Der Klinikarzt 2009; 38(11): 482-483
DOI: 10.1055/s-0029-1243481
Medizin & Management

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Wirtschaftskrise und Gesundheitssysteme

Katalysator für überfällige Reformen
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Publication Date:
02 December 2009 (online)

 
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Die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise wird sich langfristig auch negativ auf die gesundheitliche Versorgung der Europäer auswirken. Staaten mit weniger gut ausgebauten Sozialsystemen sowie Arme, sozial Schwache, chronisch Kranke und Migranten werden unter den Folgen voraussichtlich am meisten zu leiden haben. Dieses Fazit zogen Fachleute aus Medizin, Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung auf dem Europäischen Gesundheitsforum in Bad Hofgastein (EGF). Um die gesundheitlichen Risiken infolge der Krise so klein wie möglich zu halten, sollten die Regierungen ihre sozialen Netze ausbauen, Präventions- sowie Informationsmaßnahmen verstärken und in Arbeitsmarktprogramme investieren.

Noch halten sich die Auswirkungen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise auf die gesundheitliche Versorgung der europäischen Bevölkerung weitgehend in Grenzen. Dennoch sind negative Folgen vor allem in einkommensschwächeren Staaten und Ländern mit einer geringen sozialen Absicherung bereits deutlich spürbar. In Lettland beispielsweise gaben 40 % der chronisch Kranken bei einer Umfrage des Europäischen Patientenforums an, dass sich ihre gesundheitliche Situation in den letzten Monaten signifikant verschlechtert habe. Knapp ein Viertel hat nach eigener Aussage aus wirtschaftlichen Gründen auf einen Arztbesuch verzichtet.

In Rumänien wiederum erhalten Kinder mit Leukämie oder anderen Krebserkrankungen keine ausreichende Versorgung, da es an Medikamenten fehlt. Auch hat die rumänische Regierung 2009 Gelder für nationale Programme beispielsweise zur Behandlung der Multiple Sklerose gestrichen.

Derlei Auswirkungen sind nach Meinung von Fachleuten aus dem Sozial- und Gesundheitswesen bislang nur die Spitze des Eisbergs. Auch in anderen Ländern dürfte sich die Wirtschaftskrise in Form vermehrter Zuzahlungen, höherer Preise für Arzneimittel und andere medizinische Güter sowie durch eine Zunahme an Infektionskrankheiten und einen eingeschränkteren Zugang zu medizinischen und zahnmedizinischen Leistungen bemerkbar machen.

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Konsequenzen zeigen sich erst verzögert

"Die Krise schlägt im Gesundheitswesen möglicherweise erst ab 2010 richtig zu", sagte Armin Fidler, gesundheitspolitischer Chefberater der Weltbank in Bad Hofgastein. Grund hierfür sei, dass die sozialen Auswirkungen der Krise, wie steigende Arbeitslosenzahlen und die damit zusammenhängenden Konsequenzen für die Gesundheit der Menschen erst mit Verzögerung deutlich werden.

Auch zeigten Untersuchungen über zurückliegende ökonomische Krisen, dass die Regierungen dazu neigen, Ausgaben für die öffentliche Gesundheitsversorgung in wirtschaftlich schlechten Zeiten deutlich zu kürzen. Die Gesundheitssysteme würden sich von derartigen Einschnitten in der Regel nur sehr langsam erholen, so Fidler.

Fidler warnte auch davor, die Krise vor dem Hintergrund einer sich möglicherweise abzeichnenden leichten Erholung der Wirtschaftslage in Ländern wie Deutschland und Frankreich auf die leichte Schulter zu nehmen.

Denn Rückgänge im Beitragsaufkommen der Krankenkassen durch steigende Arbeitslosenzahlen seien nur eine mögliche Folge der Krise. Die schwierige wirtschaftliche Lage vieler privater Haushalte könnte auch zu einem Anstieg stressbedingter Erkrankungen, einem vermehrten Alkohol- und Drogenkonsum, einer Zunahme psychischer Erkrankungen und erhöhten Selbstmordraten führen.

Dies belegen Untersuchungen über frühere Krisen. Dabei ist offensichtlich von entscheidender Bedeutung, wie hoch das Niveau der öffentlichen Gesundheitsversorgung vor dem wirtschaftlichen Abschwung war.

