Dr. med. Ulrike Hoffmann-Richter
„Orwell hatte Angst vor denjenigen, die Bücher verbieten würden. Huxley hatte Angst
davor, dass es gar keinen Grund mehr geben könnte, Bücher zu verbieten, weil es niemanden
mehr geben würde, der sie lesen wollte” [1].
„Ganz egal, wie gut oder schlecht das Produkt ist – Tatsache ist, dass die Leute nicht
mehr lesen” [2].
Es gibt nicht nur bedrohte Arten, es gibt auch bedrohte Fähigkeiten, und wie erstere
geraten sie ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn die Bedrohung weit fortgeschritten
ist: Mailverkehr, SMS, Internet, Google, Twitter u. a. haben unsere Lesegewohnheiten
und Lesefähigkeiten in einer Weise verändert, die nicht mehr als Abgesang auf die
Buchlektüre durchgehen kann, sondern in unsere Denk- und Arbeitsfähigkeit im persönlichen
und privaten Leben hineinreicht. An einem nur im Hinblick auf seine Spektakularität
außergewöhnlichen Beispiel möchte ich die Bedeutung des Lesens illustrieren:
Einen Text lesen
Einen Text lesen
Vor fast genau einem Jahr, am 3.3.2009, stürzte das Kölner Stadtarchiv in sich zusammen.
Am 17.4.2009 warf Andreas Rossmann in der FAZ die Frage auf, ob es sein könnte, „… dass
die Katastrophe in Köln … hätte verhindert werden können, wenn ein Gutachten anders
gelesen und daraus jene Schlüsse gezogen worden wären, die Fachleute für geboten erachten?”
Er bezog sich dabei auf das Statikgutachten eines Ingenieurbüros vom 5.1.2009, das
aufgrund einer Inspektion am 18.12.2008 zu folgendem Schluss gekommen war: „Die entstandenen
Risse sind unbedenklich. Das Gebäude ist im jetzigen Zustand in statischer Hinsicht
ausreichend standsicher … Um eine genaue Ursache für das unterschiedliche Setzungsverhalten
herauszufinden und um evtl. weitere Schäden am Gebäude zu vermeiden, empfehle ich
Ihnen, einen öffentlich anerkannten Sachverständigen für Bauwerkschäden einzuschalten.”
Die Leiterin des Archivs, der Kulturdezernent und der Oberbürgermeister waren „beruhigt”.
Ein um Interpretation gebetener Ingenieur erklärte: „Das ist ein Hilferuf. Wer so
einen Hinweis gibt, der hat die Ursache nicht gefunden.” Eine auf Bau- und Architektenrecht
spezialisierte Juristin liest den Satz „als dringende Empfehlung, die Ursache für
das unterschiedliche Setzungsverhalten herauszufinden, insbesondere im Hinblick auf
weitere Bauarbeiten”. Der Auftraggeber, die Gebäudewirtschaft der Stadt Köln, rechtfertigte
ihr Abwarten mit dem Hinweis, „… selbst wenn die Empfehlung umgesetzt worden wäre,
hätte man das immer nur auf das Bauwerk bezogen und nicht auch geotechnische Untersuchungen
durchgeführt …” Der Satz entspreche einer „Allgemeinklausel”, die der überprüfende
Ingenieur zu seiner Entlastung geschrieben habe. Der Ingenieur ist der Ansicht, dass
„ein solches Gutachten … nie auf den Sachverständigen nur einer Disziplin begrenzt
sein” kann. Und ein ergänzend befragter Statiker unterstreicht, dass „der Empfänger
des Schreibens sofort hätte aktiv werden müssen” [3]. Seit dem Februar diesen Jahres erhärten sich die Hinweise dafür, dass an 5 der
derzeit 8 Kölner U-Bahn-Baustellen Bewehrungseisen nicht wie vorgesehen eingebaut,
sondern unter der Hand weiterverkauft wurden, die Schlitzwände zur Sicherung der Baugruben
deshalb gefährdet und die entsprechenden Bauprotokolle gefälscht waren; dass Messdaten
systematisch gefälscht wurden, mehr Brunnen gebaut wurden als genehmigt waren, Absenkungen
nicht beachtet wurden und Beton minderer Qualität eingesetzt wurde [4]. Es kommt nicht selten vor, dass Gutachter nicht über alle entscheidenden Informationen
verfügen. Aber es kommt selten vor, dass sie es offen sagen.
