Rund 30% aller Verletzungen im Fußball und in der Leichtathletik betreffen die Muskulatur
und sorgen so für zahlreiche Ausfälle im Profisport. Aber auch bei Freizeitsportlern
sind Muskelverletzungen keine Seltenheit. Ohne fachgerechte Behandlung können sie
zu langwierigen Problemen führen. Das für die Diagnostik und Therapie notwendige Fachwissen
war bislang nur Einzelpublikationen zu entnehmen. Mit dem Fachbuch "Muskelverletzungen
im Sport" liegt jetzt die erste umfassende Monografie zum Thema vor. Wir sprachen
mit den Herausgebern Dr. Müller-Wohlfahrt, Dr. Ueblacker und Dr. Hänsel.
? Muskelverletzungen gehören zum Alltag von Sportmedizinern. Warum gab es bisher kein
umfassendes Werk zu diesem Thema?
Müller-Wohlfahrt: Die Interpretation und Einstufung von Muskelverletzungen hat bisher nicht unter einheitlichen
Kriterien stattgefunden. Das liegt u. a. daran, dass eine Vielzahl unterschiedlichster
Klassifikationen Verwendung findet. Die meisten basieren nicht auf anatomischen und
empirischen Erkenntnissen, sondern auf einer willkürlichen Einstufung. Auch wurde
die Muskulatur in der Sportmedizin bislang eher stiefmütterlich behandelt. Sie rückt
erst jetzt zunehmend in den Fokus.
Dr. med. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt (Mitte) ist seit über 30 Jahren als Vereinsarzt
des FC Bayern München und Vertrauensarzt für zahlreiche Profisportler tätig. Seit
1996 betreut er zudem die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. 2008 gründete er das
Müller-Wohlfahrt-Zentrum für Orthopädie und Sportmedizin in München, das er gemeinsam
mit PD Dr. med. Peter Ueblacker (rechts) und Dr. med. Lutz Hänsel (links) führt.
? Sie haben erstmals eine allgemeingültige und praktikable Klassifikation von Muskelverletzungen
vorgenommen. Welche Kriterien haben Sie zugrunde gelegt?
Ueblacker: Wir haben uns an der Anatomie und ihren nachvollziehbaren Strukturen orientiert.
Dies ist insbesondere bei den strukturellen Läsionen wie Muskelfaserriss und Muskelbündelriss
notwendig. Aber auch die funktionellen Muskelläsionen, die bislang in keiner Klassifikation
abgebildet wurden, lassen sich hier sinnvoll einordnen. Die eindeutige Klassifikation
ist die Voraussetzung für eine präzise Differenzierung – etwa zwischen einer neurogenen
Muskelverhärtung und einer neuromuskulären Störung (sog. "Zerrung"). Die von uns vorgestellte
und täglich praktizierte Einteilung basiert auf den gesammelten Erfahrungen aus über
30 Jahren Sportmedizin mit über 30 000 diagnostizierten und therapierten Muskelverletzungen.
? Mit welchen Muskelverletzungen werden Sie in der Praxis am häufigsten konfrontiert?
Hänsel: Die meisten Patienten kommen mit funktionellen Störungen zu uns, die häufig als sehr
schmerzhaft empfunden werden und mit einer erheblichen Funktionseinschränkung einhergehen.
? Sie selbst betreuen zahlreiche Profisportler. Inwieweit können Ärzte und Therapeuten,
die v. a. Freizeitsportler behandeln, von Ihrem Werk profitieren?
Müller-Wohlfahrt: Die Versorgung von Freizeitsportlern sollte in den Grundregeln die Gleiche sein wie
beim Profiathleten, sodass die in dem Buch dargestellten diagnostischen und therapeutischen
Maßnahmen von jedem Arzt in die Praxis übertragen werden können. Jeder Arzt sollte
versuchen, auch dem Nicht-Profi die bestmögliche Behandlung und damit eine rasche
Rückkehr in den Sport anzubieten.
Das Interview führte Carola Schindler.
Die Autorin ist Mitarbeiterin der Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart