Professor Michael Nauck ist als leitender Arzt am Diabeteszentrum in Bad Lauterberg
sehr intensiv in die Versorgung von Menschen mit Diabetes mellitus eingebunden. Das
betrifft sowohl Patienten mit Typ-1- als auch Typ-2-Diabetes sowie Sonderformen eines
Diabetes, die seltener vorkommen. Neben dem großen stationären Bereich betreut er
auch eine Schwerpunktambulanz. In dieser Umgebung werden in einer eigenen Forschungsabteilung
klinische Studien durchgeführt, in der Regel durch Teilnahme an multizentrischen Studien,
die häufig von der pharmazeutischen Industrie durchgeführt werden, um neue Medikamente
zu prüfen. Es werden aber auch eigene Studienprojekte initiiert, die sich oft mit
den Darmhormonen beschäftigen, die als Inkretine die Insulinsekretion nach Mahlzeiten
verstärken. 2010 ist Professor Nauck der Präsident der 45. Jahrestagung der Deutschen
Diabetes Gesellschaft. Mit ihm sprach im Auftrag von Diabetes aktuell die Journalistin
Susan Röse.
? Aktuelle Forschungen befassen sich mit der Funktion der Inkretine beim Glukosestoffwechsel.
Was weiß man heute darüber?
Michael Nauck: Seit den 1960er Jahren weiß man, dass über den Magen-Darm-Trakt verabreichte Glukose
zu wesentlich mehr Insulinsekretion führt als direkt in den Kreislauf infundierte.
Im Laufe der Jahre hat man gelernt zu verstehen, wie das kommt: Während Glukose und
andere Nährstoffe im Darm resorbiert werden, werden aus spezialisierten endokrinen
Zellen Darmhormone freigesetzt, die ihrerseits eine Signalwirkung auf das endokrine
Pankreas haben und hier die Sekretion von Insulin verstärken und teils die von Glukagon
supprimieren. Es gibt Störungen in diesem System, die typischerweise mit der Entwicklung
eines Typ-2-Diabetes auftreten. Aus diesen Störungen hat man Konzepte abgeleitet,
wie man die gestörte Funktion korrigieren und hierüber neue therapeutische Ansätze
finden kann. Letztlich war diese Forschung die Basis für die Entwicklung inkretinbasierter
Antidiabetika, namentlich die beiden Wirkstoffgruppen GLP-1-Rezeptoragonisten (auch
Inkretinmimetika genannt) und Hemmstoffe der Dipeptidylpeptidase-IV (DPP-4, auch Inkretinverstärker
genannt).
? Wie unterscheiden sich GLP-1-Analoga von humanem GLP-1 und weshalb sieht man in
ihnen einen vielversprechenden Therapieansatz für Patienten mit Typ-2-Diabetes? Welche
Substanzen gibt es derzeit und können Sie etwas über die Anwendung und die Wirksamkeit
sagen?
Michael Nauck: GLP ist die ideale Muttersubstanz für die Entwicklung neuer Antidiabetika, weil es
vielfältige Wirkungen auf Stoffwechsel, Appetit, Magen-Darm-Trakt-Motilität und im
Herz-Kreislaufsystem hat, die zusammengefasst sehr viele der "Defekte" beim Typ-2-Diabetes
korrigieren können. Leider ist GLP-1 eine sehr flüchtige Substanz, sie wird innerhalb
von Minuten degradiert und inaktiviert sowie über die Nieren eliminiert. Deshalb hat
es nicht viel Zweck, mit GLP-1 selbst zu behandeln. Aus diesem Grund hat man GLP-1-Rezeptoragonisten
entweder in der Natur gefunden (Beispiel: Exenatid) oder im Labor bewusst aus der
Muttersubstanz heraus durch geringfügige Modifikationen entwickelt (Beispiel: Liraglutid,
Taspoglutid und andere). Exenatid und Liraglutid sind in Europa für die Therapie des
Diabetes zugelassen. Beide Medikamente können mindestens im gleichen Maß wie andere
Antidiabetika den Blutzucker senken und kontrollieren, das gilt auch für den Vergleich
mit Insulin. Aber anders als beim Insulin neigen hier die Patienten eher dazu, an
Gewicht abzunehmen. In geschickter Kombination mit oralen Antidiabetika kann es auch
nicht zu Hypoglykämien kommen. Leider führt am Beginn der Behandlung die Gabe von
Exenatid und Liraglutid gelegentlich zu Übelkeit, Brechreiz und Durchfall, meist aber
nur vorübergehend. Ein kleiner Prozentsatz der Patienten kann aber die Behandlung
nicht tolerieren und muss mit anderen Medikamenten eingestellt werden.
