ergopraxis 2009; 2(5): 17-21
DOI: 10.1055/s-0030-1253720
ergotherapie

Hemiplegie – Ein Fall – vier therapeutische Sichtweisen

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Publication Date:
04 May 2010 (online)

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Die Ergotherapeuten Ruth Lehmann, Olaf Dahncke, Reinhard Ott-Schindele und Maria Dolar stellen anhand eines konstruierten Fallbeispiels ihr therapeutisches Vorgehen nach Perfetti, Forced use, Affolter und Bobath vor. ergopraxis beauftragte sie damit, eine fiktive Befunderhebung und Therapie durchzuführen. Lesen Sie hier, wie die Behandlung eines Klienten bei vier verschiedenen Therapeuten aussehen könnte.

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Simone Gritsch, bc (NL), seit 2004 Ergotherapeutin, arbeitet seit Januar 2008 bei Thieme und hat für ergopraxis die Behandlungsansätze der vier Therapeuten zusammengetragen. Dabei hat sie sich an ihre praktische Tätigkeit als Ergotherapeutin erinnert, während der sie vielen Klienten wie Herrn Maurer begegnet ist.

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Das Fallbeispiel

Herr Maurer ist 72 Jahre alt und lebt zusammen mit seiner Frau im eigenen Haus. Er hatte vor drei Monaten einen Schlaganfall mit rechtseitiger Hemiplegie. Nach Klinik- und Reha-Aufenthalt ist er nun wieder zu Hause und erhält ambulante Ergotherapie. Er ist Rechtshänder und bemerkt seine Einschränkungen jetzt vor allem im Alltag. Es fällt ihm schwer, alleine aus dem Bett aufzustehen, da er sich mit rechts nicht abstützen kann. Sein rechter Arm ist leicht hyperton und etwas geschwollen. Er kann ihn ein wenig bewegen, Hand und Finger jedoch kaum. Passiv ist die rechte obere Extremität relativ gut beweglich. Herr Maurer hat Probleme beim Anziehen und Waschen, weil er mit links ungeschickt ist und mit rechts kaum greifen und Kraft aufwenden kann. Das Essen mit rechts empfindet er als anstrengend, außerdem verliert er die Hälfte auf dem Weg vom Teller in den Mund.

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Perfetti

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Ruth Lehmann arbeitet seit 18 Jahren als Ergotherapeutin in einer Klinik für Neurorehabilitation in Tschugg, Schweiz. Seit 2003 ist sie Dozentin für kognitiv-therapeutische Übungen. Sie gibt Kurse zur Perfetti-Methode in der Schweiz, in Deutschland und in Belgien. Darüber hinaus engagiert sie sich beim ErgotherapeutInnen Verband Schweiz.

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Befunderhebung

Herr Maurer kommt in Begleitung seiner Frau zur ambulanten Ergotherapie in die Rehaklinik. Nach der Begrüßung erkläre ich meinen klientenzentrierten Behandlungsansatz. Ich informiere beide über den möglichen Therapieablauf und schlage als Assessment das Canadian Occupational Performance Measure (COPM) vor [1]. Bei Herrn Maurer fallen mir im weiteren Verlauf leichte Wortfindungsstörungen auf. Er ist begeisterter Opernbesucher und möchte unbedingt seine Krawatte wieder binden können. Dies ist ihm sogar wichtiger als sein unbeholfenes Essen. Am dringendsten ist für beide das Problem „Aufstehen aus dem Bett”, weil Frau Maurer eine rheumatische Erkrankung hat und ihren Mann dadurch nur eingeschränkt unterstützen kann. Wir beschließen, dass die nächste Behandlung in zwei Tagen bei den Maurers zu Hause stattfindet, wo wir das Aufstehen aus dem Bett mit einem Hilfsmittel üben wollen. Der Bericht aus der Akutklinik ergibt:

  • medizinisch positiver Verlauf ohne Komplikationen

  • Aphasie: sehr gute Verbesserungen

  • Apraxie: zu Beginn sehr deutlich, jetzt weniger ausgeprägt

  • Aufmerksamkeit: leicht reduziert, keine Gedächtnisprobleme

  • Abklärung im häuslichen Umfeld hat stattgefunden

  • Physiotherapie: Herr Maurer geht ohne Sturzgefahr, aber mit pathologischem Gangmuster; ambulant zweimal wöchentlich

Ich führe mit Herrn Maurer die Motor Evaluation Scale for Upper Extremity in Stroke Patients (MESUPES) durch. Das ist ein Test, der die Arm- und Handmotorik auf Funktions- und Aktivitätsebene qualitativ erfasst [2, 3]. Der Test of Upper Limb Apraxia (TULIA) ist notwendig, um die Apraxie differenziert festhalten zu können [4]. Beide Tests stammen aus dem Perfetti-Umfeld, sind standardisiert und legen besonderen Wert auf die Qualität der Bewegungen. Sobald Herr Maurer rechts minimale Greiffunktionen hat, wende ich den Nine Hole Peg Test an [5]. Für Befunderhebung inklusive Erstkontakt plane ich drei bis vier Einheiten ein.

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Therapeutische Interventionen

Im ambulanten Setting kommt für mich nur eine Kombination aus ADL-Training, praktischem Problemlösen und kognitiv-therapeutischen Übungen nach Perfetti in Frage. Der Einsatz der Bettaussteigehilfe klappt nach dreimaligem Üben gut. Da das Ehepaar noch nicht alle Anregungen aus der Abklärung der Akutklinik umgesetzt hat und Zeit benötigt, um jahrelange Gewohnheiten zu ändern, verabreden wir einen weiteren Hausbesuch nach sechs Wochen. In der Zwischenzeit arbeiten wir in der Rehaklinik mit kognitiv-therapeutischen Übungen speziell bei Apraxie [6]. Herr Maurer hat sich selbst beim Krawattebinden beobachtet und bestätigt, dass es auch nach mehrmaligem Üben nicht besser klappt. Wir machen eine Übung, bei der er ohne visuelle Kontrolle erkennen muss, welche Gelenkbewegung seines Arms ich in welcher Reihenfolge durchführe (Abb. 1). Ich bewege zuerst den Ellbogen in eine leichte Flexion, dann das Handgelenk in eine Dorsalextension – soweit dies ohne Widerstand und abnorme Reaktion auf Dehnung möglich ist. Herr Maurer muss also zuerst auf den Ellbogen und dann auf das Handgelenk zeigen. Dadurch lernt er, sensorische Informationen wieder korrekt zu interpretieren. Diese Übung führen wir zu Beginn mit visueller Kontrolle und mit nur einem Gelenk durch. Herr Maurer versteht den Zusammenhang mit dem Krawattebinden. Wir planen weitere Übungen, die sowohl das Wiedererlangen des Greifens als auch Strategien beinhalten, um apraktische Pathologien zu überwinden. Nach zwei Monaten kann Herr Maurer zwar langsam, aber korrekt seine Krawatte binden. Dabei erwähnt er, dass er auch beim Essen weniger Probleme habe. Wir definieren weitere Alltagsaktivitäten und dazu passende kognitiv-therapeutische Übungen.

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Abb. 1 Der Klient erspürt bei dieser Übung nach Perfetti, welches Gelenk die Therapeutin bewegt und zeigt darauf. (Foto: R. Lehmann)

Ich werde Herrn Maurer und seinem Hausarzt zwei Monate lang zweimal wöchentlich Ergotherapie vorschlagen. Im Anschluss daran sollte Herr Maurer einen Monat pausieren, um das Erreichte im Alltag zu festigen. Anschließend wäre meiner Meinung nach ein bis zwei Monate lang zweimal wöchentlich Ergotherapie sinnvoll, danach noch einmal wöchentlich.

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Ausblick

Nach ungefähr sechs Monaten mit etwa 30 Einheiten ambulanter Ergotherapie zu je 45 Minuten und neun Monate nach dem Schlaganfall plane ich eine umfassende Evaluation mit denselben Tests wie zu Behandlungsbeginn. Ich wähle diesen Zeitpunkt, da ich beobachtet habe, dass viele Klienten nach einem Schlaganfall zwischen dem neunten und zwölften Monat nach dem Ereignis eine Phase von deutlichen Fortschritten durchleben. Je nach Ergebnis plane ich mit Herrn Maurer und seinem Hausarzt weiter.

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Forced use

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Olaf Dahncke ist seit 1996 Ergotherapeut und arbeitet seit 2000 in der St. Mauritius Therapieklinik in Meerbusch. Sein Schwerpunkt ist die Arbeit mit erwachsenen neurologischen Klienten der Phasen B bis D. Innerhalb der Klinik arbeitet er an der Umsetzung evidenzbasierter Therapieinterventionen in die klinische Praxis und gibt dieses Wissen in Vorträgen und Fortbildungen weiter.

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Befunderhebung

Nach der allgemeinen Anamnese erhebe ich den ADL-Status anhand eines in unserem Team entwickelten Assessments und skaliere die Parese nach dem Muskelfunktionstest sowie der Ashworth-Skala [7, 8]. Der Befund ergibt, dass Herr Maurer die rechte Hand funktionell zum Schieben von Gegenständen auf Tischebene und zum Greifen und Loslassen einsetzen kann. Er gibt an, dass er die rechte Hand zurzeit im Alltag nicht einsetzt und alle Tätigkeiten mit der linken Hand ausführt. Diese Tatsache spricht für die Forced-use-Therapie. Als Eingangs-Assessment benutze ich unseren selbsterstellten Forced-use-Handfunktionsbefund. Neben dem Messen der Handkraft und der Schulterflexion besteht er aus zehn standardisierten alltagspraktischen Aufgaben wie dem Öffnen und Schließen einer Wasserflasche oder dem Umblättern einer Zeitschrift. Ich bewerte die Bewegungsqualität bei jeder Aufgabe mit null bis vier Punkten (von „Aufgabe ist nicht zu lösen” bis „keine Einschränkung sichtbar”) und messe die Geschwindigkeit in Sekunden. Herr Maurer erreicht im Handfunktionsbefund 13 von 40 Punkten. Für den Befund rechne ich eine Behandlungseinheit, also 45 Minuten.

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Therapeutische Interventionen

Zu Therapiebeginn erläutere ich Herrn Maurer und seiner Frau, die ihn in die Praxis begleitet, das Konzept der Forced-use-Therapie. Ich erkläre beiden, dass die Therapie aus zwei Teilen besteht:

  • Tragen einer Bewegungsrestriktion an der linken Hand – ein selbst entwickelter Handschuh, der das Greifen mit der nicht betroffenen Hand unterbindet (Abb. 2)

  • motorisches Training für die rechte obere Extremität, sowohl unter meiner Supervision als auch als Eigentraining

Als Behandlungsdauer vereinbaren wir zunächst einen Zeitraum von zwei Wochen. Ich übe mit Herrn Maurer, den Handschuh selbstständig an- und wieder auszuziehen. Anschließend überlegen wir, welche Alltagstätigkeiten er von nun an mit der rechten Hand ausführen soll. Unter Berücksichtigung des Befundes einigen wir uns auf folgende Punkte für die nächsten zwei Wochen: Hände schütteln zur Begrüßung, Öffnen und Schließen von Türen, Umblättern von Zeitschriften und Brot essen. Diese Aktivitäten soll Herr Maurer von nun an konsequent mit der rechten Hand durchführen bzw. es probieren. Ich halte das schriftlich in einem Protokoll fest. Zum Eigenübungsprogramm gebe ich Herrn Maurer eine Kiste mit einfachem Greifmaterial mit, welches er täglich morgens und nachmittags für etwa 15 Minuten zu Hause durchführen soll. Auch das halte ich schriftlich fest.