Einen Text zu lesen scheint eine anspruchsvollere Aufgabe zu sein, als gemeinhin angenommen
wird. Es geht nicht nur darum die einzelnen Wörter und Sätze zu verstehen. Die Bedeutung
der Aussagen, den Sinn des Textes als Ganzem kann man umso eher erfassen, je mehr
man mit der Thematik vertraut ist, um die es geht. Zusätzlich wichtig sind Informationen
über Anlass und Entstehungshintergrund des Textes, Wissen über die Textgattung, den
Autor und das Verhältnis zwischen Autor und Adressat bzw. Auftraggeber. In unserem
Beispiel kann man den Satz über die Unbedenklichkeit der Risse nicht für sich alleine
nehmen, also ohne die Empfehlung, einen weiteren Sachverständigen zuzuziehen. Weiß
man dazu, dass dieselbe Firma mit dem Gutachten beauftragt wurde, die auch schon vor
dem U-Bahn-Bau die Statik untersucht hatte und kennt die (unausgesprochenen) Regeln,
wie heikle Themen in Gutachten geäußert werden, hat man also Kenntnis von der Textgattung
Gutachten, versteht man die Warnung, die dieser Satz enthält. Man kann diese Art der
Textrezeption als tiefes Lesen bezeichnen [5], man kann aber auch schlicht beim aufmerksamen Lesen bleiben, im Gegensatz zum Überfliegen,
Schweifen oder Schwirren.
Lesen in den neuen Medien
Lesen in den neuen Medien
Ein Thema können wir identifizieren, wenn wir einen Text überfliegen und danach entscheiden,
ob wir uns ihm weiter zuwenden wollen oder nicht. Den Text aufgenommen, uns mit ihm
gedanklich auseinandergesetzt haben wir damit noch nicht. Stefan Weber ist Medien-
und Kommunikationswissenschaftler und befasst sich seit längerer Zeit mit Veränderungen
von Schreiben und Lesen durch das Internet. Die Debatte um die Chancen und Probleme
durch den kostenlosen Online-Zugang konzentriere sich bisher auf die Urheber- und
Verlagsrechte, also das „Wer” und den „Kanal” der kommunikationswissenschaftlichen
Lasswell-Formel – „Wer sagt was in welchem Kanal zu wem mit welchem Effekt?” – und
blende Inhalte („was”), Rezipienten („zu wem”) und Wirkungen („mit welchem Effekt”)
aus. Bereits jetzt spreche einiges dafür, dass sich Textproduktion wie -rezeption
durch die Digitalisierung und das Internet nicht verbessert, sondern verschlechtert
hätten. So sei man dabei sich vom Referenzsystem der Wissenskultur, also von der Idee
des Originals zu verabschieden. Nicht nur in Schul-, sondern auch in Masterarbeiten
nehme der Eigentextanteil zugunsten von Versatzstücken aus dem Netz bedrohlich ab.
Verweise fehlten oder seien ungenau. Bereits Anfang des Jahrhunderts habe man feststellen
müssen, dass Studierende nicht systematisch nach wissenschaftlicher Information suchten,
sondern browsten: „Die viel beschworenen digitalen Eingeborenen scheinen also zum
Teil massive Probleme mit der Informationsverarbeitung zu haben … Texte werden im
Netz nicht mehr exakt gelesen, sondern maximal noch überflogen, dies großteils ohne
quellenkritisches Bewusstsein und mit erstaunlich naiver Netzgläubigkeit.” Der einfachere
und schnellere Zugang führe also nicht zu genauerem Lesen, Verstehen und Interpretieren.
Man dürfe Open Access nicht, wie von den Befürwortern propagiert, mit Qualitätsverbesserung
gleichsetzen. Auch führten freie Netze nicht automatisch zu freiem Wissen. „Die Basis
für Innovation und Emanzipation ist nicht per se der freie Zugang zu Wissen, sondern
das quellenkritische Rezipieren, Verstehen, Interpretieren und Einordnen desselben …”
Man müsse sehr genau unterscheiden zwischen der Möglichkeit Zugang zu Informationen
zu haben, und der Fähigkeit, die man brauche, um sie zu interpretieren, zitiert Weber
Clifford Stoll aus seinem Buch „LogOut”. Paradox sei es, wenn sich einerseits akademische
Qualifikationsarbeiten am Paradigma-Buch einschließlich ihrer strengen, buchkulturellen
Zitationsweise orientierten und andererseits digitale Möglichkeiten der Recherche
und Rezeption diese Formate überflüssig machten. In dieser Situation sei es nicht
verwunderlich, wenn Schüler und Studenten orientierungslos seien und den Sinn wissenschaftlichen
Arbeitens gar nicht erst begreifen könnten [6].
Letztlich gebe es in einer vollständig digitalisierten Welt sogar neue Möglichkeiten
von Zensur, nicht durch Vorenthalten, sondern durch den Überfluss an Informationen.
„Der Matthäus-Effekt des Netzes könnte weiter dazu führen, dass Qualität und Innovation
systematisch untergehen” [6]. Das „Google-Copy-Paste-Syndrom” betrifft also nicht nur Jugendliche und junge Erwachsene.
Jeder Nutzer muss sich einen Weg durch die Fülle an Angeboten und Informationen suchen.
