Impulse von der EU
Dr. Anke Bramesfeld
In der auf psychische Gesundheit bezogenen Wissenschaftsszene in Deutschland ist die
Europäische Union (EU) vor allem wegen ihrer Forschungsförderung bekannt. Tatsächlich
kommen aber mehr Impulse für Gesundheitsversorgung und -forschung aus Europa als nur
Forschungsförderung:
Im Juni 2008 rief die Europäische Kommission den Europäischen Pakt für psychische
Gesundheit und Wohlbefinden ins Leben [1 ]. Dieser Pakt ist als ein Instrument der Kommission zu verstehen, über das die Sensibilisierung
für die Bedeutung der psychischen Gesundheit für Europa gestärkt werden soll und eine
strategische Ausrichtung der Aktivitäten in diesem Bereich erreicht werden soll.
Ziele des Europäischen Paktes für psychische Gesundheit und Wohlbefinden
Eine gute psychische Gesundheit der europäischen Bevölkerung und eine Verbesserung
der Lebensbedingungen von Menschen mit psychischer Erkrankung liegen im strategischen
Interesse der EU. Die strategischen Interessen der Europäischen Union finden sich
in der Strategie von Lissabon für die Zeit bis 2010 und seit neuestenm in der Europa-Strategie
2020 [2 ]. Beide Strategien verknüpfen das Ziel einer starken und nachhaltigen Wirtschaft
mit dem gesellschaftlichen Bedarf nach mehr Fokussierung auf Wissen, Information und
Bildung sowie mit dem Lösen von sozialen Fragen, Bekämpfung von Armut und sozialer
Ausgrenzung.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die psychische Gesundheit der Bevölkerung eine neue
Relevanz, denn eine auf Wissen und Information gegründete Gesellschaft bedarf der
mentalen Kapazitäten und einer guten psychischen Belastbarkeit ihrer Mitglieder. Auch
das Bekämpfen von sozialer Ausgrenzung sowie von sozialen und gesundheitlichen Ungleichheiten,
ist eng mit Fragen der psychischen Gesundheit und den Möglichkeiten der gesellschaftlichen
Teilhabe von Menschen mit psychischer Erkrankung und Behinderung verknüpft [3 ].
Für die Umsetzung der strategischen Ziele der Europäischen Union ist die Europäische
Kommission als exekutives Organ zuständig. Maßnahmen im Bereich Gesundheit liegen
jedoch primär in der autonomen Verantwortung der Mitgliedsstaaten. Direkte legislative
Kompetenz besteht im Bereich Gesundheit auf europäischer Ebene nicht. Die Kommission
kann im Bereich Gesundheit nur subsidiär wirken, Diskussionen anstoßen und mit Hilfe
von Beispielen guter Praxis sowie Empfehlungen wirken.
Dies zu tun und mittels des Anstoßens von Diskussionen und Verbreiten von Beispielen
guter Praxis, die Mitgliedstaaten und Akteure zu motivieren Maßnahmen zur Verbesserung
der psychischen Gesundheit auf Bevölkerungsebene zu ergreifen, ist das Ziel des Europäischen
Pakts für psychische Gesundheit und Wohlbefinden. Der Pakt möchte die Aktivitäten
der Mitgliedstaaten im Bereich psychische Gesundheit bündeln und katalysieren. Hierfür
konzentriert sich der Pakt auf 5 prioritäre Bereiche:
Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen
Prävention von Depression und Suizid
Psychische Gesundheit im Alter
Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz
Stigma und soziale Ausgrenzung
In diesen prioritären Bereichen werden thematische Konferenzen durchgeführt. Aufgabe
der Konferenzen ist u. a. Aufmerksamkeit für die jeweiligen Themen herzustellen, Schlüsselaktivitäten
zu identifizieren und gute Praktiken vorzustellen. In vielen Fällen kommen die guten
Praktiken mit denen die Kommission arbeitet aus den wohlhabenden EU Staaten wie Großbritannien,
Skandinavien, den Niederlanden, Spanien, Italien und auch Deutschland. Gerade Deutschland,
das mit 80 Millionen Einwohnern der größte EU-Staat ist und dazu einer der wohlhabendsten,
hat mit seinen vergleichsweise vielen akademischen Einrichtungen und einem elaborierten
und sehr diversifizierten Gesundheitsversorgungssystem eine Reihe guter Praktiken
vorzuweisen. Dies ist auch der Fall im Bereich der Förderung der psychischen Gesundheit
und der Prävention psychischer Erkrankungen. Insgesamt wird zwar der Stand der Förderung
der psychischen Gesundheit und Prävention psychischer Erkrankungen in Deutschland
als eher schwach eingeschätzt [4 ], aber aufgrund der Größe des Landes und seiner Vielfalt finden sich lokal eine Reihe
an guten Praktiken. Sie sind nur häufig nicht flächendeckend umgesetzt [5 ].