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Abb. 2 Bei der Forced-use-Therapie forciert die Bewegungsrestriktion an der nicht betroffenen Seite das Greifen mit der betroffenen Hand. (Foto: O. Dahncke)

In der Praxis biete ich das Übungsprogramm als Kleingruppe mit drei bis vier Klienten an. Herr Maurer kommt dreimal wöchentlich für eine Dreiviertelstunde dazu. Entsprechend der Handfunktion führe ich mit ihm folgende Übungen durch:

  • farbige Dominosteine auf dem Tisch schieben und zuordnen

  • Spielkarten durch Heranziehen an die Tischkante umdrehen und durch Schieben auf dem Tisch verschiedenen Zielen zuordnen (Abb. 2)

  • Muster aus Musterwürfel zusammenschieben, zum Beispiel mit Nikitin-Material

  • große Steckspiele für grobe Griffe

Neben der Einzeltherapie in der Gruppe biete ich auch Übungen in spielerischer Form für alle Klienten gemeinsam an: sich einen Ball auf dem Tisch zurollen, einfaches Kegelspiel auf dem Tisch, gemeinsam Domino spielen mit großen Dominosteinen sowie „Mensch ärgere Dich nicht” entsprechend der Handfunktionen auf einem großen Spielbrett mit unterschiedlich großen Spielfiguren.

Nach zwei Wochen führen wir noch einmal den Handfunktionstest durch, entscheiden über eine Weiterführung der Forceduse-Therapie und bestimmen gegebenenfalls neue Tätigkeiten, die Herr Maurer mit der rechten Hand durchführen soll. Aus meiner Erfahrung sind die genannten Ziele bei Herrn Maurer in drei bis vier Wochen mit etwa 12 Einheiten zu erreichen. Dann entscheide ich mit ihm, ob eine Verlängerung der Forced-use-Therapie mit neuen Zielen sinnvoll ist.

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Ausblick

Unser Team bietet die Forced-use-Therapie in der beschriebenen Form innerhalb der stationären Rehabilitation an. In den letzten Jahren haben wir anhand einer statistischen Auswertung herausgefunden, dass bei etwa 135 Klienten mit akuten oder subakuten Schlaganfällen die Dauer des individuellen Trainings in keiner Korrelation zu einer Handfunktionsverbesserung steht und eine Stunde Forced-use-Training pro Tag ausreicht. Es ist vielmehr wichtig, dem Klienten das Prinzip „Nutze deine betroffene Hand so oft wie möglich im Alltag” zu vermitteln. Dazu gehört auch, davon wegzukommen, ihn zu „behandeln”, und vielmehr ihn als Experten in eigener Sache zum Handeln zu bringen.

Auch im ambulanten Bereich halte ich eine Umsetzung der Forced-use-Therapie wie im Beispiel beschrieben für möglich. Wenn mehrere Klienten nach diesem Konzept üben, wird die Therapie in einer Kleingruppe möglich.

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Affolter

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Reinhard Ott-Schindele aus Burgau ist Ergotherapeut und seit 2002 Instruktor im Affolter-Modell®. Seit 18 Jahren arbeitet er mit Menschen mit schweren Schädel-Hirn-Verletzungen. Er ist als Manager im Gesundheitswesen tätig und Therapieleiter des Therapiezentrums Burgau. Dort ist er verantwortlich für die Fachbereiche Physiotherapie, Ergotherapie, Sprachtherapie, Recreation, Hilfsmittel und Bilddokumentation.

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Befunderhebung

Im freien Erstgespräch mit Herrn Maurer und seiner Frau eruieren wir folgende Ziele:

  • selbstständig aus dem Bett aufstehen können

  • sich selbstständig anziehen können

  • selbstständig und in guter Qualität essen können

Die therapeutische Befunderhebung findet im primären Alltag und somit zu Hause bei Herrn Maurer statt. Für den Erstbefund dokumentiere ich eine Behandlungssequenz per Video. Die anschließende Videoanalyse anhand eines Interpretationsschemas dauert etwa 60 Minuten. Eine Feinabstimmung des Befundes erfolgt in jeder weiteren Behandlungseinheit. Das heißt: Befund und Therapie gehen immer ineinander über und finden nie isoliert voneinander statt.