Der spielend einfache Zugang verleitet dazu, nicht nur ihn, sondern auch die Inhalte
als Spiel zu begreifen und nicht danach zu fragen, welches Versatzstück woher kommt,
nicht nach seiner Bedeutung zu fragen und die fehlende Orientierung nicht als Warnsignal,
sondern einzig als lästige Konfrontation mit der Realität zu erleben. Warum sich nicht
weiter tragen lassen von Brücke zu Brücke über noch eine Idee, einen Happen, einen
Appetizer. Verweilen, Nachfragen, Nachdenken, erscheint auf diesem Ritt nur noch als
Störung. Der Zeitverlust wird dort erlebt, wo man nicht gleich das richtige Stichwort
in einem Treffer findet, die Zeit des Surfens aber, während der man sich verliert
und vergisst, wonach man ursprünglich gesucht hat, scheint nicht von Bedeutung zu
sein. Es gibt nicht nur bestürzend viele primäre Analphabeten (die einen Vorleser
brauchen wie Schlinks Hanna), sondern auch sekundäre Analphabeten in wachsender Zahl
– Menschen, die durchaus in der Lage sind Buchstaben und Wörter zu entziffern, aber
keine längeren Texte mehr zu lesen. Damit sind keineswegs nur Bücher von mehreren
100 Seiten aufwärts gemeint, auch nicht nur Zeitschriftenartikel, sondern schon längere
Briefe oder gar Mails.
Zerstreuung – Aufmerksamkeitsdefizit – Erschöpfung – Ausbrennen
Zerstreuung – Aufmerksamkeitsdefizit – Erschöpfung – Ausbrennen
Das Internet bietet Zerstreuung, so sehr, dass die Konzentration nicht mehr erstrebenswert
zu sein scheint. Eduard Kaeser spricht vom „Cogitus interruptus”, vom Bedürfnis diesen
Zustand des ständigen Wechsels, der Mehrfachbeschäftigung nicht mehr zu entbehren.
Technik könne zu dem Problem werden, für dessen Lösung sie sich halte. Der Illusion
wachsender menschlicher Beherrschung der Dinge entspreche die wachsende Feindschaft
(und Macht) der Dinge, die sich gegen ihn wendeten, zitiert Kaeser Paul Jennings.
„Kaum sind wir im Netz, regt sich die Versuchung genau das nicht zu tun, was man sich
eigentlich zu tun vorgenommen hat. Wir browsen, bloggen, chatten, googeln, simsen,
twittern, zatooen wie die Gehetzten …” [7]. Die daraus resultierende chronische Zerstreuung meine „nicht einfach den Spiel-,
Spass- und Zeitvertreibcharakter heutigen elektronischen Schnickschnacks, sondern
die Tendenz, alle unsere täglichen Arbeiten, Aufgaben, Problemlösungen, Bedürfnisbefriedigungen
in Prozeduren und Modulen zu fragmentieren”. In einer kalifornischen Studie habe man
herausgefunden, dass Angestellte im Durchschnitt etwa 11 Minuten an einer Aufgabe
arbeiteten ohne unterbrochen zu werden. Und auch diese Zeitspanne werde noch einmal
in 3-Minuten-Phasen zerstückelt. Die Rückkehr zur ursprünglichen Aufgabe beanspruche
durchschnittlich 25 Minuten. Die Vielfachbeschäftigung und die Ablenkungen führten
nicht zum effizienteren Arbeiten, sondern zum Konzentrations- und Leistungsabbau.
Selbst wenn sich unsere Gehirne den neuen Ansprüchen anpassen, geht die Nachhaltigkeit
der Informationsverarbeitung darüber verloren. Frank Schirrmacher bringt es auf den
Punkt: „Ich glaube, dass uns die Science-Fiction-Autoren auf die falsche Zukunft vorbereitet
haben. Ihre Fantasie kreiste um die intelligenten Maschinen, die Frage, ob sie eines
Tages klüger sein werden als der Mensch: Und ob sie schließlich die Menschen zu Untertanen
machen. Und damit das Kräfteverhältnis umkehren. Die Frage, die sich heute tatsächlich
stellt, ist aber eine ganz andere. Die Frage lautet, ob wir damit begonnen haben,
uns selbst wie Maschinen zu behandeln. Und ob der Preis für Maschinen, die denken
können, von Menschen gezahlt wird, die es mehr und mehr verlernen” ([8], S. 87). Das Ergebnis eines Versuchs, bei dem die Probanden der Aufforderung sich
dem Computer anzuvertrauen, bereitwillig nachkamen, weil die Fragen der Interaktionsstruktur
zwischen Menschen nachempfunden waren, fasst Schirrmacher folgendermaßen zusammen:
„Wir lieben es, uns als denkende Wesen zu sehen, die nur von der bösen Medien- und
Kommunikationswelt von tiefsinnigen Gedanken abgehalten werden … Die Frage, um die
wir uns kümmern müssen, lautet aber nicht, was wir tun, wenn wir denken, sondern was
wir tun, wenn wir nicht denken. Was geschieht, wenn wir routiniert auf Erfahrungen
zurückgreifen, ohne über sie nachzudenken? Mit anderen Worten: Was geschieht, wenn
unsere Aufmerksamkeit aufgefressen worden ist” ([8], S. 98)?
Stephen Baker hat uns im vergangenen Jahr vor Augen geführt, wie Unternehmen uns Daten
entlocken: „Die Numerati. Datenhaie und ihre geheimen Machenschaften.” Durch die Bereitschaft,
das Netz immer weiterzufüttern, würden wir konfus und zerstreut, „… in mancher Hinsicht
vielleicht sogar dümmer, während die vernetzte Welt selbst immer intelligenter wird.
