ergopraxis 2009; 2(1): 16
DOI: 10.1055/s-0030-1254441
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Wissenschaft erklärt: Sensitivität – Sensibelchen erwünscht!

Jan Mehrholz
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Publication Date:
07 July 2010 (online)

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Wenn Assessments therapeutische Fortschritte sichtbar machen, dann sind sie sensitiv. Aber nicht alle Tests erfüllen diese Eigenschaft. Erfahren Sie hier, welche Unterschiede es gibt und wie eine Ergotherapeutin erkennen kann, ob ein Test Veränderungen erfasst.

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Prof. Dr. Jan Mehrholz, Leiter des Wissenschaftlichen Instituts der Privaten Europäischen Medizinischen Akademie in Kreischa und in Gera Professor für Therapiewissenschaften

Pünktlich zur Schlafenszeit fangen Säuglinge oft scheinbar grundlos an zu schreien. „Ganz schön empfindlich!”, denken Eltern gelegentlich dabei. Aber meistens kann die kleinste Grimasse bereits ein bezauberndes Lächeln bei den Kleinen erzeugen. Man könnte auch sagen, dass Kleinkinder gut auf die Faxen ihrer Eltern ansprechen. Was aber haben Empfindlichkeit und Ansprechbarkeit mit Skalen, Assessments und Ergotherapie zu tun? Empfindlichkeit, Sensitivität, Responsivität oder auch Veränderungssensitivität (engl.: sensitivity to change) sind Synonyme. Sie beschreiben eine Eigenschaft von Assessments, nämlich die Fähigkeit, dass Veränderungen messbar sind [1]. Die Sensitivität wird als Begriff international nicht einheitlich benutzt. Daher existieren Kontroversen darüber, ob man nicht den synonym benutzten Begriff der Ansprechbarkeit (engl.: responsiveness) einheitlich verwenden sollte.

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Kleine Fortschritte sichtbar machen

Tests, die Verbesserungen von Klienten nicht erfassen können, sind sowohl im therapeutischen Alltag als auch in der Forschung wertlos. Was nutzt es zu messen, wenn das Assessment die wichtigen Unterschiede nicht messen kann? Besonders deutlich wird diese Notwendigkeit beispielsweise bei Klienten, die sich bereits gut erholt haben, oder bei Klienten, die kleine Fortschritte während einer Reha machen. Wir wollen deren Leistungsverbesserungen erfassen, messen und dokumentieren. Um diese kleinen Veränderungen im Verlauf der Behandlung dokumentierbar zu machen, bedarf es empfindlicher (sensitiver, sensibler) Messinstrumente. Was aber kennzeichnet einen sensitiven Test?

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Alltagsaktivitäten sensitiv beurteilen

Um beispielsweise zu messen, wie selbstständig ein Klient nach einem Schlaganfall den Alltag bewältigt, ist der Barthel-Index eine weitverbreitete Messgröße [2]. Er besteht aus zehn überwiegend motorischen Items, welche die Aktivitäten des täglichen Lebens messen. Um zum Beispiel die Körperpflege des Klienten zu beurteilen, gibt es beim Barthel-Index zwei Einstufungen: Der Klient benötigt Hilfe bei der Körperpflege, oder er kann diese unabhängig ausführen (Tab.). Inwieweit er Hilfe bei der Körperpflege benötigt, geht aus diesem Test allerdings nicht hervor.

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Tab. Eine grobe Einteilung verhindert die genaue Messung von Verbesserungen.

Weil der Untersucher die Leistung eines Klienten nicht genau abstufen kann, können sogenannte Boden- und Deckeneffekte entstehen [3]. Ein Deckeneffekt tritt dann auf, wenn der Test für den Klienten zu leicht ist. Beim Barthel-Index kreuzt die Therapeutin an, dass der Klient die Körperpflege unabhängig durchführt. Wie lange er dafür braucht, kann sie mit diesem Test allerdings nicht erfassen, weil der Klient die sogenannte „Testdecke” erreicht hat. Was darüber hinausgeht, kann die Therapeutin mit diesem Test nicht dokumentieren.

Ein Bodeneffekt beschreibt das Gegenteil: Ein Klient kann bei der Körperpflege anfangs nicht mithelfen, also benötigt er laut Barthel-Index Hilfe. Der Test kann aber keine Fortschritte des Klienten erfassen. Solange er Hilfe benötigt, ändert sich die Einstufung im Barthel-Index nicht. Das heißt also: Dieses Assessment ist nicht sensitiv für Verbesserungen. Im Vergleich zum Barthel-Index ist der FIM (Functional Independence Measure) ein gutes Beispiel für einen Test mit einer hohen Sensitivität [4].

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Mess-Skala muss fein unterteilt sein

Der FIM misst wie der Barthel-Index Alltagsfähigkeiten, aber auch Funktionsverbesserungen („Functional Independence Measure”). Über eine Bewertungsskala von 1–7 erfolgt eine Abstufung der Fähigkeiten des Klienten. Der Wert 1 bedeutet totale Hilfestellung, der Wert 7 steht für völlige Selbstständigkeit. Mittels Abstufungen von 2–6 lässt sich genau bestimmen, wie viel Hilfe ein Klient benötigt. Somit kann die Therapeutin auch kleine Fortschritte und Verbesserungen dokumentieren. Der FIM hat dadurch eine höhere Sensitivität als der Barthel-Index. Das ist eine wichtige, aber seltene Eigenschaft derzeitiger Assessmentverfahren. Dabei sind es gerade die sensitiven Tests, die es Ergotherapeuten ermöglichen, die Effektivität ihrer Behandlung nachzuweisen.

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Tab. Eine grobe Einteilung verhindert die genaue Messung von Verbesserungen.