Die in diesem Heft publizierten Arbeiten von O. A. Hampel et al. (S. 18–25), J. Kastner
et al. (S. 26–34) sowie U. Nennstiel-Ratzel et al. (S. 45–50) sind Ausdruck der zunehmenden
Aktivität von mehreren Arbeitsgruppen, unterschiedliche Themen der klinischen Sozialpädiatrie
wissenschaftlich zu behandeln. So wird in der Arbeit von Hampel et al. im Rahmen einer
multizentrischen deutschlandweiten Studie ein verhaltenstherapeutisches Eltern-Gruppen-Training
auf seine Wirksamkeit überprüft. Dabei konnten eine Reduktion von dysfunktionalem
Erziehungsverhalten, elterlicher Belastung und kindlichen Verhaltensproblemen nachgewiesen
werden. Die Arbeit von Kastner et al. befasst sich mit dem Zusammenhang von Motorik
und Kognition und die von Nennstiel-Ratzel et al. mit der Epidemiologie und Präventionsmöglichkeiten
beim Plötzlichen Kindstod.
Viele Jahre war das, was wir heute unter Sozialpädiatrie verstehen, entweder eine
Selbstverständlichkeit für jeden Kinderarzt oder ein wissenschaftlich nicht ganz ernst
zu nehmender Randbereich der Pädiatrie, der sich vor allem mit schwerbehinderten und
verhaltensauffälligen Kindern beschäftigt hat.
Nach den Pionierarbeiten von T. Hellbrügge, u. a. mit seinem Engagement für die Früherkennungsuntersuchungen,
die Primärprävention und die mehrdimensionale Frühbehandlung bei Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten,
waren es vor allem H. G. Schlack, H. von Voss und R. von Kries, die in den vergangenen
25 Jahren ein in sich schlüssiges, modernes Konzept der Sozialpädiatrie in Deutschland
etabliert haben. Hierzu gehören u. a. das Prinzip der Salutogenese, die wissenschaftliche
Bearbeitung der Epidemiologie im Kindesalter, Untersuchungen zur Effektivität verschiedener
Heilmitteltherapien und die Heraushebung multidisziplinärer Unterstützungsangebote
für die Familien von entwicklungsauffälligen Kindern. Konkrete Beispiele hierfür sind
die multimodalen Konzepte bei der Behandlung der Zerebralparesen oder der Adipositas,
niederschwellige Betreuungs- und Fördermaßnahmen bei biologischen und psychosozialen
Risikofamilien, z. B. den extrem Frühgeborenen und neue Konzepte in der Diagnostik
und Therapie von Sprachentwicklungsstörungen, umschriebenen Entwicklungsstörungen
schulischer Fähigkeiten, Intelligenzminderung, ADHS u. a.m. [1]
[3]
[4]
[8]
[11].
Von besonderer Bedeutung für die sozialpädiatrische Forschung war die Veröffentlichung
des Kinder-und-Jugendlichen-Gesundheits-Surveys durch das Robert-Koch-Institut, an
dem mehrere Sozialpädiater, u. a. U. Thyen, R. und C. Bergmann sowie H. G. Schlack
entscheidend mitgearbeitet haben [5].
Mittlerweile gibt es in Deutschland fast flächendeckend 135 Sozialpädiatrische Zentren,
in denen pro Jahr über 270 000 Kinder multidisziplinär diagnostiziert und behandelt
werden [2]. In vielen Arbeitsgruppen wurden ausführliche Protokolle zu den strukturellen Grundlagen
und zur Qualität der sozialpädiatrischen Behandlung erarbeitet und in den „Altöttinger
Papieren 1 und 2” veröffentlicht [6]
[7].
2009 erschienen praktisch zeitgleich 2 neue Monografien, zum einen von H. G. Schlack,
U. Thyen und R. von Kries „Sozialpädiatrie – Gesundheitswissenschaft und pädiatrischer
Alltag” und von H. Bode, H. M. Straßburg und H. Hollmann „Sozialpädiatrie in der Praxis”
[2]
[9]. In beiden Werken wird die Sozialpädiatrie als ein Querschnittsfach der Kinder-
und Jugendmedizin beschrieben, das sich mit den Bedingungen von Gesundheit und Entwicklung
sowie deren Störungen und Auswirkungen beschäftigt. Dabei wird besonderer Wert auf
die Partizipation im sozialen Kontext gelegt, was auch ein wesentliches Anliegen der
Internationalen Klassifikation der Funktionen für Kinder und Jugendliche (ICFCY) ist.
In ihrer interdisziplinären Arbeitsweise ist die Sozialpädiatrie mit natur-, geistes-
und gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen vernetzt. Das Spektrum der Sozialpädiatrie
schließt neben den Methoden der Pädiatrie solche der Epidemiologie, der Psychologie
und Entwicklungspsychologie, der Entwicklungsneurologie, der Gesundheitsökonomie u. a.m.
ein. Von besonderer Bedeutung ist dabei auch der hohe Stellenwert, der der Elternselbsthilfe
beigemessen wird, die durch das Kindernetzwerk Aschaffenburg sehr effektiv und kompetent
vertreten wird.
Seit 1997 werden von der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin
jedes Jahr Forschungstage veranstaltet, in denen aktuelle Forschungsprojekte aus der
Sozialpädiatrie vorgestellt, aber auch Fragestellungen der Entwicklungspsychologie
und klinischen Neuropsychologie behandelt werden. Außerdem wird auch 2010 wieder der
Stefan-Engel-Preis für die beste wissenschaftliche Arbeit aus der Sozialpädiatrie
vergeben und konkrete Forschungsprojekte von der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie
und Jugendmedizin (DGSPJ) finanziell unterstützt.
Es ist nicht in der gesamten Kinder- und Jugendmedizin bekannt, dass in den vergangenen
Jahren umfangreiche Projekte mit finanzieller Unterstützung der DGSPJ durchgeführt
wurden, u. a. zur Evaluation von Therapie- und Fördermethoden sowie zur Lebensqualität
bei Entwicklungsauffälligkeiten, zur Langzeitprognose von sehr und extrem Frühgeborenen,
zur Impfteilnahme, zur Erfassung von Kindesvernachlässigungen und Verhaltensstörungen
sowie zur transkulturellen Pädiatrie [10]. Zukünftige Aufgaben sind u. a. die Neueinrichtung bzw. der Ausbau von klinischen
Registern für die epidemiologische Forschung bei verschiedenen Krankheitsgruppen.
Die DGSPJ hat sich in den vergangenen Jahren sehr dafür eingesetzt, dass Sozialpädiatrie
als Zusatz-Weiterbildungsfach anerkannt wird. Bisher liegen die positiven Stellungnahmen
vom Vorstand und der Weiterbildungskommission der Deutschen Akademie für Kinder- und
Jugendmedizin sowie der Ständigen Weiterbildungskommission beim Ärztetag vor. Leider
war es nicht möglich, die Vertreter der Kinder- und Jugendpsychiatrie dazu zu bewegen,
sich an dem Weiterbildungskonzept zu beteiligen.
Es bleibt zu hoffen, dass auch in Zukunft zunehmend wissenschaftliche Arbeiten aus
dem breiten Spektrum der Sozialpädiatrie publiziert werden. Dies ist ein nicht zu
unterschätzender Beitrag zur Bewältigung der riesigen Zukunftsaufgaben, die der Pädiatrie
bevorstehen.