Ich betrachte sie als einen gigantischen Parasiten, der sich bester Wachstumsbedingungen
erfreut. Was geschieht unterdessen mit unseren Gehirnen? … Diese Herausforderung gleicht
gewissermaßen der, vor der wir bei unserer Ernährung stehen. Die meiste Zeit seines
Erdenlebens musste der Mensch, wie andere Tiere auch, nach Nahrung suchen. Höhlenmenschen
zählen keine Kalorien. Angesichts des Überflusses in den heutigen reichen Gesellschaften
führen unsere allesfresserischen Instinkte jedoch zur Fettleibigkeit. Auch Informationen
waren lange Zeit ein rares Gut. Sie sind es aber nicht mehr. Wir können uns mit ihnen
überfrachten. Wir können uns am Ramsch ins Koma saufen. Damit nähren wir das elektronische
Gehirn und riskieren es, unser eigenes verhungern zu lassen. Mehr als je zuvor müssen
wir steuern was wir in unsere Köpfe lassen …” [9]. Zerstreuung gab es auch schon vor dem Computerzeitalter, den Zappelphilipp wie
Erschöpfungssyndrome. Aber alle diese Modediagnosen erhalten einen anderen Akzent,
wenn man sie in Bezug zur Vereinnahmung durch die neuen Medien setzt. Und dieser Akzent
vertieft sich, wenn Studien zeigen, dass sich die Symptome verlieren, sobald Distanz
zur Arbeit mit den Medien hergestellt wird.
Informationsflut
Informationsflut
Die Versuchung ist groß, sich das Denken abnehmen zu lassen: Wenn der Computer in
Windeseile Stichworte suchen kann, eine unüberschaubare Trefferzahl liefern und beliebig
viele Verknüpfungen zwischen ihnen, wozu sich noch selbst anstrengen? Aber die Trefferzahl
ist nicht identisch mit Wissenszuwachs. Und selbst ihre Verknüpfungen verweisen nicht
zwingend auf sinnvolle Zusammenhänge. Schätze sind nicht ohne Weiteres unterscheidbar
von Müll. Sprache wird zum Geräusch. Kleinteiligkeit ersetzt große Bögen. Endlose
Details reihen sich aneinander. Die Welt scheint in Einzelteile zu zerfallen mit allenfalls
noch oberflächlichen oder schemenhaften Bezügen. Der freie demokratische Zugang zu
Informationen ist keineswegs das einzige Problem im Internetzeitalter. Parallel zur
Informationsflut im Netz hat sich auch die Landschaft der Psychiatrielehrbücher verändert:
Aus einer überschaubaren Zahl von Einführungen ins Fachgebiet, in der Regel von einem
Autor in Form eines zusammenhängenden – und von der Länge her noch bewältigbaren –
Textes verfasst, erstanden ab Ende der 90er-Jahre umfangreiche Lehr- und Handbücher,
verfasst von vielen Autoren mit einer schwer erfassbaren Fülle an Details. Der Stand
des Wissens wurde regelmäßig aktualisiert. Die Differenziertheit, mit der die einzelnen
Themen abgehandelt wurden, nahm zu. Aber das Fachgebiet hat sich in den Einzelheiten
verloren. Die Veränderungen durch die sogenannten deskriptiven Diagnosesysteme haben
ihren Teil dazu beigetragen, dass sich theoretische Begrenzungen aufgelöst haben.
Mit ihnen aber sind auch die Strukturierungshilfen verloren gegangen, ohne die wir
nicht auskommen.
Der Akt des Lesens
Der Akt des Lesens
Selbst in den Lehrbüchern wurde Blättern und Nachschlagen zur ausschließlichen Lesemethode.