Die Befunderhebung gliedert sich in zwei Sequenzen:

  1. Spontane selbstständige Ausführung: Mir fällt auf, dass Herr Maurer beim selbstständigen Anziehen sowohl die rechte Seite nicht adäquat einsetzen kann als auch mit der linken Seite ungeschickt hantiert. Er gerät insgesamt in Anspannung. Seine Bewegungen werden hektisch bei gleichzeitiger Enttäuschung über das Ergebnis.

  2. Geführtes Geschehen: Ich führe Herrn Mauer beim Frühstücken. Er sitzt auf einem Stuhl am Tisch. Vor ihm stehen die Utensilien, die zu seinem üblichen Frühstück gehören. Meine linke Hand führt seine linke Hand. Wir ergreifen den Brotkorb und umfassen ihn zwischen dem linken Arm und dem Oberkörper. Es geht dabei nicht um Aktivität, sondern um Interaktion. Der Korb wird zwischen Arm und Brotkorb stabil, sodass Herr Maurer das Herausnehmen eines Gegenstandes deutlich spüren kann (Abb. 3). Er erhält dabei Informationen über sein Körperschema bzw. seinen betroffenen Arm in einer alltäglichen Handlung.

Anschließend bewege ich sein Gesäß leicht auf dem Stuhl. Diese kleinen Bewegungen geben ihm Informationen über seine Position im Raum. Herr Maurer richtet den Oberkörper ein wenig auf. Sein Blick geht ins Leere. Jetzt führe ich seine rechte Hand. Wir nehmen ein Stück Brot aus dem Korb und legen es auf den Teller. Sein Blick ist nun auf das Brot gerichtet. Auch hier bewege ich wieder sein Gesäß auf der Unterlage, um ihm Informationen über seine Position im Raum zu geben. Ob dies gelungen ist, interpretiere ich an seinen Verhaltensänderungen wie „Aufrichten” oder „Blick ins Leere”. Diese bedeuten: Das Gehirn richtet sich auf die Quelle aus.

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Abb. 3 Der Ergotherapeut führt den Klienten nach Affolter: hier bei der Alltagsaktivität Frühstücken. (Foto: R. Ott-Schindele)

Auch die nächste geführte Aktion beinhaltet Exploration: Was ist die Ursache meines Tuns und was bewirke ich damit? Es folgt die Ausrichtung zur Position: Wo bin ich und wo ist meine Umwelt? Dieses Prozedere wiederholen wir in dieser Einheit bis zum Ende des Frühstücks.

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Therapeutische Intervention

Die Ergotherapie findet direkt im Alltag statt. Ich gehe bei Herrn Maurer aufgrund der Auffälligkeiten in den Ausführungsleistungen sowohl rechts als auch links von einer Störung der Wahrnehmungsorganisation aus. Ich konnte bisher beobachten, dass Herr Maurer Anpassungen bzw. Verhaltensänderungen zeigt, die im Zusammenhang mit der therapeutischen Intervention stehen. Er richtet sich zum Beispiel bei der Informationssuche zur Position auf, und sein Blick geht dabei ins Leere. Bei der Interaktion zum Geschehen kommt sein Blick dazu. Dies kann man als Zeichen von Verständnis bzw. verbesserter Gehirnorganisation interpretieren. Als Grundlage der Entwicklung oder Gehirnorganisation sieht man laut Affolter-Modell die gespürte Interaktion zwischen Person und Umwelt im Alltag. Die erste Leistung des Lernens ist das Verständnis. Ohne Verständnis kommt es nicht zu Ausführungsleistungen.

In den weiteren Behandlungen variiere ich Situation und Position. Ich beginne beispielsweise mit Herrn Mauer liegend im Bett und führe ihn beim Anziehen seiner Hose und Socken. Zwischen den Interaktionen zum Anziehen rutsche ich Stück für Stück mit ihm zum Fußende. Ich knie dabei im Bett, fasse Herrn Maurer mit beiden Händen am Becken und bewege ihn auf der Unterlage entlang der Wand Richtung Fußende. Dann leite ich das Aufsitzen an der stabilen Seite ein.