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Sozial Schwache von der Krise besonders bedroht

Der Soziologe David Struckler von der Universität Oxford und Autor einer Studie, die sich mit den Gesundheitsfolgen von Wirtschaftskrisen beschäftigt, erläuterte dies am Beispiel der Selbstmordraten in Schweden und Spanien. "In Schweden, wo es relativ hohe Gesundheitsausgaben pro Kopf gibt, ist keinerlei Zusammenhang zwischen Konjunktur und Selbstmordraten feststellbar. In Spanien, dessen öffentliche Gesundheitsversorgung auf einem deutlich niedrigeren Stand ist, schwanken die Sterblichkeitsraten praktisch parallel zur Konjunkturentwicklung."

Struckler warnte eindringlich vor radikalen Einschnitten bei den Gesundheits- und Sozialbudgets. Der Glaube, dass man kurzfristig Opfer bringen müsse, um langfristig zu profitieren, sei völlig falsch. "Eine verschlechterte Gesundheitsversorgung behindert durch steigende Krankenstände und sinkende Produktivität nachhaltig eine Erholung der Wirtschaft und ist daher auch rein ökonomisch nicht zu rechtfertigen", mahnte der Soziologe.

Nach den Erkenntnissen von Struckler neigen zahlreiche Menschen zudem angesichts steigender Preise, Arbeitslosigkeit und einer allgemeinen Verunsicherung über ihre persönliche Zukunft zu einem ungesunden Lebensstil. So griffen viele Verbraucher in Krisenzeiten zu preisgünstigeren Lebensmitteln mit einem höheren Fett- und Zuckergehalt.

Auf dem Forum wurde ebenfalls deutlich, dass vor allem sozial Schwache und Arme, chronisch Kranke, Schwangere sowie Kinder und Jugendliche von den Auswirkungen der Krise bedroht sind. Diese Gruppen gelte es daher besonders vor den Auswirkungen der Wirtschaftskrise zu schützen und ihnen den Zugang zu medizinischen Leistungen zu erweitern, betonte Fidler. Zugleich wies er darauf hin, dass hierbei insbesondere Migranten als mögliche Träger von Infektionskrankheiten zu berücksichtigen seien.

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Maßnahmen zur Sicherung der gesundheitlichen Versorgung

Als Gegenmaßnahmen zur Sicherung der gesundheitlichen Versorgung eigneten sich nach Ansicht des Finanzfachmanns in erster Linie gezielte Arbeitsmarktprogramme sowie Maßnahmen zur Reduzierung der Kosten von Arzneimitteln und im Krankenhausbereich.

Struckler betonte zudem, dass in Krisenzeiten grundsätzlich keine anderen Gesundheitsstrategien notwendig sind, als in guten Konjunkturphasen. Auch bedürfe es nicht zwingend großer Summen, um die Programme zu finanzieren: "Wenn wir ein Prozent der Summe, die für die Rettung des Finanzsystems zur Verfügung steht, für gezielte Gesundheits- und Sozialmaßnahmen aufwenden, dann können wir verhindern, dass die Wirtschaftskrise letztlich auch noch Leben kostet."

Der deutschen Bundesregierung warf Fidler vor, dass von den 10 Milliarden Euro aus dem Konjunkturpaket, die für das Gesundheitswesen vorgesehen sind, ein Großteil in die Modernisierung und den Ausbau von Krankenhäusern fließt. "Das stützt den Arbeitsmarkt und verbessert möglicherweise auch langfristig die Infrastruktur, für die Qualität der Gesundheitsversorgung während der Krise bringt es aber nichts."

Robert Madelin, der EU-Generaldirektor für Gesundheit und Verbraucher, hält eine stärkere europäische und internationale Zusammenarbeit für zwingend notwendig. Madelin forderte vor allem eine Konzentration auf Präventionsmaßnahmen und die Förderung eines gesunden Lebensstils sowie den Abbau der gesundheitlichen Ungleichheiten in Europa.

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Ziel: Orientierung an medizinischen und ethischen Ansprüchen

Der Präsident des EGF, Günther Leiner, warnte angesichts der aktuellen Wirtschaftslage die Regierungen davor, auf längst überfällige Reformen, Einsparungen und Effizienzsteigerungen zu verzichten. "Nur wer das Gesundheitssystem rationalisiert, wird Rationierungen bei den Gesundheitsleistungen verhindern können", so Leiner. Zur Not müssten auch einige heilige Kühe geschlachtet werden.

Die Entscheidungen in der Gesundheitspolitik müssten sich dabei weiterhin primär an medizinischen und ethischen Ansprüchen orientieren. "Budgets geben Rahmenbedingungen vor, aber Geld kann nicht der beherrschende Maßstab in Fragen der Gesundheitsversorgung sein", so Leiner.

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