Univ.-Prof. Dr. Ullrich Meise
Die Anwendung von Zwangsmaßnahmen – Unterbringung, Fixierung, Isolierung und Zwangsbehandlung
– aber auch von informellem Zwang [1] sind weltweit ein charakteristischer Teil der psychiatrischen Versorgung. Sie gehören
zur Schattenseite der psychiatrischen Tätigkeit und die Diskussion darüber ist so
alt wie die Psychiatrie selbst [2]. Das Dilemma der Psychiatrie liegt in dem doppelten Mandat, sie hat sowohl eine
therapeutische Aufgabe als auch eine staatliche Ordnungsfunktion. Die Möglichkeit,
Menschen mit psychischen Störungen wider deren Willen zu behandeln und somit – zumindest
vorübergehend – ihre Autonomie und Eigenverantwortung durch Fremdbestimmung und Fürsorge
zu ersetzen, erfordert folgende Voraussetzungen:
-
den Verlust der Einsichts- und Urteilsfähigkeit und folglich die teilweise oder völlige
Aufhebung der Freiheit zur autonomen Willensbildung und
-
eine im Gefolge der psychischen Erkrankung konkrete Selbst- oder Fremdgefährdung.
Der durch Freiheitsbeschränkung verursachte Eingriff in die individuellen Persönlichkeitsrechte,
wobei im Falle einer Zwangsbehandlung auch die Unversehrtheit der Person betroffen
ist, gründet somit auf 2 Voraussetzungen: Dem „Fürsorgegedanken” und dem Gedanken
der „Gefahrenabwehr”. Auf diesen Grundsätzen fußen jene gesetzlichen Bestimmungen
in den einzelnen EU-Ländern, die diese Maßnahmen sanktionieren. Trotzdem sind diese
Gesetze verschieden, und die Entscheidung, Zwangsmaßnahmen anzuwenden, wird unterschiedlich
gehandhabt. Daher finden sich zwischen den einzelnen Staaten, was die Art, Dauer und
Häufigkeit von Zwangsmaßnahmen betrifft, erhebliche Differenzen [3]
[4]
[5]. Verantwortlich dafür sind u. a. auch der fehlende Konsens, welche Maßnahmen als
Zwang registriert werden, sowie unterschiedliche Definitionen [6]. Es wird von der Europäischen Kommission und dem Europarat als notwendig erachtet,
innerhalb der Union in dieser Angelegenheit eine Harmonisierung herbeizuführen [7]
[8].
Insgesamt liegt der durch die Psychiatrie ausgeübte Zwang nicht im Fokus der klinischen
Forschung [9]. Das Wissen über das Ausmaß der Anwendung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen
ist lückenhaft. Die für einzelne Länder verfügbaren Daten sind untereinander schwer
vergleichbar, es finden sich aber auch große Abweichungen zwischen den Kliniken innerhalb
einzelner Länder. Dadurch kann der Eindruck entstehen, dass das Ausmaß und die Art
von Zwangsmaßnahmen stärker von Kontextfaktoren und weniger von der Psychopathologie
der Patienten abhängen. Neben der Erfassung von administrativen oder deskriptiven
Aspekten wie der Art, Häufigkeit oder der Dauer dieser Einschränkungen sind noch viele
Fragen offen, zu denen bislang kaum Antworten vorliegen. Dazu einige Gesichtspunkte,
die etwas Licht auf die im Titel angesprochene „subjektive Seite” werfen könnten:
-
Welchen Einfluss haben Zwangserfahrungen auf das Erleben und den Selbstwert von Patienten?
-
Beeinflussen solche Gewalterfahrungen den weiteren Krankheitsverlauf, eine zukünftige
Inanspruchnahme psychiatrischer Leistungen oder die Compliance?
-
Begünstigen Zwangsmaßnahmen das Fortbestehen oder die Entwicklung einer PTSD?
-
Werden die Anwendung von Zwang oder Gewalt durch stigmatisierende Einstellungen gefördert?
-
Verfestigt diese Praxis Stereotype wie z. B., dass von Menschen mit psychischer Erkrankung
eine Gefahr ausgehe? Trägt sie zum Stigma bei?
-
Werden durch Unterbringung und weiterführende Beschränkungen die sozialen Beziehungen
von Betroffenen verändert?
-
Welchen Stellenwert haben die Kontextfaktoren der psychiatrischen Behandlung oder
die Einstellungen und Wertvorstellungen des behandelnden Personals auf die Praxis
von Zwangsmaßnahmen?
-
Welchen Einfluss hat die Notwendigkeit auf Patienten Zwang und Gewalt ausüben zu müssen
auf das Befinden, die Identität und die Rolle der damit betrauten Pflegepersonen und
Ärzte?
-
Welche Auswirkungen haben die Gewaltanteile psychiatrischen Handelns auf das Image
der Psychiatrie in der Gesellschaft?