Welchen Gewinn kann Deutschland und insbesondere die deutsche Psychiatrie von einem
Austausch von guten Praktiken auf EU-Ebene haben?
Beispiele guter Praxis
Deutschland kann vom Beispiel der anderen lernen. Es kann eigene vorhandene gute Ansätze
wertschätzen und weiter verbessern. Beispiele guter Praxis in Deutschland im Bereich
Prävention von Depression und Suizid sind z. B. die Bündnisse gegen Depression, die
in Deutschland wie in keinem anderen EU-Land weite Verbreitung gefunden haben. Auch
die Beschränkung der rezeptfreien Abgabemenge von Paracetamol auf 10 mg als Maßnahme
der Prävention von Suiziden im Affekt, ist als gute Praxis zu werten und erfolgt vor
dem Hintergrund einer breiten Evidenzbasis. Lernen kann Deutschland aber an den folgenden
Beispielen:
Policy: Nationale Strategien, die Handlungsfelder definieren, aber darüber hinaus auch quantitative
Erfolgsindikatoren benennen und diese messen, haben sich als hilfreich erwiesen um
sowohl die Implementierung von Maßnahmen als auch die Forschung in diesem Bereich
voranzutreiben. Ein gutes Beispiel hierfür findet sich in den Niederlanden, wo zurzeit
eine nationale Depressionsstrategie umgesetzt wird. Diese umfasst sowohl Elemente
der Prävention von Depression als auch die Implementierung von evidenzbasierten innovativen
Versorgungsformen wie z. B. Stepped-Care-Ansätze [6 ]
[7 ]. Für eine nationale Depressionsstrategie bestehen in Deutschland grundsätzlich gute
Voraussetzungen: es existiert bereits ein nationales Gesundheitsziel Depression, das
ein Grundinteresse und einen Konsens der Akteure begründet. Mit einem relativ gut
ausgebauten Sekundärdatensystem durch die Abrechnungsdokumentationen der Kassenärztlichen
Vereinigungen und der Krankenkassen sowie regelmäßigen Mikrozensuserhebungen verfügt
Deutschland im Prinzip über Instrumente deren Nutzbarmachung für eine policybegleitende
Dokumentation in Betracht gezogen werden kann.
E-Health: Nutzen des Internets für Therapieangebote bei leichter und mittelschwerer Depression.
Der Einsatz von e-Health-Interventionen bei der Behandlung von Depressionen ist in
Deutschland bisher eher wenig entwickelt. Therapeutische Angebote aus dem Bereich
der neuen Medien haben den Vorteil, dass der Zugang einfach ist, sie sind niederschwellig
und haben das Potenzial kosteneffektiv zu sein [8 ]. Gute Beispiele für den Einsatz von E-Health bei der Behandlung von Depressionen
finden sich u. a. in den Niederlanden [9 ]
[10 ], wurden aber auch schon in Deutschland entwickelt.