Was nicht sofort greifbar war, blieb ungelesen. Ohne Geduld und Ausdauer aber ist
der Akt des Lesens nicht denkbar. Anlässlich der Einführung einer neuen Outlook-Version
im vergangenen Jahr wiederholte die Softwaresupporterin einen Satz wieder und wieder:
„Lesen Sie. Lesen Sie. Lesen Sie, was da steht”, womit sie sagen wollte, wenn man
sich nur ausreichend Zeit ließe, fände man all das von alleine, was in eine neue Ordnung
gebracht worden und an einen anderen Platz gerückt war. „Wer schreibt, denkt an einen
Leser”, erinnert uns Umberto Eco. Virginia Woolf hat sehr genau zwischen dem Gelehrten,
dem lesenden Kritiker und dem gewöhnlichen Leser unterschieden, wobei ihr letzterer
die wichtigste Autorität beim Schreiben war. „Der gewöhnliche Leser … ist schlechter
ausgebildet, und die Natur hat ihn nicht so reichlich mit ihren Gaben bedacht. Er
liest mehr zum eigenen Vergnügen und kaum, um Wissen zu vermitteln oder die Ansichten
anderer zu korrigieren. Vor allem wird er von einem Instinkt geleitet, aus allem Zufälligen,
das ihm in die Hände fällt, eine Art Ganzes für sich zu erschaffen …” ([10], S. 7). Vielleicht ist unser Mut solch ein Ganzes für uns zu erschaffen mit den
neuen Medien gesunken. Virginia Woolfs Bemerkungen über den gewöhnlichen Leser, die
sich an verschiedenen Stellen ihrer Essays finden lassen, machen zunächst einmal darauf
aufmerksam, in welch enger Verbindung Autorin und Lesende stehen. Woolf räumt dem
gewöhnlichen Leser einen Einfluss auf die Texte ein, die sie schreibt. Umgekehrt beeinflusst
die Lektüre auch ihre Leser. Alan Bennett hat dazu ein wunderbar leichtes, ironisch
abgründiges Buch geschrieben. Seine ungewöhnliche Leserin ist die Queen, die durch
Zufall an eine Wanderbibliothek gerät, sich entgegen ihrer bis dahin gepflegten Gewohnheiten
zur Leseratte entwickelt und darüber zeitweise fast ihre Pflichten vernachlässigt,
zumindest aber feststellt, dass es fesselndere Dinge im Leben gibt als Wohltätigkeitsveranstaltungen
zu besuchen und repräsentieren zu müssen. Als man versucht ihr die Bücher zu entwenden,
muss sie vertraute Angestellte versetzen. Und schließlich geschieht, was einige zu
befürchten schienen: Sie tritt zurück [11].
Weil die Autorin an einen Leser denkt, kann man in einem Text den Leser aufspüren,
an den sich die Autorin richtet. Selbst wenn der Autor seine Lesenden nicht explizit
benennt, kann man seine Rezipienten beschreiben. Wolfgang Iser versteht den Text als
Prozess, zu dem auch der Leser gehört: „Der Text ist ein Wirkungspotenzial, das im
Lesevorgang aktualisiert wird” ([12], S. 7). Der Sinn ist demnach nicht eine Botschaft im Text, die sich hinter oder
zwischen den Textzeilen verbirgt und den Text überflüssig macht, sobald er erkannt
ist. Zum Text gehört die „Weltzuwendung” des Autors, seine Auswahl und Kombination
von Themen, Personen, Szenen etc., sein Ansatz der Sinnbildung bis hin zur Erfahrung,
die der Lesende beim Akt des Lesens macht. Iser spricht vom impliziten Leser. Bei
ihm rückt die Bedeutung des Lesers für den Text ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Zum
impliziten Leser gehört nicht nur der fachliche Hintergrund, auf dem der Text gelesen
wird, sondern auch die Lesegewohnheiten. Und just diese unsere Lesefähigkeit wird
durch die neuen Medien erschüttert. Maryanne Wolf hat sich der Errungenschaft des
Lesens und ihrer Komplexität ursprünglich über leseschwache Kinder zugewendet. In
ihrer Darstellung unterschiedlicher Formen und Ausmaße von Legasthenie steht die kognitive
Entwicklung, die mit dem Spracherwerb und dem Lesenlernen einhergeht im Zentrum. Ihre
Tiefe gewinnt die Darstellung aber durch den Bezug zur mittlerweile 6000-jährigen
Entwicklung der Schriftsprache, zum einen aus Bildern, zum andern aus Lauten. Durch
das Lesen eines bedeutungsvollen Wortes werden neben den Seharealen und den visuellen
Assoziationsarealen, frontale, temporale und parietale Regionen zur Identifikation
der Phoneme – der kleinsten Lauteinheiten – aktiviert, zur Aufnahme der Wortbedeutung,
der Funktion und den Bezügen zu anderen Wörtern. In Abhängigkeit von der Schriftsprache
(z. B. Chinesisch gegenüber Deutsch oder Englisch) werden Areale des motorischen Gedächtnisses
aktiviert, nicht nur beim Sprechen, sondern auch umso mehr, je häufiger die Schriftzeichen
beim Lernen geschrieben werden müssen. Eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung kommt
dem Sprach- und Leseerwerb auch für die Entwicklung und Differenzierung von Emotionen
zu. So konnte man eindeutig nachweisen, dass das Lesevermögen eines Kindes stark davon
beeinflusst wird, wie oft und wie lange Eltern und andere Bezugspersonen ihm vorlesen.
Auf dem sicheren Schoß einer vertrauten Person werden Bilder mit Geschichten verknüpft,
die Gefühle vermitteln und mit Wörtern in Verbindung gebracht werden. Das Repertoire
an Emotionen erweitert sich und kann an einem sicheren Ort erprobt werden. Die Evolution
des Schreibens habe die Grundlage für die Entstehung so wichtiger Fertigkeiten wie
Dokumentation, Codifikation, Klassifikation, Organisation, Internalisierung von Sprache,
Bewusstsein für sich und anderes und für das Bewusstsein selbst geschaffen. „Es ist
zwar nicht so, dass das Lesen direkt all diese Fertigkeiten hervorbrachte, doch das
stillschweigende Geschenk der Zeit zum Nachdenken, das das zentrale Merkmal des lesenden
Gehirns ist, diente als nie dagewesener Anreiz für ihre Entwicklung” ([5], S. 269).
