Rechtsanwalt Johann Neu ist Geschäftsführer der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen
der norddeutschen Ärztekammern. Die in Hannover ansässige Einrichtung ist die mit
Abstand größte Schlichtungsstelle und für die Bundesländer Berlin, Brandenburg, Bremen,
Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein
und Thüringen zuständig. Seit 1976 haben sich mehr als 81 000 Patienten an diese außergerichtliche
Plattform zur Klärung von Arzthaftungsstreitigkeiten gewandt.
Johann Neu
? 70 % der von den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen für Arzthaftungsstreitigkeiten
im vergangenen Jahr bearbeiteten Anträge betrafen den Klinikbereich. Werden in der
Klinik mehr Fehler gemacht als im niedergelassenen Bereich?
Johann Neu: Nein! Die Verteilung sagt nichts über die "Fehleranfälligkeit" aus, sondern hängt
davon ab, ob Patienten überhaupt bemerken, dass ihre Gesundheitsstörung auf einem
Behandlungsfehler beruhen könnte.
Eine Fehlstellung des Unterarmes nach einer Osteosynthese ist für Patienten augenfälliger
als eine fehlerhaft eingestellte Medikation des Blutdrucks. Daher sind "schneidende
Fächer", die überwiegend in der Klinik angesiedelt sind, immer die Spitzenreiter bei
den gestellten Anträgen und damit automatisch auch bei den festgestellten Fehlern.
? In der Klinik sind am Behandlungsfall - oft auch fachübergreifend - immer mehrere
Ärzte beteiligt. Ist bei einem Antrag die Klinik die Beklagte oder der vermutlich
verursachende Arzt?
Bild: CD49 Business and Occupations 2
Johann Neu: Bei uns in Norddeutschland ist bei einer Krankenhausbehandlung die Klinik der Antragsgegner,
bei Privatpatienten der jeweilige Vertragspartner, z. B. der Chefarzt. Das ist beispielsweise
in Nordrhein anders. Dort sind Krankenhäuser nicht am Verfahren beteiligt, sondern
ausschließlich die Ärzte.
? Die Statistik hat gezeigt, dass die Gesamtzahl der Begutachtungsanträge nahezu konstant
geblieben ist. Die Zahl der geprüften Anträge und der gutachterlichen Bescheide hat
2009 allerdings zugenommen. Heißt das, die Fehlerquote nimmt zu?
Johann Neu: Nein, nicht wesentlich. In Norddeutschland haben wir seit 2000 jährlich ca. 4 000
Anträge; die Schwankungen zwischen den einzelnen Jahren liegen unter 10 %.
? In der Statistik wird bei den Sachentscheidungen zwischen Behandlungsfehlern und
Risikoaufklärungsmängeln unterschieden. Warum macht man diese Unterscheidung?
Johann Neu: Eine fehlende Risikoaufklärung verletzt den Patienten in erster Linie in seinem Selbstbestimmungsrecht;
während ein Behandlungsfehler primär die Gesundheit beeinträchtigt.
? Welche juristischen Konsequenzen haben dann Mängel der Risikoaufklärung? Ist der
Risikoaufklärungsmangel für den Arzt juristisch günstiger als der Behandlungsfehler?
Johann Neu: Nein - weil sich die Beweislast umkehrt.
Die Beweislastverteilung im Arzthaftungsrecht ist grundsätzlich so, dass zunächst
die Patientenseite einen Behandlungsfehler des Arztes und darüber hinaus auch die
Kausalität zwischen Behandlungsfehler und Schaden zu beweisen hat. Dieser Beweis ist
oft schwer zu führen, weil das Krankheitsrisiko und der Behandlungsfehler in vielen
Fällen in dieselbe Schädigungsrichtung zielen.
Geht es allerdings um die Frage, ob eine ordnungsgemäße Aufklärung stattgefunden hat,
trifft die Beweislast den Arzt. Er hat zu beweisen, dass der Patient über Art und
Umfang typischer Risiken der Behandlung, Dringlichkeit der Behandlung oder Gefahren
bei Nichtdurchführung einer vorgesehenen Behandlung informiert wurde und dass das
Aufklärungsgespräch zum richtigen Zeitpunkt geführt wurde. Das ist eine andere Ausgangsposition.