Empirische Ergebnisse zu diesen Themen könnten zum Überdenken der gängigen Praxis,
zu einer Reduktion von Zwang und zur Entwicklung von Behandlungsstandards beitragen
[10].
Es wurde bislang kaum der Frage nachgegangen, wie Patienten, die in der Psychiatrie
von Zwang oder Gewalt betroffen waren, diese erlebt haben. Die wenigen dazu vorhandenen
Studien weisen darauf hin, dass das Erlebnis einer unfreiwilligen Hospitalisierung
oder von weiterführenden Beschränkungen wie Fixierung oder Zwangsmedikation, häufig
als ein traumatisierendes und stigmatisierendes Ereignis bewertet werden [11]
[12]
[13]
[14]
[15]. In einer eigenen Untersuchung konnten wir erfahren, dass Betroffene, trotz des
durch Fixierung und Zwangsbehandlung zugefügten Traumas, sich konstruktiv mit dieser
Thematik auseinandersetzten und uns auch Empfehlungen gaben, wie diese Praxis aus
ihrer Sicht verhindert oder humaner gestaltet werden könnte.
Einblicke, wie Pfleger und Ärzte die Ausübung von Zwang und Gewalt erleben und verarbeiten,
fehlen. In der Psychiatrie Tätige neigen dazu, auf diesen Bereich mit Abwehr, Schuldgefühlen
oder auch unreflektierten Rechtfertigungen zu reagieren. Gewaltanwendung gegenüber
Schwachen, Kranken oder Behinderten steht im Widerspruch zu den ethischen Grundhaltungen
und sie passt nicht zum Selbstbild helfender Berufe. Diese Ablehnung kann dazu führen,
dass die Gewaltanteile psychiatrischer Arbeit tabuisiert und in der Folge intransparent
und schwer kontrollierbar werden. Dadurch entsteht auch Unsicherheit, ob sich die
Frage nach der Angemessenheit der Zwangsausübung gegenüber Patienten eindeutig beantworten
lässt; sie kann dann entweder als notwendiges Hilfsmittel zur Abwehr einer größeren
Gefahr, oder auch als Ausdruck von Machtmissbrauch und Willkür interpretiert werden.
Die Diskussion zu dieser Thematik wird häufig ideologisch geführt. Dies kann auch
zur Spaltung innerhalb der Psychiatrie führen, wobei zwischen „guter Therapie” und
„böser Gewalt” unterschieden wird [16].
Es ist eine Konfrontation mit dem Spannungsfeld erforderlich, wie die Psychiatrie
ihrer therapeutischen Rolle und der Funktion der gesellschaftlichen Kontrolle angemessen
gerecht werden kann. Die Ausübung der Ordnungsfunktion ist nur dann gerechtfertigt,
wenn durch sie eine psychisch kranke Person vor einer akuten und ernsthaften Gefährdung
für Leib und Leben, die als Folge der Erkrankung besteht, geschützt werden muss. Was
den Behandlungsauftrag betrifft, sollte nach Hartmann Hinterhuber ein Kompromiss gesucht
werden, da der Verzicht von Zwang in der Behandlung u. U. zu einer Unterlassung von
lebensnotwendigen Hilfestellungen führen kann: „Eine patientenzentrierte Ethik in der Psychiatrie muss stets um einen Ausgleich zwischen
dem traditionellen paternalistischen Patientenwohl und dem radikalen Selbstbestimmungsrecht
des Patienten bemüht sein.” Was den legitimierten Auftrag zur Freiheitsbeschränkung betrifft, darf sich die Psychiatrie
nicht von gesellschaftspolitischen Strömungen beeinflussen lassen [17]
[18]. Daher muss das enge Korsett bestehend aus gesetzlichen Regelungen und Legitimationsverpflichtung
erhalten bleiben. Gerade weil die Auseinandersetzung mit dieser Thematik unter einem
hohen Tabuisierungsdruck steht, ist es, da die gewaltfreie Psychiatrie heute noch
eine Fiktion darstellt [16], erforderlich, dass dieser Teil psychiatrischen Handelns immer wieder kritisch durchleuchtet
wird. Dazu äußerte Daniel Hell 1989: „Zwangsmaßnahmen sind für die stationäre Psychiatrie zwar nicht charakteristisch,
aber sie sind für die Betroffenen – die „Opfer” wie die „Täter” – so belastend, dass
sie immer wieder eine vertiefte Auseinandersetzung über Sinn und Widersinn nötig machen.” In den Diskurs sollten alle Beteiligten – auch die Patienten – eingebunden werden.
Er könnte ein Schutz vor unreflektierter „Gewaltroutine” oder unangemessener Gewalt
gegenüber psychisch erkrankten Menschen sein. Diese Diskussion kann auch dazu beitragen,
dass das Stigma psychisch Kranker verringert und das Image der Psychiatrie in der
Öffentlichkeit verbessert wird.