Wir wissen es längst: die neuen Medien sparen nicht einfach Zeit. Sie verschieben
die Ansprüche an Zeit, die wir uns für Dinge einräumen. Byung-Chul Han spricht von
der temporalen Verdichtung der Erkenntnis, die wir nicht durch Browsen im Netz erwerben
können. Sie „unterscheidet die Erkenntnis auch von der Information, die gleichsam
zeitleer oder zeitlos im privativen Sinne ist. Aufgrund dieser temporalen Neutralität
lassen sich die Informationen abspeichern und beliebig abrufen. Wird den Dingen das
Gedächtnis genommen, werden sie zu Informationen oder auch zu Waren. Sie werden in
einen zeitleeren, ungeschichtlichen Raum verschoben” ([13], S. 13). Wer nun ist der implizite Leser im Netz? Ein spielender Nutzer, ein wie
gut aufgeklärter Konsument – oder nur noch ein Datensatz?
Den Überblick behalten
Den Überblick behalten
Technikschelte oder gar Verzicht auf Technik und neue Medien ist keine Option. „Wir
bleiben Autofahrer, auch wenn das Auto in der Garage steht. Wir bleiben Fernsehzuschauer,
selbst wenn wir nicht schauen. Technik ist nicht neutral. Technik ist eine Lebensform,
die uns prägt bis in die verstecktesten Nischen der Seele. Das geschieht meist unbewusst,
weil der Vorgang in der Banalität eingebürgerten Gerätegebrauchs versinkt. Ihn auf
Bewusstseinsstufe zu heben, gehört daher zu einer der vordringlichsten Zivilisationsaufgaben
des neuen Jahrhunderts. Sie beginnt damit das zu lernen, was wir schon können” [7]. Dieser Aufgabe hat sich Frank Schirrmacher als Herausgeber der FAZ bereits seit
einiger Zeit zugewendet, wie nicht nur sein „Payback” zeigt, sondern die vielen Beiträge,
die im vergangenen und in diesem Jahr in der FAZ erschienen sind, und von denen hier
einzelne zitiert werden. Die unvorstellbaren Speicher-, Such- und Kombinationsmöglichkeiten
von Daten scheinen die Realität neu zu erschaffen. Wir laufen Gefahr sie mit der Wirklichkeit
zu verwechseln, wenn wir uns mit diesem Prozess nicht kritisch auseinandersetzen.
Der Mensch wird in Mathematik verwandelt, oder, um mit Frank Rieger zu sprechen, „der
Mensch wird zum Datensatz”. Heute gibt es nicht nur eine „Rasterfahndung”. Es gibt
„… genügend digital erfasste Lebensäußerungen, Kommunikation, Bilder, Mobiltelefon-Bewegungsinformationen,
Einkaufsentscheidungen … Getrieben vom reichlich verfügbaren Datendünger, sprießen
die mathematischen und statistischen Methoden zur Auflösung der Persönlichkeit in
klassifizierbare Einzelaspekte zu ungeahnter Güte … Death-Metal-Fans über 35 Jahre,
die sich für Spanienreiseführer interessieren, bestellen überdurchschnittlich oft
Babywindeln und Schnuller online”. Hier geht es nicht um den Einzelnen, die Individualität
scheint sich gleichsam aufzulösen in Gruppen und Gruppierungen, mit denen eine Person
die größte Ähnlichkeit hat. Da kann es geschehen, dass ein Überfallkommando die Wohnung
stürmt oder durch sog. Gegenwirken Ordnung erzwungen wird, wenn sich ausreichend Verdachtsmomente
für Verfehlungen häufen, ohne dass Delikte nachgewiesen werden können: „Wer … ins
Visier von ,Gegenwirken‘ gerät, hat plötzlich dauernd eine Steuerprüfung, jeder Behördengang
wird zum Spießrutenlauf, dank eines nicht einsehbaren ,Vorsicht!‘-Zeichens in den
Datensätzen.” Die Algorithmen, Software und Parameter, erinnert Frank Rieger, der
im Auftrag des Bundesverfassungsgerichts ein Gutachten zur Vorratsdatenspeicherung
verfasst hat, werden von Menschen gemacht. Dies seien meist Berater, die bei einem
Consulting-Unternehmen gemietet werden. Sie sollen Sparpotenziale realisieren oder
Prozesse stromlinienförmig gestalten und – mehr auswertbare Daten erzeugen. „Die Erkenntnis,
dass wir zu digitalen Menschenprofilen werden, ist nicht selbstverständlich … Wir
sollten alle davon ausgehen, dass jedweder Datensatz, den wir irgendwo angeben, gegen
uns verwendet wird” [14]. Algorithmen und Gruppeninformationen scheinen plötzlich nicht mehr nur Ergebnis
von Datenanalysen zu sein, sondern Wahrheiten über Menschen auszusagen. Und als solche
wirken sie auf unser Verhalten zurück. Sie verleiten dazu, „uns selbst und andere
nur noch nach vorgegebenen Mustern (zu) beurteilen ohne die Chance aus ihnen auszubrechen
und festzustellen, dass sie nicht zutreffen” ([8], S. 105). Als Beispiele für das Vertrauen in solche Algorithmen verweist Schirrmacher
auf den Bankencrash und führt für die Kategorisierung von Menschen u. a. die Lesetafel
der Augenärzte und Optiker an: Sie werde immer von oben nach unten gelesen, von der
größten zur kleinsten Schrift, in der Erwartung, dass das Lesen zwar einfach beginne,
aber irgendwann schwer bis unmöglich werde. In einem Versuch habe man die Reihenfolge
der Buchstaben auf der Tafel schlicht umgekehrt. Die Probanden hätten mit der kleinsten
Schrift begonnen und – siehe da – signifikant besser lesen können. Er plädiert deshalb
für den systematischen Perspektivenwechsel und das Wissen, dass Dinge zwar so sein
können, wie sie uns vermittelt werden. Möglicherweise aber verhalten sie sich nicht
immer oder nicht ganz danach. Denn es sei dieses Mindestmaß an Ungewissheit, das zum
eigenen Denken und kritischen Hinterfragen ermuntere.