? Was ist, wenn Risikoaufklärungsmängel nicht ursächlich für einen Gesundheitsschaden
waren?
Johann Neu: Ein Aufklärungsmangel greift nur dann, wenn die Kausalität zwischen dem ärztlichen
Eingriff und dem geltend gemachten Schaden erwiesen ist. Die Darlegungs- und Beweislast
dafür, dass die Schadensfolge auch wirklich durch den eigenmächtigen Eingriff des
Arztes verursacht worden ist und nicht auf andere Ursachen zurückgeht, liegt auf Patientenseite.
Mit anderen Worten: Wenn es keinen Zusammenhang zwischen der mangelnden Risikoaufklärung
und dem Gesundheitsschaden gibt, scheitern die Ansprüche des Patienten.
? Bundesweit existieren 17 Landesärztekammern und 12 verschiedene Gutachterkommissionen
und Schlichtungsstellen. Arbeiten diese unterschiedlichen Institutionen verfahrenstechnisch
alle gleich?
Johann Neu: Nein, es existieren in Deutschland 9 verschiedene Verfahren. In 7 Kammerbereichen
ist je eine Kommission tätig. Im Kammerbereich Baden Württemberg gibt es sogar 4 Kommissionen.
? Wäre es nicht sinnvoll, wenn die Bundesärztekammer die Verfahren vereinheitlichen
würde?
Johann Neu: Ja, ohne Zweifel! Die Bundesärztekammer bemüht sich bereits seit 3 Jahren um eine
Vereinheitlichung. Die Verhandlungen kommen nicht so recht voran, weil man in den
verschiedenen Landesärztekammern und Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen
auch unterschiedliche Vorstellungen über die Arbeit der Kommissionen hat.
? Bei einem Schlichtungsverfahren muss der betroffene Arzt zustimmen. Kann er ablehnen,
wenn er weiß, dass die Schlichtungsstelle an der für ihn zuständigen Kammer nicht
optimal arbeitet? Wenn z. B. "seine" Schiedsstelle die externen Gutachten nicht noch
einmal überprüft, oder in dem Gremium kein Arzt mitarbeitet?
Johann Neu: Er muss nicht zustimmen! Die Verfahren vor den Schlichtungsstellen/Gutachterkommissionen
sind freiwillig. Sie können nicht durchgeführt werden, wenn ein Beteiligter widerspricht.
? Wie werden diese Schlichtungsstellen, die ja nicht zur Ärztekammer gehören, finanziert?
Johann Neu: Die Kosten z. B. der Norddeutschen Schlichtungsstelle werden von den 9 norddeutschen
Ärztekammern getragen. Die Haftpflichtversicherer zahlen, und zwar unabhängig vom
Ausgang des Verfahrens, eine Verfahrenspauschale und erstatten die von der Schlichtungsstelle
bezahlten Kosten der externen Gutachten. Deren Honorierung erfolgt analog der für
gerichtliche Gutachten geltenden Sätze.
? Die Schwachstelle einer solchen Institution ist die Qualität der Gutachter. Woher
nehmen Sie qualifizierte Gutachter? Ärzten, die mitten im Berufsleben stehen, fehlt
die Zeit. Ärzte im Ruhestand, die Zeit hätten, sind vielleicht angesichts der rasant
fortschreitenden Medizin nicht auf dem neuesten Stand. Nach welchen Kriterien vergibt
die Norddeutsche Schlichtungsstelle ihre Gutachten?
Johann Neu: Unsere Gutachter werden nach ihrer Fachkompetenz im jeweiligen Einzelfall ausgewählt.
Zudem beauftragen wir in Norddeutschland Gutachter aus dem gesamten Bundesgebiet.
Unser Gutachterpool besteht aus über 5 000 Gutachtern, sodass für jeden Fall der passende,
kompetente Gutachter beauftragt werden kann. In kleineren Schlichtungsstellen sind
da schon Probleme denkbar, wenn nur Gutachter aus der eigenen Region zur Verfügung
stehen.