? Welche wichtigen Studien sind derzeit zu den GLP-1-Analoga publiziert, wie sind
die Ergebnisse und mit welchen Fragestellungen laufen derzeit noch Studien?
Michael Nauck: Es gibt eine Vielzahl von Veröffentlichungen zur klinischen Wirksamkeit und Sicherheit
der Therapie mit GLP-1-Rezeptoragonisten. Hier kommen die Unterschiede zwischen den
einzelnen Präparaten heraus: Exenatid hat wenig Einfluss auf den Nüchternblutzucker,
führt aber zu einer sehr geringen postprandialen Blutzuckererhöhung. Liraglutid führt
bei einmal täglicher Injektion zu dauerhaft erhöhten Wirkstoffspiegeln und damit auch
zu erheblichen Wirkungen auf den Nüchternblutzucker. Insgesamt ist die HbA1C-Senkung deshalb mit Liraglutid etwas ausgeprägter. Noch neuere Präparate wie Taspoglutid
sind darauf angelegt, so langsam eliminiert zu werden, dass sogar eine einmal wöchentliche
Injektion möglich ist.
? GLP-1-Analoga sind ja nicht für eine Monotherapie zugelassen. Mit welchen anderen
Präparaten können sie sinnvoll kombiniert werden? Ist eine Kombination mit Insulin
sinnvoll?
Michael Nauck: GLP-1-Rezeptoragonisten sind bisher nicht für die Erstlinientherapie zugelassen,
weil Metformin unbestritten die Nummer 1 für diese Position in der Behandlungsfolge
ist. Eine Kombination von GLP-1-Rezeptoragonisten ist mit nahezu allen anderen Antidiabetika
möglich. Besonders gut erprobt ist die Kombination mit Metformin. In dieser Kombination
kommt die gewichtsreduzierende Wirkung am ausgeprägtesten zur Geltung und man ist
nahezu hundertprozentig sicher vor Hypoglykämien. Das ist beides nicht mehr in dem
Maße der Fall, wenn auch Sulfonylharnstoffe in der Hintergrundmedikation verwendet
werden. Auch mit Glitazonen gibt es Studien und Erfahrungen. Diese Kombination spielt
aber in Deutschland sicher nicht die große Rolle. Eine Kombination mit Insulin ist
theoretisch sinnvoll bei Patienten, bei denen die Senkung des Nüchternblutzuckers
nicht ausreicht, einen HbA1C-Wert im Zielbereich zu erreichen. Wahrscheinlich ist die Kombination eines langwirkenden
Insulins mit Exenatid sehr vielversprechend, weil man hier über die beiden Mechanismen
sowohl einen exzellenten Nüchternblutzucker einstellen kann und kaum mit postprandialen
Blutzuckeranstiegen zu rechnen ist. Hierüber gibt es auch schon erste Erfahrungen.
Man muss sich aber klarmachen, dass diese Behandlung nicht mit dem üblichen Kostenrahmen
für eine antidiabetische Therapie vereinbar ist und deshalb im Einzelfall sehr gut
gerechtfertigt werden muss.
? GLP-1-Analoga führen zu einer Verbesserung der Betazellfunktion. Wie lässt sich
das nachweisen? Wie sieht es mit dem Schutz und der Vermehrung der Betazellen aus?
In Tierversuchen hat man ja eine Regeneration der Betazellen gesehen. Gibt es oder
kann es in der Zukunft Möglichkeiten geben, dies auch am Patienten nachzuweisen?
Michael Nauck: Die Betazellfunktion ist vielfältig definiert. Zunächst einmal ist es die Fähigkeit,
jederzeit die angemessene Menge Insulin zu sezernieren und die Sekretionsrate schnell
an eine Änderung der Bedürfnisse anzupassen. Das liegt ja gerade beim Menschen mit
Typ-2-Diabetes im Argen. Aber es gibt natürlich auch Parameter wie die Betazellmasse,
der Anteil aktiv sezernierender Zellen (oder umgekehrt Betazellen, die "schlafen",
also nicht aktiv am Sekretionsprozess teilnehmen). Es gibt funktionelle Veränderungen
z. B. durch dauernde Hyperglykämie oder Exposition gegenüber freien Fettsäuren. Es
gibt Entzündungsprozesse in der Langerhans'schen Insel, die die Funktion beeinträchtigen.