Die szenische Lesung eines Gutachtens anlässlich eines Versicherungspsychiatrischen
Kolloquiums in Luzern im März 2009 hat hörbar gemacht, was im gutachterlichen Alltag
untergegangen war: Wie aus einer banalen Fußdistorsion nach 4-maliger Teilamputation
ein Beinverlust resultierte. Der Akt des Lesens wurde zur symbolischen Handlung, weil
er das Drama sichtbar machte, das mit den Protagonisten Patientin, Hausarzt und Chirurgen
unerbittlich seinen Lauf genommen hatte [15]. Fremdes im Akt der Lektüre zu denken bedeutet nach Iser nicht nur, dieses Fremde
aufzufassen, sondern etwas zu formulieren, das – zumindest zuerst einmal – nicht das
eigene ist. Der Text hat das Potenzial unsere Spontaneität zu mobilisieren, und wenn
wir bereit sind uns mobilisieren zu lassen, erlauben wir damit zugleich fremden Gedanken
in unserem Bewusstsein formuliert zu werden. Diese Spontaneität, zu der wir uns bewegen
lassen, war bis dahin nicht unsere eigene, und deshalb – nur deshalb – kann etwas
Neues entstehen: die Formulierung eines uns bis dahin fremden Gedankens, aber auf
unsere Weise. Die Formulierung von etwas Unformuliertem (in uns) enthält zugleich
die Möglichkeit uns selbst auf eine Weise zu formulieren, die unserem Bewusstsein
bisher entzogen schien. Man kann dies auch als Übertragung bezeichnen. Übertragung
durch Lesen [12].
Wir haben es mit Theorien und Hypothesen zu tun, nicht mit Wahrheiten. Ein Perspektivenwechsel
ist deshalb so wichtig, weil es keine Aperspektivität, weil es kein Ding an sich gibt.
Das Verführerische an den Datensätzen ist die Suggestion, des Dinges als solchem doch
noch habhaft zu werden. Man kann die Perspektive nicht ablegen, wohl aber verbergen.
Man kann versuchen sie unkenntlich zu machen und damit auch den Anteil des Darstellenden
an dem Blick, den er auf die Sache wirft. Eine Möglichkeit des Perspektivenwechsels,
und damit der Erkenntnis, ist die Änderung der Textgattung. So lautet Alison Louise
Kennedys Antwort auf die Vorgänge um den Bankencrash, dass „am Ende alles eine Geschichte”
sei. Die Finanzkrise sei „Teil einer viel komplizierteren Geschichte und vollkommen
verrückt, zumal man seit fast einem ganzen Jahrzehnt wusste, dass man kein Geld leihen
kann, das überhaupt nicht existiert, und dass die Dinge nicht wert sind, was sie wert
zu sein scheinen. Die lautere und sehr viel verführerischere Geschichte war jedoch,
dass wir mit dem Falschgeld bis in alle Ewigkeit Geschäfte machen können und uns kaufen
können, was wir wollen, ohne jemals dafür zu bezahlen …” Die computerisierte Welt
infantilisiere uns. Sie schwäche die Vorstellungskraft, weil sie ihr alles Mögliche
aufzwinge. Das Individuum werde in unserer Gesellschaft in erster Linie als Einheit
betrachtet, „… die kauft und konsumiert – nicht zuletzt auch die Geschichten, die
man uns über das eigene Leben erzählt, von denen die meisten allerdings nicht stimmen.
Zum Teil ist dies möglich, weil man … schon den Kindern nicht beibringt, wie der eigene
Verstand arbeitet, wie man lernt und ein Leben lang die Kontrolle darüber behält,
wie und was man lernt” [16]. Der Computer kann sammeln und suchen. Er kann ordnen, aber nach einer Struktur,
die wir ihm vorgeben. Denken, den Überblick finden und behalten müssen wir selbst.
