alison Louise Kennedys Antwort auf die Vorgänge um den Bankencrash, dass „am Ende alles eine Geschichte” sei. Die Finanzkrise sei „Teil einer viel komplizierteren Geschichte und vollkommen verrückt, zumal man seit fast einem ganzen Jahrzehnt wusste, dass man kein Geld leihen kann, das überhaupt nicht existiert, und dass die Dinge nicht wert sind, was sie wert zu sein scheinen. Die lautere und sehr viel verführerischere Geschichte war jedoch, dass wir mit dem Falschgeld bis in alle Ewigkeit Geschäfte machen können und uns kaufen können, was wir wollen, ohne jemals dafür zu bezahlen …” Die computerisierte Welt infantilisiere uns. Sie schwäche die Vorstellungskraft, weil sie ihr alles Mögliche aufzwinge. Das Individuum werde in unserer Gesellschaft in erster Linie als Einheit betrachtet, „… die kauft und konsumiert – nicht zuletzt auch die Geschichten, die man uns über das eigene Leben erzählt, von denen die meisten allerdings nicht stimmen. Zum Teil ist dies möglich, weil man … schon den Kindern nicht beibringt, wie der eigene Verstand arbeitet, wie man lernt und ein Leben lang die Kontrolle darüber behält, wie und was man lernt” [16]. Der Computer kann sammeln und suchen. Er kann ordnen, aber nach einer Struktur, die wir ihm vorgeben. Denken, den Überblick finden und behalten müssen wir selbst.
Für die Arbeit in unserem Fachgebiet sind Lektüre – Denk- und Orientierungshilfen – in der Regel nicht in hoch Impact-trächtigen Publikationen zu finden, sondern beispielsweise in Editorials, in „Pro und Kontra”, in Diskussionsbeiträgen oder Notizen, z. B. „From the Editor's Desk”. Nach dem Höhenflug der empirischen, am besten randomisiert kontrollierten Studien als solchen, lernen wir mühsam sie kritisch zu lesen und auszuwerten. Im aktuellen Heft des British Journal of Psychiatry verweist Peter Tyrer auf die klinischen Studien im Heft und deren Dekonstruktion, beispielsweise angesichts der Erkenntnis, dass nicht nur Pharmakastudien einen Bias enthalten können, sondern auch Psychotherapiestudien [17]. Tilman Steinert hat im vergangenen Jahr für die Psychiatrische Praxis die derzeitige Praxis von Behandlungsleitlinien kritisch unter die Lupe genommen und sich zur Debatte über die Wirksamkeit von Antidepressiva geäußert [18] [19] [20]. Bis man dahin kommt, muss man viel gelesen haben und auf sehr viel Erfahrung zurückgreifen können. Beides ist ohne Zeit nicht zu haben. Erfahrung und Erkenntnis sind allein aus dem Moment heraus unmöglich, erinnert uns Byung-Chul Han. „Die Erfahrung umfasst einen weiten Zeitraum. Sie ist sehr zeitintensiv im Gegensatz zum Erlebnis, das punktuell, zeitarm ist. Die Erkenntnis ist genauso zeitintensiv wie die Erfahrung. Sie zieht ihre Kraft sowohl aus dem Gewesenen als auch aus dem Zukünftigen. Erst in dieser Verschränkung von Zeithorizonten verdichtet sich die Kenntnis zur Erkenntnis” ([13], S. 13).
#Die Wiederentdeckung des Gesprächs
Angesichts des Kölner Gutachtens hätten die Auftraggeber beim Verfasser nachfragen müssen und – wie von ihm empfohlen – weitere Sachverständige zuziehen. Perspektiven eröffnen sich im Gespräch, insbesondere wenn verschiedene Disziplinen zusammenkommen und sich auf einen Dialog einlassen. Der Einzelne liest in der Regel selektiv. Und manchmal ist es nötig die Reihenfolge umzukehren, wie das Beispiel mit der Lesetafel zeigt. Neben der Aufforderung uns nicht einschüchtern und vom eigenen Denken abbringen zu lassen, ist es vor allem das Gespräch, das angesichts der Informationsflut zu ordnen und zu gewichten hilft. Sokrates grüßt aus der Ferne. Selbst im Internetzeitalter muss man die Welt nicht neu erfinden. Aber wir müssen die Veränderungen wahrnehmen, aufmerksam verfolgen und prüfen, wie wir Bewährtes den Veränderungen anpassen müssen. Johanna Romberg sieht wie Maryanne Wolf, Frank Schirrmacher, Eduard Kaeser, Stephen Baker und Frank Rieger die Situation nicht nur als Mahnung oder Apokalypse. Sie denkt an eine neue kommunikative Welt, in der es kein übergeordnetes Leitmedium mehr gibt, sondern ein Nebeneinander verschiedener Techniken. „Dazu gehört natürlich auch das Lesen – das konzentrierte, zielgerichtete Abtauchen ebenso wie das ungebundene Schweifen durch die Weiten der Bildschirmwelt … Das neue Medium Internet könnte uns helfen, eine lange vernachlässigte Form der Erkenntnisfindung wiederzuentdecken: Das Gespräch … Wir werden erfahren, dass der systematische Austausch innerhalb einer Gruppe auf Dauer der beste Weg ist, neues Wissen zu entwickeln” [21].