Kooperation von Allgemeinmedizin und psychiatrisch-psychotherapeutischer Versorgung: Dass eine engere Kooperation zwischen Allgemeinmedizin und spezialisierter psychiatrisch-psychotherapeutischer
Versorgung das Potenzial hat die Depressionsversorgung nachhaltig zu verbessern, ist
inzwischen weitgehend akzeptiert [11 ]
[12 ]. Gute Beispiele hierfür finden sich z. B. in Norwegen, wo in verschiedenen Modellen
versucht wird Psychotherapeuten aus den Einzelpraxen in Gemeinschaftskooperationen
mit Allgemeinmedizinern zu bringen (s. http://ec.europa.eu/health/mental_health/docs/ev_20091210_co31_en.pdf ). Auch eine systematische Definition der klinischen „Pathways”, wie sie in Stepped-Care-Programmen
vorgesehen sind, eignen sich die Zusammenarbeit zwischen Spezialisten und Generalisten
zu erleichtern [7 ]
[13 ]
[14 ]
[15 ].
Suizidscreening: Neu in Gefängnisse eingewiesene Personen haben ein besonders großes Suizidrisiko.
Ein einfaches Suizid-Screening-Programm für diese Hochrisikogruppe wurde in Österreich
entwickelt und umgesetzt. Es hat sich in der kontrollierten Anwendung als effektive
Suizidpräventionsmaßnahme erwiesen [16 ].
Dies sind nur einige Beispiele guter Praxis aus dem Bereich Depression und Suizid.
Mehr Anregungen finden Sie auf den Seiten der Europäischen Kommission im „EU-Kompass
for Mental Health Action and Wellbeing” [17 ]. Hier können die eigenen guten Praktiken mit denen anderer Mitgliedsstaaten verglichen
werden und Anregungen geholt werden. Zudem verweisen Links sowohl zu Policy Papieren
des Paktes, die zu jedem der 5 Prioritäten des Paktes Schlüsselaktionen identifizieren,
als auch zu weiteren EU-Dokumenten, die für das Thema psychische Gesundheit relevant
sind. Die Dokumente und Informationen des Kompasses stellen wichtige Werkzeuge dar,
mit denen in der gesundheitspolitischen Diskussion Forderungen nach Verbesserungen
im Bereich psychische Gesundheit in einen größeren Kontext gesetzt werden und nachdrücklicher
gemacht werden können.
Fazit
Zusammenfassend kann Deutschland von den europäischen Aktivitäten im Bereich psychische
Gesundheit auf verschiedene Weise profitieren:
Durch den Vergleich mit der guten Praxis in anderen EU-Mitgliedstaaten eigene Stärken
und Schwächen identifizieren.
Anregungen für Schwerpunkte im Bemühen um eine Verbesserung der psychischen Gesundheit
sammeln.
Durch die Weitergabe eigener guter Praktiken, diesen mehr Öffentlichkeit geben und
aufwerten.
Durch das Rekurrieren auf den europäischen Kontext eigenen Forderungen nach Verbesserungen
mehr Nachdruck zu verleihen.
Insbesondere die Deutsche Psychiatrie kann sich durch die europäischen Aktivitäten
im Bereich Förderung der psychischen Gesundheit und Prävention psychischer Erkrankung
anregen lassen, auch für die psychische Gesundheit relevante Sektoren wie Schulen,
Arbeitsplätze oder Pflegeheime außerhalb des eigenen Versorgungssystems mehr Beachtung
zu schenken. So kann ein Anschluss der klinischen Medizin an die vielen präventionsrelevanten
Bereiche außerhalb des Gesundheitssektors hergestellt werden.
Ziel muss es sein, Strategien auf regionaler, nationaler und EU-Ebene zu entwickeln,
wie die Förderung der psychischen Gesundheit und Prävention psychischer Erkrankungen
insbesondere von Risikogruppen verbessert werden kann, wie der Zugang zu adäquater
Versorgung verbessert und die gesellschaftliche Teilhabe psychisch kranker Menschen
verstärkt werden kann. Aus deutscher Perspektive kann dabei der Blick nach Europa
und in die anderen Mitgliedsstaaten Anregung und Unterstützung bieten [18 ].