Zwangserkrankungen sind folgenschwer
Priv.-Doz. Dr. med. Katarina Stengler
Zwangserkrankungen gehören mit einer Lebenszeitprävalenz von ca. 2–2,5 % zu den häufigsten
psychischen Störungen und zählen nach einer von der WHO und Weltbank in Auftrag gegebenen
Studie zu den 10 Erkrankungen, die mit den größten psychosozialen Behinderungen einhergehen
[1 ].
Die aktuelle mit dem ICD-10 oder DSM-IV verbundene operationalisierte Diagnostik und
deskriptive, den psychopathologischen Symptomkonstellationen folgende Klassifikation
verzichtet bekanntermaßen auf ätiopathogenetische Zuschreibungen. Mit zunehmender
Kenntnis der phänomenologischen Heterogenität der Zwangserkrankung [2 ] wurde in den letzten Jahren die klassische Definition der reinen Zwangsstörung konzeptuell
um Forschungsansätze zur Beschreibung von Subtypen erweitert. Hierbei werden neben
phänomenologischen Aspekten (relativ konsistent beschriebene Symptomcluster) weitere
klinische und andere Parameter, wie etwa Geschlecht, Alter bei Krankheitsausbruch
und Komorbidität berücksichtigt [3 ]. Stärker konzentriert sich gegenwärtig dabei die Ursachenforschung auf neurobiologische
Aspekte mit Fokus auf familiäre und damit genetisch bedingte Häufungsmuster bei bestimmten
Untergruppen der Zwangserkrankung [4 ].
Frühverlauf und Unterversorgung
Unbehandelte psychische Erkrankungen verlaufen häufig chronisch und können zunehmend
mit psychosozialen Behinderungen und somatischen Komplikationen einher gehen [5 ]. Es verwundert deshalb nicht, wenn in den letzten Jahren die Forschung zur Früherkennung
psychischer Erkrankungen mit dem Fokus auf möglichst frühzeitige Diagnostik und Therapie,
intensiviert wurde. Bisherige Untersuchungen konzentrierten sich dabei insbesondere
auf die Schizophrenie [6 ]
[7 ], auf Depressionen [8 ] und auf Angsterkrankungen [9 ].
Nur wenig ist dagegen bekannt über den Frühverlauf von Zwangserkrankungen. Untersuchungen
zur Heterogenität der Zwangserkrankung [10 ] und Verlaufsstudien mit zwangserkrankten Kindern und Jugendlichen haben jedoch gezeigt,
dass ein früher Erkrankungsbeginn mit schlechteren Therapieresponseraten und einer
ungünstigen Langzeitprognose einhergehen kann [3 ].
Unspezifische prodromale Auffälligkeiten die, wie im Falle der Schizophrenie viele
Jahre vor manifestem Krankheitsausbruch bereits zu Einschränkungen führen können,
wurden in bisherigen Studien bei Zwangserkrankungen kaum erfasst. Stengler-Wenzke
u. Angermeyer [11 ] konnten in einer kleineren qualitativen Untersuchung zeigen, dass erste zwangsähnliche
Auffälligkeiten von den Patienten zwar frühzeitig wahrgenommen, dann aber banalisiert
bzw. einer im elterlichen Erziehungsstil antizipierten Norm zugeordnet und nur in
den wenigsten Fällen als „krank” eingeschätzt wurden. Nach Angaben der Betroffenen
verfahren Angehörige in der Regel ebenso: die ihnen anvertrauten oder von ihnen bemerkten
„Auffälligkeiten” werden bagatellisiert oder familiären Verhaltensmustern zugeschrieben.
Das Aufsuchen professioneller Hilfe als Ausdruck einer bereits so definierten „Krankheit”
war die Ausnahme, verzögerte Inanspruchnahme therapeutischer Hilfe aber eher die Regel.
Die Tatsache, dass Patienten mit Zwangserkrankungen im Mittel 7–10 Jahre nach dem
Auftreten von Zwangssymptomen erstmals therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen [12 ] und zu diesem Zeitpunkt oft schon ein hoher Grad an Chronifizierung [13 ]
[14 ] mit zumeist somatischen und sozialmedizinisch relevanten Folgeschäden eingetreten
ist, unterstreicht die Notwendigkeit der Früherkennung und -behandlung von Zwangserkrankungen.
Die Bedingungen und Ursachen, die zu einer späten Inanspruchnahme von professioneller
Hilfe bei Zwangserkrankungen führen, wurden bislang wenig untersucht. In der oben
erwähnten qualitativen Studie [11 ] kritisierten die Befragten mangelndes Wissen der Professionellen. Defizite in der
psychiatrisch-professionellen Versorgung thematisierten sie insbesondere dort, wo
häufige Fehldiagnosen gestellt oder die von ihnen vorgetragenen Beschwerden banalisiert
wurden. Sie sahen sich zudem nicht ausreichend über spezifische Unterstützungsangebote
informiert.
Mangelndes Wissen um adäquate professionelle Hilfe erfassten Goodwin et al. [15 ] in einer Stichtagserhebung als wesentlichen Prädiktor für nicht in Anspruch genommene
Behandlung bei Patienten mit Zwangserkrankungen. Besiroglu et al. [16 ] wiesen ebenfalls auf die Bedeutung des vorbestehenden Wissens im Zusammenhang mit
Inanspruchnahme von professioneller Hilfe hin, als sie Patienten mit Zwangserkrankungen
untersuchten, die keine Therapie und solche, die eine in Anspruch genommen hatten.