#Was sich zu lesen lohnt und warum
Nach diesen langen Ausführungen zur Art des Lesens und den derzeitigen Veränderungen unserer Lesegewohnheiten, drängt die Frage, was sich zu lesen lohnt. Die einfache Antwort heißt: nicht nur Fachliteratur und nicht nur im Netz. Die aufwendigere Antwort wünsche ich mir in Form von Beiträgen für die nächsten Hefte, um nur ein paar Stichworte zu nennen: Wozu lesen wir Originalarbeiten? Wozu Fachbücher? Warum lohnt es sich für Psychopharmaka nicht nur einen Suchbegriff einzugeben, sondern das Arzneitelegramm zu lesen? Welche Bedeutung haben Prosa oder Gedichte? Zum Abschluss noch dies: Warum ich – seriöse – (Tages-)Zeitungen lese? Weil sie mir helfen mich zu orientieren. Weil sie just zu jenem Denken auffordern, von dem die Rede war, zum Perspektivenwechsel, und weil sie bei der Entscheidung helfen, für welche Studie, für welches Sachbuch und welchen Roman es sich lohnt, die Nachtstunden dranzugeben.
#Literatur
- 1 Postman N. Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Erstauflage englisch 1985, deutsch 1986. Frankfurt; Fischer 2006
- 2 Markoff J. Will Steve Jobs Böses?. FAZ Feuilleton. 2.2.2010; Nr. 27 27 , (persönliche Mitteilung von Steve Jobs an John Markoff bei der Einführung des IPad)
- 3 Rossmann A. Ein Satz, kein Einsatz. FAZ Feuilleton. 17.4.2009; Nr. 89 31
- 4 Burger R. Blick in den Abgrund. FAZ Deutschland und die Welt 20.2.2010 Nr. 43, S. 7 und Jungen O. Ein Netz für Kölns Erinnerung. FAZ Geisteswissenschaften. 24.2.2010; Nr. 46 N3
- 5 Wolf M. Das lesende Gehirn. Wie der Mensch zum Lesen kam – und was es in unseren Köpfen bewirkt. Heidelberg; Spektrum Akademischer Verlag 2009
- 6 Weber S. Na klar stimmt das, ich hab's aus dem Netz! Empirische Befunde zur Veränderung von Schreiben und Lesen durch das Internet. FAZ Geisteswissenschaften. 6.5.2009; Nr. 104 N3
- 7 Kaeser E.
Cogitus interruptus oder Vom Leiden im Webzeitalter. NZZ am Sonntag Wissen 31.5.2009, S. 62–63. Nachdruck in: Kaeser E. Pop Science Essays zur Wissenschaftskultur. Basel; Schwabe 2009: 53-64 - 8 Schirrmacher F. Payback. Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen. München; Blessing 2009
- 9 Baker S. Das müssen wir wissen. FAZ Feuilleton 6.2.2010, Nr. 31, S. 31. Baker S. Die Numerati. Datenhaie und ihre geheimen Machenschaften. München; Hanser 2009
- 10 Woolf V. Der gewöhnliche Leser. Essays. Frankfurt; Fischer 1989
- 11 Bennett A. The Uncommon Reader. London; Faber & Faber 2007
- 12 Iser W. Der Akt des Lesens, 4. Aufl. München; Wilhelm Fink / UTB 1994
- 13 Byung-Chul H. Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens. Bielefeld; transcript 2009
- 14 Rieger F. Der Mensch wird zum Datensatz. FAZ Feuilleton 15.1.2009, Nr. 12, S. 23 und Rieger F. Du kannst dich nicht mehr verstecken. FAZ Feuilleton. 20.2.2010; Nr. 43 33
- 15 Versicherungspsychiatrisches Kolloquium vom 5.3.2009 in Luzern: Lesarten – Schreibweisen.
Zur Performanz von Gutachten. Eine mehrstimmige Lesung. Dozentinnen der Zürcher Hochschule
der Künste und Leitung von Anton Rey.
- 16 Kennedy A L. Am Ende ist alles eine Geschichte. NZZ Literatur und Kunst. 31.12.2009; Nr. 303 59
- 17 Tyrer P. Deconstructing bias in clinical trials. B J Psych. 2010; 196 254
- 18 Steinert T. Wirksamkeit von Antidepressiva: Evidence b(i)ased Medicine. Psychiat Prax. 2008; 35 149-151
- 19 Steinert T. Warum sind Leitlinien irrationaler als Metaanalysen?. Psychiat Prax. 2009; 36 238-242
- 20 Steinert T. Update der britischen Schizophrenie-Leitlinie (2009): keine leichte Kost, aber ein Meilenstein. Psychiat Prax. 2009; 36 401-404
- 21 Romberg J. Die Revolution des Lesens. Geo. 2009; Heft 8 92ff.
Dr. med. Ulrike Hoffmann-Richter
Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
Suva – Versicherungsmedizin
Leiterin Versicherungspsychiatrischer Dienst
Postfach 4358
Fluhmattstraße 1
6002 Luzern, Schweiz
Email: ulrike.hoffmannrichter@suva.ch
Literatur
- 1 Postman N. Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Erstauflage englisch 1985, deutsch 1986. Frankfurt; Fischer 2006
- 2 Markoff J. Will Steve Jobs Böses?. FAZ Feuilleton. 2.2.2010; Nr. 27 27 , (persönliche Mitteilung von Steve Jobs an John Markoff bei der Einführung des IPad)
- 3 Rossmann A. Ein Satz, kein Einsatz. FAZ Feuilleton. 17.4.2009; Nr. 89 31
- 4 Burger R. Blick in den Abgrund. FAZ Deutschland und die Welt 20.2.2010 Nr. 43, S. 7 und Jungen O. Ein Netz für Kölns Erinnerung. FAZ Geisteswissenschaften. 24.2.2010; Nr. 46 N3
- 5 Wolf M. Das lesende Gehirn. Wie der Mensch zum Lesen kam – und was es in unseren Köpfen bewirkt. Heidelberg; Spektrum Akademischer Verlag 2009
- 6 Weber S. Na klar stimmt das, ich hab's aus dem Netz! Empirische Befunde zur Veränderung von Schreiben und Lesen durch das Internet. FAZ Geisteswissenschaften. 6.5.2009; Nr. 104 N3
- 7 Kaeser E.
Cogitus interruptus oder Vom Leiden im Webzeitalter. NZZ am Sonntag Wissen 31.5.2009, S. 62–63. Nachdruck in: Kaeser E. Pop Science Essays zur Wissenschaftskultur. Basel; Schwabe 2009: 53-64 - 8 Schirrmacher F. Payback. Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen. München; Blessing 2009
- 9 Baker S. Das müssen wir wissen. FAZ Feuilleton 6.2.2010, Nr. 31, S. 31. Baker S. Die Numerati. Datenhaie und ihre geheimen Machenschaften. München; Hanser 2009
- 10 Woolf V. Der gewöhnliche Leser. Essays. Frankfurt; Fischer 1989
- 11 Bennett A. The Uncommon Reader. London; Faber & Faber 2007
- 12 Iser W. Der Akt des Lesens, 4. Aufl. München; Wilhelm Fink / UTB 1994
- 13 Byung-Chul H. Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens. Bielefeld; transcript 2009
- 14 Rieger F. Der Mensch wird zum Datensatz. FAZ Feuilleton 15.1.2009, Nr. 12, S. 23 und Rieger F. Du kannst dich nicht mehr verstecken. FAZ Feuilleton. 20.2.2010; Nr. 43 33
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Zur Performanz von Gutachten. Eine mehrstimmige Lesung. Dozentinnen der Zürcher Hochschule
der Künste und Leitung von Anton Rey.
- 16 Kennedy A L. Am Ende ist alles eine Geschichte. NZZ Literatur und Kunst. 31.12.2009; Nr. 303 59
- 17 Tyrer P. Deconstructing bias in clinical trials. B J Psych. 2010; 196 254
- 18 Steinert T. Wirksamkeit von Antidepressiva: Evidence b(i)ased Medicine. Psychiat Prax. 2008; 35 149-151
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- 20 Steinert T. Update der britischen Schizophrenie-Leitlinie (2009): keine leichte Kost, aber ein Meilenstein. Psychiat Prax. 2009; 36 401-404
- 21 Romberg J. Die Revolution des Lesens. Geo. 2009; Heft 8 92ff.
Dr. med. Ulrike Hoffmann-Richter
Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
Suva – Versicherungsmedizin
Leiterin Versicherungspsychiatrischer Dienst
Postfach 4358
Fluhmattstraße 1
6002 Luzern, Schweiz
Email: ulrike.hoffmannrichter@suva.ch


Dr. med. Ulrike Hoffmann-Richter