Frau Maurer ist immer dabei. Nach der Behandlung beantworte ich ihre Fragen und führe mit ihr Selbsterfahrungen durch, zum Beispiel den Transfer. Dadurch gelingt es ihr, Verständnis für die Probleme ihres Mannes zu entwickeln. Ich zeige ihr, wie sie ihren Mann bei Alltagsaktivitäten unterstützen kann und wie sie beispielsweise gemeinsam das Frühstück zubereiten, Stressoren vermeiden oder seine rechte Hand als Haltehand einsetzen können.

Im Affolter-Modell muss man nicht alle Funktionen und Fertigkeiten einzeln bearbeiten (ein Messer umfassen, das Brötchen aufschneiden, die Finger beugen, die Hose hochziehen, den Arm strecken, den Arm abtrocknen). Durch das Führen im Alltag und die Reorganisation des Gehirns finden Lernen und Entwicklung in allen Bereichen statt.

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Ausblick

Herr Maurer sollte ein- bis zweimal pro Woche zu Hause Ergotherapie bekommen. Die Angehörigen sollten dabei immer mit einbezogen werden. Da er regelmäßig positive Verhaltensänderungen zeigt, scheint es realistisch, die Ziele innerhalb eines halben Jahres zu erreichen. Ich rechne für diesen Zeitraum mit 30 bis 50 sensomotorisch-perzeptiven Behandlungseinheiten.

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4. Bobath

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Maria Dolar ist seit 2002 Ergotherapeutin. Die Bobath-Therapeutin IBITA war bis 2006 Teilnehmerin der Bobath-AG. Sie arbeitet seit 2003 in einer Ergotherapiepraxis vor allem in den Bereichen Neurologie und Pädiatrie und hat umfangreiche Fortbildungen in der SI-Therapie sowie in der orthopädischen Handrehabilitation besucht.

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Befunderhebung

Zum Erstgespräch mit Herrn Maurer bitte ich seine Frau hinzu. Neben den üblichen Anamnesedaten erfrage ich als wichtige prognostische Faktoren das Bewusstsein in den ersten 48 Stunden, die Kontinenz und die Verbesserung der Parese von Bein und Arm in den ersten zwei Wochen nach dem Schlaganfall. Das COPM hilft mir, die Dringlichkeit der einzelnen Probleme zu erfassen [9]. Herr Maurer möchte seinen Pullover wieder alleine anziehen, sich beim Aufstehen abstützen, den linken Arm waschen und abtrocknen, Besteck zum Mund führen und sich etwas zu trinken eingießen. Im Gespräch sucht er häufig nach den richtigen Worten und hat Schwierigkeiten mit der genauen Handlungsbeschreibung. Zur weiteren Diagnostik überprüfe ich die Oberflächen- und Tiefensensibilität sowie die Praxie. Zudem beobachte ich die als Probleme beschriebenen Handlungsabläufe. Für den Befund rechne ich zwei bis drei Einheiten. Er ergibt eine apraktische Störung mit verlangsamten Bewegungen und verminderter Zeitstrukturierung und Objektorganisation. Oberflächen- und Tiefensensibilität an Handgelenk und Finger der betroffenen Seite sind eingeschränkt.

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Therapeutische Interventionen

Hausbesuche ermöglichen es, mit Herrn Maurer alltagsnah zu arbeiten. Die Ergebnisse des COPM zeigen mir, welche Alltagsprobleme bestehen und wie schwerwiegend Herr und Frau Maurer diese empfinden. Meine Diagnostik gibt mir Hinweise, welche Ursachen die Schwierigkeiten haben könnten. Indem ich diese behandle, sehe ich, ob ich Erfolg damit habe und meine Hypothesen richtig waren. So kann ich die Schwerpunkte der Behandlung präzisieren. Gewichtung und Reihenfolge wechseln je nach Tagesform oder Dringlichkeit.