Für die Arbeit in unserem Fachgebiet sind Lektüre – Denk- und Orientierungshilfen
– in der Regel nicht in hoch Impact-trächtigen Publikationen zu finden, sondern beispielsweise
in Editorials, in „Pro und Kontra”, in Diskussionsbeiträgen oder Notizen, z. B. „From
the Editor's Desk”. Nach dem Höhenflug der empirischen, am besten randomisiert kontrollierten
Studien als solchen, lernen wir mühsam sie kritisch zu lesen und auszuwerten. Im aktuellen
Heft des British Journal of Psychiatry verweist Peter Tyrer auf die klinischen Studien
im Heft und deren Dekonstruktion, beispielsweise angesichts der Erkenntnis, dass nicht
nur Pharmakastudien einen Bias enthalten können, sondern auch Psychotherapiestudien
[17]. Tilman Steinert hat im vergangenen Jahr für die Psychiatrische Praxis die derzeitige
Praxis von Behandlungsleitlinien kritisch unter die Lupe genommen und sich zur Debatte
über die Wirksamkeit von Antidepressiva geäußert [18]
[19]
[20]. Bis man dahin kommt, muss man viel gelesen haben und auf sehr viel Erfahrung zurückgreifen
können. Beides ist ohne Zeit nicht zu haben. Erfahrung und Erkenntnis sind allein
aus dem Moment heraus unmöglich, erinnert uns Byung-Chul Han. „Die Erfahrung umfasst
einen weiten Zeitraum. Sie ist sehr zeitintensiv im Gegensatz zum Erlebnis, das punktuell,
zeitarm ist. Die Erkenntnis ist genauso zeitintensiv wie die Erfahrung. Sie zieht
ihre Kraft sowohl aus dem Gewesenen als auch aus dem Zukünftigen. Erst in dieser Verschränkung
von Zeithorizonten verdichtet sich die Kenntnis zur Erkenntnis” ([13], S. 13).
Die Wiederentdeckung des Gesprächs
Die Wiederentdeckung des Gesprächs
Angesichts des Kölner Gutachtens hätten die Auftraggeber beim Verfasser nachfragen
müssen und – wie von ihm empfohlen – weitere Sachverständige zuziehen. Perspektiven
eröffnen sich im Gespräch, insbesondere wenn verschiedene Disziplinen zusammenkommen
und sich auf einen Dialog einlassen. Der Einzelne liest in der Regel selektiv. Und
manchmal ist es nötig die Reihenfolge umzukehren, wie das Beispiel mit der Lesetafel
zeigt. Neben der Aufforderung uns nicht einschüchtern und vom eigenen Denken abbringen
zu lassen, ist es vor allem das Gespräch, das angesichts der Informationsflut zu ordnen
und zu gewichten hilft. Sokrates grüßt aus der Ferne. Selbst im Internetzeitalter
muss man die Welt nicht neu erfinden. Aber wir müssen die Veränderungen wahrnehmen,
aufmerksam verfolgen und prüfen, wie wir Bewährtes den Veränderungen anpassen müssen.
Johanna Romberg sieht wie Maryanne Wolf, Frank Schirrmacher, Eduard Kaeser, Stephen
Baker und Frank Rieger die Situation nicht nur als Mahnung oder Apokalypse. Sie denkt
an eine neue kommunikative Welt, in der es kein übergeordnetes Leitmedium mehr gibt,
sondern ein Nebeneinander verschiedener Techniken. „Dazu gehört natürlich auch das
Lesen – das konzentrierte, zielgerichtete Abtauchen ebenso wie das ungebundene Schweifen
durch die Weiten der Bildschirmwelt … Das neue Medium Internet könnte uns helfen,
eine lange vernachlässigte Form der Erkenntnisfindung wiederzuentdecken: Das Gespräch … Wir
werden erfahren, dass der systematische Austausch innerhalb einer Gruppe auf Dauer
der beste Weg ist, neues Wissen zu entwickeln” [21].
Was sich zu lesen lohnt und warum
Was sich zu lesen lohnt und warum
Nach diesen langen Ausführungen zur Art des Lesens und den derzeitigen Veränderungen
unserer Lesegewohnheiten, drängt die Frage, was sich zu lesen lohnt. Die einfache
Antwort heißt: nicht nur Fachliteratur und nicht nur im Netz. Die aufwendigere Antwort
wünsche ich mir in Form von Beiträgen für die nächsten Hefte, um nur ein paar Stichworte
zu nennen: Wozu lesen wir Originalarbeiten? Wozu Fachbücher? Warum lohnt es sich für
Psychopharmaka nicht nur einen Suchbegriff einzugeben, sondern das Arzneitelegramm
zu lesen? Welche Bedeutung haben Prosa oder Gedichte? Zum Abschluss noch dies: Warum
ich – seriöse – (Tages-)Zeitungen lese? Weil sie mir helfen mich zu orientieren. Weil
sie just zu jenem Denken auffordern, von dem die Rede war, zum Perspektivenwechsel,
und weil sie bei der Entscheidung helfen, für welche Studie, für welches Sachbuch
und welchen Roman es sich lohnt, die Nachtstunden dranzugeben.