Kerstin Lüdtke ist 1970 geboren und seit 1993 Physiotherapeutin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren
beiden Kindern in Hamburg. Seit zehn Jahren arbeitet sie dort im Rückenzentrum am
Michel. Sie hat verschiedene Lehraufträge, ist Assistentin für Fortbildungen im Maitland-Konzept
und Mitherausgeberin der Zeitschrift physioscience. 2002 schloss Kerstin Lüdtke ein
Masterstudium in England ab. Seit 2009 forscht sie am Institut für Systemische Neurowissenschaften
am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf zur transkraniellen Gleichstromstimulation bei chronischen
Rückenschmerzen. Zu diesem Thema promoviert sie auch in England.
Frau Lüdtke, was hat Ihren Forschergeist geweckt?
Eigentlich Beiträge auf Kongressen. Richtig erschlossen hat sich mir die Forschung
aber erst durch mein Masterstudium. Nachdem ich wieder in Deutschland war, schien
es jedoch zunächst hoffnungslos, als Physiotherapeutin wissenschaftlich zu arbeiten.
Mit der Zeit zahlte sich meine Hartnäckigkeit aber aus.
Ist Hartnäckigkeit eine Eigenschaft, die Therapeuten mit Forscherdrang haben sollten?
Auf jeden Fall. Wenn man sich für ein Thema interessiert, sollte man versuchen, Kontakt
zu Forschern aufzunehmen, die auf diesem Gebiet arbeiten. Oft werden E-Mails sehr
nett beantwortet. Mit etwas Glück haben die Angeschriebenen Interesse daran, eine
Studie zu unterstützen, oder sie kennen entsprechende Arbeitsgruppen. Das Motiv sollte
zunächst jedoch kein finanzielles sein, eher pure Begeisterung.
Was untersuchen Sie in Ihrer Doktorarbeit?
Die transkranielle Gleichstromstimulation soll den Schmerz im Zentralnervensystem
verändern. Zu Beginn meiner Doktorarbeit habe ich festgestellt, dass die Ergebnisse
bisheriger Studien nicht sehr aufschlussreich sind. Meine Doktorarbeit soll diese
Lücke schließen und methodisch sauber demonstrieren, ob die Technik weiterverfolgt
und gegebenenfalls klinisch eingesetzt werden sollte.
Warum haben Sie sich für eine Promotion in Großbritannien entschieden?
Gegenfrage: Wo und bei wem sollte ich in Deutschland promovieren? Ich habe damals
in England direkt meinen Master gemacht, ohne Bachelor. Um in Deutschland promovieren
zu können, hätte ich erst einzelne Fächer nachstudieren müssen. Außerdem finde ich
es schwierig, in Deutschland Professoren zu finden, bei denen man zu einem physiotherapeutischen
Thema promovieren kann. Als Therapeut, der in der Wissenschaft Fuß fassen möchte,
ist es deshalb wichtig, Kompromisse einzugehen. Mein Promotionsthema ist auch ein
Kompromiss. Aber es ermöglicht mir, in einer universitären Forschungsgruppe zu arbeiten.
Außerdem schätze ich den PhD (den engl. Doktortitel, Anm. d. Red.) (physiopraxis 11-12/10,
„Die akademischen Grade”), weil man während der Promotion alle Aspekte einer Forschungsarbeit
im Detail erlernt, um am Ende selbstständig Projekte entwerfen und durchführen zu
können.
Wie ist Ihre Promotion organisiert?
Acht Wochen im Jahr muss ich an die Uni, und einmal im Jahr kommt mein Supervisor
zu mir. In Birmingham wird die methodologische Vorgehensweise meines Projektes überwacht.
Meine Daten erhebe ich aber in Hamburg.
Sie forschen also auch im Rückenzentrum?
Ja, dort kann ich die Patienten für meine Doktorarbeit auswählen. Die Finanzierung
meiner Untersuchung erfolgt über meine 50 %-Anstellung im Institut für Systemische
Neurowissenschaften und über Drittmittel.
Würden Sie manchmal gerne wieder mehr als 5 Wochenstunden „am Patienten” arbeiten?
Der Praxisbetrieb fehlt mir eigentlich nicht, vor allem nicht der 20-Minuten-Takt.
Aber den Kontakt zu Patienten möchte ich auf jeden Fall behalten. Ich wünsche mir
sogar, in Zukunft sehr patientennah zu forschen, physiotherapeutische Untersuchungs-
und Behandlungsansätze unter die Lupe zu nehmen, sie entsprechend der Evidenzlage
anzupassen und Veränderungen als Chance zu begrüßen statt sie – wie so oft erlebt
– abzulehnen.
Was haben Sie nach der Doktorarbeit vor?
Wenn Geld keine Rolle spielen würde, würde ich gerne weiterhin physiotherapeutische
bzw. interdisziplinäre Forschungsprojekte durchführen. Chronische Schmerzen und deren
Verarbeitung würden dabei sicher im Mittelpunkt stehen. Natürlich locken Großbritannien
oder Australien, weil Physiotherapeuten in der Forschung dort viel etablierter sind.
Aber dank der Familie bin ich bodenständiger geworden – und Hamburg ist doch auch
ganz schön!