  1. Arm- und Handfunktion: Da die Hand leicht geschwollen und die Sensibilität herabgesetzt ist, muss Herr Maurer verstärkt auf seinen Arm achten und Verletzungen vermeiden. Ich berate die Eheleute zum Handling und leite sie zur passiven Mobilisation an. Die Wiederherstellung von Arm- und Handfunktion unterstütze ich intensiv durch aktive Mobilisation. Mein Behandlungsweg ist vom Positionieren des betroffenen Armes im Ellbogen- oder Handgelenksstütz zu Zeige-, Greif- und Reichbewegungen. Herr Maurer soll zunächst auf den rechten Arm gestützt weiträumige Greif- und Reichbewegungen mit links durchführen. Dadurch detonisiert er die Muskulatur, aktiviert sie schmerzfrei und setzt wichtige tiefensensible Reize für Ellbogen, Handgelenk und Finger. Greifen und Reichen mit rechts bahne ich zunächst mit einer Unterstützungsfläche an, beispielsweise mit einem Tisch oder einer Stuhllehne. Damit fördere ich Kraft, Genauigkeit und Auge-Hand-Koordination. Ich variiere und kombiniere dabei die Aufgaben. In jeder Therapieeinheit erarbeite ich mit Herrn und Frau Maurer, wie er die angebahnten Arm- und Handfunktionen im Alltag mit besonderem Blick auf die persönlichen Ziele einsetzen kann.

  2. Praxie: Für Herrn Maurer ist es wichtig, die problematischen Handlungsabläufe ganzheitlich zu betrachten. Beim intensiven Erarbeiten der Tätigkeiten setze ich unterstützend Fotostrecken ein, wobei ich Schlüsselreize auf den Bildern besonders kennzeichne. Ein Schlüsselreiz kann zum Beispiel die Position des Schildchens beim Pulloveranziehen oder auch der Halsausschnitt sein. Ich fotografiere den Klienten selbst und markiere den Knackpunkt, an dem er nicht weiterkommt, auf den Fotos. Die Bilder drucke ich aus und stelle eine Fotoreihe zusammen. Die Bilder kann Herr Maurer dann im Alltag nutzen, wenn er diese Tätigkeiten ausführt.

  3. Grobmotorik: Das selbstständige Aufstehen aus niedrigen Sitzpositionen ist für Herrn Maurer ein wichtiges Handlungsziel und bringt ihm mehr Unabhängigkeit im Alltag. Zudem ist die adäquate Haltungskontrolle eine wichtige Voraussetzung für eine gute Armbeweglichkeit. Das Aufstehen aus dem niedrigen Sitz bahne ich durch Veränderung der Gewichtsverlagerung nach vorne mit leichtem Stütz auf den Knien an. Der Ehefrau zeige ich, wie sie ihren Mann beim Aufstehen vom Bett oder aus einem niedrigen Sessel ohne großen Krafteinsatz unterstützen kann.

  4. Hilfsmittelversorgung: Griffverdickungen für Besteck und Stifte, rutschfeste Unterlagen, ein Einhänderbrett und Einhänderschnürsenkel unterstützen Herrn Maurer im Alltag.

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Ausblick

Je nachdem, wie sich die Armmotorik in den ersten acht bis zwölf Behandlungswochen entwickelt, verlagert sich der Behandlungsschwerpunkt in Richtung einer weiteren Aktivierung und Differenzierung der Armbeweglichkeit rechts oder dem Erarbeiten von Kompensationsstrategien mit links. Es ist meiner Meinung nach innerhalb eines halben Jahres und mit etwa 50 sensomotorischperzeptiven Behandlungseinheiten möglich, die Ziele im Bereich Selbstversorgung zu erreichen. Eventuell wäre es dann sinnvoll, bestehende Probleme im Bereich Freizeit in den Blick zu nehmen.

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Abb. 1 Der Klient erspürt bei dieser Übung nach Perfetti, welches Gelenk die Therapeutin bewegt und zeigt darauf. (Foto: R. Lehmann)

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Abb. 2 Bei der Forced-use-Therapie forciert die Bewegungsrestriktion an der nicht betroffenen Seite das Greifen mit der betroffenen Hand. (Foto: O. Dahncke)

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Abb. 3 Der Ergotherapeut führt den Klienten nach Affolter: hier bei der Alltagsaktivität Frühstücken. (Foto: R. Ott-Schindele)

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