Darüber hinaus veranstalten wir seit einigen Jahren in Norddeutschland Kolloquien,
bei denen Gutachter speziell für Arzthaftungsgutachten fortgebildet werden. Auf diese
Weise kann die Qualität kontinuierlich optimiert werden.
? Wie kann man verhindern, dass die Gutachter nicht neutral und unvoreingenommen sind?
Johann Neu: Jeder Gutachter erhält von uns mit dem Gutachtenauftrag einen Fragebogen mit Fragen
zu einer möglichen Besorgnis der Befangenheit. Die sind vor Annahme des Gutachtenauftrags
zu beantworten. Besteht die Besorgnis der Befangenheit, wird der Gutachter nicht beauftragt.
? Kontrollieren Sie die Qualität der Gutachten?
Johann Neu: Ja, das externe Gutachten wird immer durch das ärztliche Mitglied und den Juristen
der Schlichtungsstelle geprüft. Dabei werden medizinische und juristische Aspekte
überprüft, aber auch etwaige Stellungnahmen der beteiligten Parteien zu diesem Gutachten
berücksichtigt.
? Sind die Gutachten für die Schlichtungsstellen verbindlich?
Johann Neu: Die Schlichtungsstelle ist nicht an die Bewertung des externen Gutachters gebunden.
Es kann durchaus sein, dass sie aufgrund der medizinischen Einschätzung des fachärztlichen
Mitglieds der Schlichtungsstelle zu einer anderen medizinischen Bewertung gelangt,
als der Gutachter.
Aber es kann auch bei übereinstimmender medizinischer Beurteilung, aufgrund juristischer
Erwägungen (z. B. von der Rechtsprechung entwickelten Beweislastgrundsätzen), zu einer
vom Gutachten divergierenden Beurteilung des ärztlichen Handelns kommen.
Insgesamt kommen Abweichungen in etwa 14 % der Fälle vor.
? Krankenkassen bieten ihren Versicherten Hilfe bei vermuteten Behandlungsfehlern
an. Für wie sinnvoll halten Sie diese "Dienstleistung"?
Johann Neu: Für die Patienten besteht der Vorteil, dass das Gutachten kostenlos ist. Ein entscheidender
Nachteil ist, dass keine Verjährungshemmung eintritt, wie es bei der Einschaltung
von Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Fall ist. Außerdem haben die
Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen nur eine niedrige Akzeptanz
bei Haftpflichtversicherern.
? Man muss Fehler nicht selber machen, um aus ihnen zu lernen. Ist das die Idee, die
hinter der Bundesstatistik steckt? Kann man aus der Bundesstatistik lernen, Fehler
zu vermeiden?
Johann Neu: Ja und zwar mithilfe von MERS! Wir haben im Jahre 2000 das Medical Error Reporting
System (MERS) in Norddeutschland etabliert, das seit 2006 auch bundesweit verwendet
wird. Über dieses Register erhält die Ärzteschaft - und zwar anonymisiert - Informationen
über abgeschlossene Arzthaftungsstreitigkeiten und damit Erkenntnisse zur ärztlichen
Fehlerprophylaxe sowie Verbesserung der Patientensicherheit. Damit haben wir die Möglichkeit,
Antworten auf viele verschiedene und unterschiedlich gestellte Fragen zu erarbeiten
und können durch Aufklärungsarbeit und Fortbildungen gegensteuern. Mit MERS haben
die Ärztekammern einen entscheidenden Sprung auf dem eingeschlagenen Weg zur Verbesserung
der Patientensicherheit geschafft.
? Welche Daten sammeln Sie mit MERS?
Johann Neu: Erfasst werden die Fachgebiete der beteiligten Ärzte, die Versorgungsebenen, die
Krankheiten, deren Behandlung beanstandet wurden, die in den Verfahren festgestellten
Fehler, Kausalität und Schwere der Gesundheitsschäden der beteiligten Patienten, deren
Alters- und Geschlechterzusammensetzung sowie die Fallzahlen bestimmter Selektionen.
Für die Auswertung steht inzwischen eine Datensammlung von mehr als 40 000 Fällen
zur Verfügung.
! Herr Neu, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Anne Marie Feldkamp, Bochum