Umfangreiche familiäre Netzwerke und Traditionen stehen bei der Kindererziehung des
Indianerstamms der Lillooet in einem engen Zusammenhang. Das Naturvolk sieht sie als
wichtige Ressource in der Betreuung von Kindern mit Behinderung. Im Auftrag der San
Jose State University, USA, interviewte die Ergotherapeutin Alison Gerlach fünf betroffene
Familien zu deren Umgang mit der Behinderung ihrer Kinder. Drei Kinder hatten ein
Down-Syndrom, eines das Williams-Beuren-Syndrom und eines eine geistige Behinderung.
Innerhalb ihrer qualitativen Studie befragte die Forscherin die Angehörigen mithilfe
eines Leitfadens. Sie fasste deren Antworten unter den beiden Kategorien „Familie”
und „Kindererziehung” zusammen. Unter „Familie” ordnete sie Angaben der Teilnehmer
über das unterstützende Netzwerk, generationenübergreifendes Lernen und den Einfluss
des örtlichen Schulsystems ein. Bei der „Kindererziehung” trägt eine ganze Gruppe
die Verantwortung, da der Indianerstamm Entscheidungen gemeinsam trifft. Die Kinder
lernen beispielsweise hauptsächlich von den Großeltern, indem sie diese bei verschiedenen
Aktivitäten, wie Mokassins oder Körbe herstellen, beobachten. Als Problem sehen die
Lillooet das örtliche Schulsystem. Es habe viele ihrer Traditionen und Bräuche verboten
und bestraft, sodass sie diese jetzt nur noch ansatzweise weitergeben könnten. Die
Forscherin, welche zu den Studienteilnehmern langjährige Kontakte gepflegt hatte,
betont, dass es für Ergotherapeuten wichtig sei, das Familiengefüge, in dem sie arbeiten,
zu verstehen und Aktivitäten, die für diese Familien von Bedeutung sind, zu kennen.
Das Verständnis dafür ermöglicht mehr Empathie und Begreifen der Herausforderungen,
mit denen sich die betroffenen Familien konfrontiert sehen.
Chpr
Kommentar
Obwohl die Studie der Ergotherapeutin Alison Gerlach eine geringe Teilnehmerzahl beinhaltet
und sich nur auf die Kultur der Lillooet bezieht, unterstützt sie die ganzheitliche
Sichtweise innerhalb der ergotherapeutischen Modelle, Konzepte und der ICF. Meines
Erachtens ist das Einbeziehen des Umfelds in den Therapieprozess von großer Bedeutung,
weil es zum Therapieerfolg und zur Klienten- bzw. Angehörigenzufriedenheit beiträgt.
Dennoch lässt sich die Theorie nicht immer nach Wunsch umsetzen. Als große Herausforderung
empfinde ich die Arbeit mit Familien aus anderen Kulturkreisen. Selbst wenn sich die
Therapeutin um Empathie und Verständnis für kulturelle oder familiäre Hintergründe
bemüht, gelingt die Zusammenarbeit nicht immer. Die Erfahrung sowie die Schlussfolgerung
von Alison Gerlach zeigen jedoch, dass die Therapie bei intensivem Einbeziehen des
Umfelds deutlich effektiver ist.
Christine Priß, Ergotherapeutin BSc.
CJOT 2008; 75: 18–25