Leider ist dies im klinischen Versuch sehr schwer zu messen. Tierexperimente legen
nahe, dass GLP-1-Rezeptoragonisten und auch DPP-4-Hemmstoffe in der Lage sind, unter
bestimmten Bedingungen die Apoptose, d. h. das Absterben von Betazellen zu verhindern
und die Neubildung von Betazellen bzw. ihre Proliferation zu steigern, mit dem Nettoeffekt
einer verbesserten Betazellmasse. Es ist wahrscheinlich, dass ein solcher Nachweis
angesichts der langsamen Regenerationszeit für das endokrine Pankreas (Monate anstatt
von Tagen/Wochen wie bei Nagetieren) genügend Zeit braucht. Spezialisten schätzen,
dass Studien mindestens 3 Jahre lang durchgeführt werden müssen, bevor ein Nachweis
geführt werden kann. In dieser Hinsicht stehen wir noch ganz am Anfang.
? Sollten sich die Erkenntnisse aus den Tierversuchen auch beim Menschen nachweisen
lassen, könnte dann ein frühzeitiger Einsatz dieses Therapieprinzips eventuell sogar
die Entwicklung der Insulinresistenz zum ausgeprägten Typ-2-Diabetes nicht nur bremsen,
sondern sogar aufhalten? Sind Studien mit dieser Fragestellung geplant oder überhaupt
machbar?
Michael Nauck: Es ist logisch, ein Medikament, das den Verfall der Betazellmasse im Rahmen des Krankheitsprozesses
Typ-2-Diabetes aufhalten kann, möglichst früh, vielleicht sogar schon zur Prävention
eines Diabetes bei Hochrisikopatienten einzusetzen. Dass solche Untersuchungen noch
nicht gewagt wurden, liegt sicher daran, dass zunächst eine Studie prinzipiell den
Nachweis führen muss, dass auch bei Erwachsenen, ja sogar älteren Menschen eine Einflussnahme
auf die Betazell-"Gesundheit" möglich ist. Sollte grundsätzlich zweifelsfrei dieser
Nachweis geführt werden, ist es spätestens an der Zeit, auch in besonders frühen Stadien
mit Typ-2-Diabetes Studien durchzuführen. Ein Hinweis existiert bereits: In Monotherapie,
bei therapienaiven Patienten, führt Liraglutid über 2 Jahre zu nahezu konstanten HbA1C-Werten. Über diesen Zeitraum ist in anderen Studien mit anderen antidiabetischen
Medikamenten bereits ein Nachlassen der Wirksamkeit, also eine begrenzte Dauerhaftigkeit
des Therapieeffektes beobachtet worden. Das lässt hoffen!
? Welches sind denn die "caveats" bei den GLP-1-Analoga? Mit welchen unerwünschten
Wirkungen muss man rechnen? Sind diese substanz- oder klassenspezifisch?
Michael Nauck: Das typische Nebenwirkungsprofil von GLP-1-Rezeptoragonisten sind sogenannte gastrointestinale
Symptome, die aber wahrscheinlich durch unmittelbare Einwirkung von GLP-1 auf Hirnzentren
zu erklären sind: Übelkeit, Brechreiz und Diarrhö sowie gelegentlich Bauchkrämpfe.
Die meisten Studien zeigen, dass diese Symptome bei Beginn einer Therapie relativ
häufig sind, dann aber schnell nachlassen. Nur maximal 5 % aller Patienten brechen
die Studien ab, weil sie diese Nebenwirkungen nicht tolerieren. Zwei weitere Punkte
werden diskutiert, sind aber derzeit nicht abschließend geklärt:
Es gibt Berichte von Pankreatitisfällen, die unter der Therapie mit Inkretinmimetika
aufgetreten sind. Es gibt aber keinen plausiblen Mechanismus, der eine kausale Rolle
von GLP-1-Rezeptorstimulation in diesem Prozess nahe legt. Rein epidemiologisch betrachtet
ist es auch nicht klar, ob die berichteten Zahlen die Schlussfolgerung zulassen, dass
ein gehäuftes Vorkommen von akuten Pankreatitiden mit Inkretinmimetika-Therapie vorliegt.
Wahrscheinlich ist dies bei genauer Analyse nicht der Fall.
Ein zweiter Punkt betrifft die Fähigkeit von GLP-1 und seinen Analoga, bei Nagetieren
zu Veränderungen der C-Zellen in der Schilddrüse zu führen. Bei diesen Spezies kommt
es bereits spontan zu Hyperplasien, Adenomen und C-Zell-Karzinomen. Die Häufigkeit
wird durch GLP-1-Rezeptoragonisten erhöht. Anders als bei diesen Nagetierspezies ist
aber die Rezeptorausstattung humaner C-Zellen dramatisch geringer, es kommt bei Exposition
nicht zu einem messbaren Kalzitoninanstieg, und es ist zweifelhaft, ob die Phänomene,
die man im Tierexperiment regelmäßig beobachten kann, auf die humane Situation anzuwenden
sind. Naturgemäß ist es aber sehr schwer, ein ohnehin geringes Risiko (C-Zell-Karzinome
bei Menschen sind sehr selten) auszuschließen. Ich persönlich halte diese Vorkommnisse
für Spezies-spezifisch und glaube nicht, dass die Anwendung von GLP-1-Rezeptoragonisten
bei Menschen ein erkennbar erhöhtes Risiko für C-Zell-Karzinome mit sich bringt. Natürlich
ist es notwendig, in dieser Hinsicht die langzeitbehandelten Patienten genau zu überwachen.
? Wie sieht die Zukunft aus? Sollten die "modernen" Antidiabetika in den Leitlinien
der Gesellschaften stärker berücksichtigt werden? Haben diese Substanzen eventuell
noch andere Wirkansätze, die sie für weitere Indikationen interessant machen? Wird
weiter an einer Verlängerung der Wirkdauer gearbeitet - es gibt ja Substanzen, die
nur einmal wöchentlich injiziert werden müssen?
Michael Nauck: In Zukunft erwarte ich, dass noch zahlreiche neue Inkretinmimetika und DPP-4-Hemmstoffe
als Antidiabetika entwickelt werden. Ob die neuen DPP-4-Hemmer wirklich eine Chance
haben, deutlich besser zu sein als die, die wir bereits haben, muss abgewartet werden.
Es gibt nur geringe Hinweise, dass hierfür ein Spielraum existiert. Bei den GLP-1-Rezeptoragonisten,
also den injizierbaren Peptidanaloga von GLP-1, geht der Trend zu längeren Intervallen
zwischen den Injektionen, z. B. einmal pro Woche. Die Empfehlung von Antidiabetika
in evidenzbasierten Leitlinien wird davon abhängen, welche neuen Studienergebnisse
es geben wird. Insbesondere werden derzeit zahlreiche Untersuchungen zur Frage der
kardiovaskulären Sicherheit gestartet. Es gibt durchaus Gründe anzunehmen, dass GLP-1-Rezeptoragonisten
das Potenzial haben, die kardiovaskuläre Prognose von Patienten zu verbessern. Sollte
dies der Fall sein, wäre es ein gewichtiger Grund, inkretinbasierte Medikamente vor
anderen Alternativen vorzuziehen.
? Was ist denn noch alles in der "Forschungspipeline", welche weiteren Ansätze zur
Bekämpfung der drohenden Diabetesepidemie dürfen Ärzte und Patienten in den nächsten
Jahren erwarten?
Michael Nauck: Die Tatsache, dass die Zahl der Menschen mit Diabetes mellitus weltweit stark ansteigt
und die bislang entwickelten antidiabetischen Medikamente nicht hundertprozentig in
der Lage sind, die Stoffwechselkontrolle zu gewährleisten, die notwendig ist, um Diabetes-Folgeerkrankungen
komplett zu stoppen, ist ein starker Stimulus für die Entwicklung neuer Medikamente.
Aktuell werden in klinischen Studien Medikamente der Klasse SGLT-2-Inhibitoren (Hemmung
der Glukoserückresorption in den Nierentubuli, damit Verursachung einer Glukosurie)
getestet. Die Hoffnung ist, dass sie zur Senkung der Glukosekonzentrationen, aber
über den Kalorienverlust auch zu einer Gewichtsabnahme führen. Da bei Typ-2-Diabetes
fast immer auch eine Hyperglukagonämie vorliegt, versucht man, mit Glukagonantagonisten
diese blutzuckersteigernde Wirkung zu bremsen. Da die Glukokinase in der Betazelle
des endokrinen Pankreas und in der Leber Glukose phosphoreliert und damit in die Mechanismen
einschleust, die die Insulinsekretion triggern bzw. die hepatische Glukoseaufnahme
initiieren, könnten Glukokinaseaktivatoren einen Beitrag dazu leisten, als Insulinsekretagoga
einer neuen Art sehr potent zu wirken. Als langjähriger Inkretinforscher muss ich
allerdings sagen, dass die inkretinbasierten Medikamente eine Menge Charme besitzen
und ich ihnen ein größeres Potenzial zutraue als den genannten Alternativen, die auf
verschiedenen Ebenen auch jetzt schon erkennen lassen, dass ihr Gebrauch nicht ganz
unproblematisch sein dürfte.
Herr Professor Nauck, vielen Dank für dieses Gespräch.