Von Wahl et al. [17 ] wurde die Bedeutung der frühzeitigen Diagnosestellung für die Inanspruchnahme therapeutischer
Angebote jüngst für Deutschland unterstrichen: über 70 % der befragten Zwangserkrankten
waren in der ambulanten Versorgung als solche nicht erkannt worden und blieben folglich
ohne diagnosespezifische Behandlung. Ebenso katastrophal sieht die Versorgungssituation
von Zwangserkrankten aus, wenn man die professionelle Seite befragt. In einer auch
kürzlich publizierten Studie von Külz u. Mitarb. [18 ] wurden psychologische und ärztliche Psychotherapeuten in Süddeutschland mithilfe
eines Fragebogens zu Art, Häufigkeit und konkreter Durchführung der (psychotherapeutischen)
Behandlung von Zwangserkrankten befragt. Bei über 80 % der Befragten spielte die Behandlung
von Zwangserkrankten keine oder eine sehr geringe Rolle.
Scham, Peinlichkeit und daraus resultierende Geheimhaltung der Symptomatik scheinen
ebenso zu einer späten Inanspruchnahme von professioneller Hilfe bei Zwangserkrankten
beizutragen. Verschweigen der Auffälligkeiten wurde von Zwangserkrankten (und auch
deren Angehörigen) in einer eigenen Untersuchung [19 ] als wichtigste Bewältigungsstrategie für Stigmatisierung angegeben. Hier war insbesondere
die antizipierte Stigmatisierung bedeutsam: je mehr die Zwangserkrankten mit Ablehnung
im privaten und öffentlichen Umfeld rechneten, desto stärker tendierten sie zur Geheimhaltung.
Dies führt wohl kurzfristig zur Entlastung der Betroffenen, langfristig trägt es unweigerlich
zur Aufrechterhaltung des dysfunktionalen Systems und insbesondere zur Verhinderung
frühzeitiger Diagnostik und Behandlung der Zwangsstörung bei.
Desiderate für Versorgung und Forschung
Der Mangel an Informationen und an Wissen über die Erkrankung ist ein wesentliches
Hindernis zur Inanspruchnahme professioneller Hilfe bei Zwangserkrankungen [20 ]
[21 ]. Dem gilt es durch umfangreiche psychoedukative Maßnahmen konsequent zu begegnen.
Die Furcht vor Stigma und deren Bewältigung durch Geheimhaltung sind für Zwangserkrankte
weitere Barrieren, Behandlung aufzunehmen. Dabei scheint die Angst vor Etikettierung,
vor „Sichtbar-machen des Makels” als stärkster Auslöser öffentlicher Stigmatisierung
[22 ] bestimmend zu sein, denn Aufnahme von psychiatrischer Behandlung hieße, sich als
Zwangserkrankter etikettieren zu lassen. Es gilt also, erfolgreiche Stigmabewältigung
als unterstützende Maßnahme zur (frühzeitigen) Inanspruchnahme von professioneller
Hilfe zu verstehen. Dem sollte auf struktureller Ebene genauso Rechnung getragen werden,
wie auf individuell-psychologischer. Wünschenswert ist demnach, jenseits der diagnosespezifischen
Spezialsprechstundenangebote, im medizinischen Versorgungsalltag, ob beim Fach- oder
Hausarzt, entsprechend niedrigschwellige Behandlungsalternativen zu schaffen.
Die von Thornicroft u. Tansella [23 ] beschriebenen „components of a modern mental health service” favorisieren ein stufenweises
Vorgehen innerhalb des psychiatrischen Versorgungssystems in Abhängigkeit von den
jeweils verfügbaren Ressourcen. Damit wird nicht nur die Hoffnung auf eine ökonomischere
Vorgehensweise verbunden, sondern auch ein für die jeweilige Versorgungsstufe inhaltlich
adäquates Behandlungsangebot versprochen. Die aktuell in Entwicklung befindliche S3-Leitlinie
für Zwangserkrankungen könnte hier, ähnlich wie die NICE-Guidelines, mit der Formulierung
eines stepped care models ein wichtiger Wegweiser sein. In der psychiatrischen Versorgung von Zwangserkrankten
sollte zukünftig stärker die Rolle der Angehörigen, insbesondere in der psychoedukativen
Arbeit berücksichtigt werden. Angehörige brauchen Informationen, wenn sie mit ersten
Auffälligkeiten im Frühverlauf der Zwangserkrankung – der nicht selten im Kindesalter
liegen kann – konfrontiert werden. Wissen über veränderte Verhaltensweisen kann Verständnis
wecken und eine frühe Behandlungsaufnahme unterstützen.
Der Forschungsbedarf an Studien zur frühen Identifikation von Zwangserkrankungen ist
aufgrund mangelnder „Objektivierbarkeit” des tatsächlichen Krankheitsausbruches nicht
gedeckt. Die Entwicklung eines Symptominventars, das neben diesen retrospektiv erfassten
frühen Auffälligkeiten, ergänzende Informationen der Angehörigen und „objektive” Kriterien
der Professionellen enthält, ist notwendig. Durch eine frühzeitige Diagnosenstellung
kann somit eine zeitnahe Indikationsprüfung zur gezielten Behandlungsaufnahme erreicht
werden.