Auch im Krankenhaus lässt sich der Ärztemangel nicht mehr verleugnen. Das Gutachten
des Deutschen Krankenhausinstituts e. V. (DKI) "Ärztemangel im Krankenhaus" prognostiziert
für das Jahr 2019, dass mehr als 37 000 Ärzte fehlen. Die meisten davon in den Kliniken,
fürchtet Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG).
Wenn die Prognose eintritt, hätte das deutsche Gesundheitswesen ein massives Versorgungsproblem.
Schon jetzt können laut DKI-Studie 5500 Arztstellen in deutschen Kliniken nicht besetzt
werden - Tendenz steigend.
Zwar ist die Zahl der hauptamtlichen Krankenhausärzte von 2000 bis 2008 um 25 % auf
139 300 Ärzte gestiegen, aber für die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) steht
das nicht im Widerspruch zu dem zu beobachtenden Ärztemangel im Krankenhaus. Der Anstieg
sei ein eher theoretischer Wert: basierend auf statistischen Effekten wie die Zunahme
ärztlicher Teilzeitkräfte (+12 200), die Abschaffung des Arztes im Praktikum und eine
damit verbundenen Änderung in der amtlichen Statistik (+10 370). Darüber hinaus wirken
sich auch die Arbeitszeitverkürzungen des neuen Arbeitszeitrechts auf die stationäre
Versorgung aus.
Status quo des Ärztemangels
Status quo des Ärztemangels
Realität ist, dass sich die Zahl der Allgemeinkrankenhäuser, die Probleme mit der
Besetzung ärztlicher Stellen haben, von 2006 bis 2009 fast verdreifacht hat. Hatten
2006 nur 28 % der Häuser Probleme, waren es 2009 schon 80 %. Anfang 2010 konnten rund
drei Viertel der Krankenhäuser (74,2 %) ihre offenen Stellen nicht mehr besetzen.
Hochgerechnet fehlen bundesweit 5500 Vollkraftstellen; das sind im Mittel 3,6 Stellen
des ärztlichen Dienstes, die durchschnittlich rund 3 Monate vakant sind (Abb. [1]).
Abb. 1 Nicht besetzte Stellen im Ärztlichen Dienst nach Krankenhausgröße - Krankenhäuser
mit Stellenbesetzungsproblemen [1].
Vor diesem Hintergrund hatte die DKG das Deutsche Krankenhausinstitut (DKI) mit einer
empirischen Studie zur aktuellen und künftigen Situation im Ärztlichen Dienst der
Krankenhäuser beauftragt. Die Studie basiert auf 2 Forschungsmodulen: eine schriftliche
Repräsentativbefragung von insgesamt 450 Krankenhäusern sowie Sekundäranalysen der
amtlichen Krankenhausstatistik des Statistischen Bundesamtes bzw. der Ärztestatistik
der Bundesärztekammer. Analysiert wurde der Ärztemangel bzw. -bedarf nach typischen
Merkmalen wie Krankenhausgröße, Trägerschaft, regionaler Lage etc. und Arztmerkmalen
wie Fachgebiet und funktionale Stellung. Demnach sind vor allem kleinere Krankenhäuser
bis 300 Betten (6,3 % offene Stellen bundesweit), Psychiatrien (7,1 %) und Krankenhäuser
in ländlichen Räumen (5,0 %) betroffen. In Universitätskliniken (1,8 %) und bei Krankenhäusern
in privater Trägerschaft (3,1 %) ist der Ärztemangel dagegen eher unterdurchschnittlich.
Auch bei der regionalen Verteilung gibt es deutliche Unterschiede: In Bayern (3,3
%) und Baden-Württemberg (3,6 %) fällt er etwas niedriger aus als im übrigen Bundesgebiet.
Überproportional fällt der Ärztemangel bei den Assistenzärzten aus. 4,8 % der Assistenzarztstellen
mit oder in der Weiterbildung können derzeit nicht besetzt werden. Dagegen blieben
von den Oberarztstellen nur 3,3 % vakant, bei den Chefärzten lediglich 1,0 %. Nach
Fachgebieten aufgeteilt, sind vor allem die Psychiatrie mit 5,9 % und die Innere Medizin
mit 5,6 % überdurchschnittlich vom Ärztemangel betroffen.
Ursachen und Wirkung
Ursachen und Wirkung
Als Hauptübel macht die Studie die Novellierung des Arbeitszeitrechts aus dem Jahre
2004 aus. Die gesetzliche Pflicht, bisherige inaktive Bereitschaftsdienstzeiten als
Arbeitszeit anzuerkennen, führte zu einem erheblichen Mehrbedarf an ärztlichem Personal.
Die hohe Schwundquote vom ersten Fachsemester des Medizinstudiums bis zum Beginn der
Weiterbildung im Krankenhaus und die zunehmende Abwanderung von Ärzten ins Ausland
sind weitere Ursachen. Von 2000 bis 2008 sind rund 19 300 Ärzte aus Deutschland abgewandert,
aber nur rund 13 900 Ärzte zugewandert. Die Motive sind bekannt: hohe Arbeitsbelastungen,
lange Arbeitszeiten sowie mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie bzw. Privatleben.
Auch der zunehmende Frauenanteil unter Medizinstudenten und Ärzten begünstigt den
Ärztemangel. Bei weiblichen Ärzten ist die Teilzeitquote höher; außerdem sind Frauen
mehr an geregelten Arbeitszeiten oder einer längeren Elternzeit interessiert als Männer.
Prognose
Prognose
Maßgeblich für die Entwicklung der Arztzahlen bis 2019 sind der Ersatzbedarf für die
Ärzte, die wegen Abwanderung und Verrentung aus der Versorgung ausscheiden, der Mehrbedarf
an zusätzlichen Ärzten aufgrund steigender Fallzahlen und Teilzeitquoten sowie der
erwartete Zugang neuer Ärzte. Die Studie kommt auf einen Ersatzbedarf bis 2019 von
108 260 Ärzten, der sich aus der altersbedingten Berufsaufgabe von 18 940 Krankenhausärzten
bzw. 51 800 Vertragsärzten errechnet. Weitere Faktoren sind Abwanderungen von 11 330
Ärzten ins Ausland sowie altersbedingte Berufsaufgaben von Ärzten in sonstigen ambulanten
Tätigkeiten (9990 Ärzte), in Rehabilitationseinrichtungen (1300 Ärzte), bei Behörden,
Körperschaften und andere Bereichen (14 900 Ärzte) (Tab. [1]). Der Mehrbedarf an Ärzten bis 2019 liegt bei knapp 31 000 Ärzten (Tab. [2]). Aktuell fehlen 6000 Krankenhausärzte (Beschäftigte oder "Köpfe", das entspricht
5500 Vollkraftstellen) und 3600 Nachfolger für vakante Vertragsarztsitze. Darüber
hinaus fehlen infolge Demografie bedingter Fallzahlsteigerungen in den verschiedenen
Versorgungssektoren 10 640 Ärzte sowie durch die Steigerung der Teilzeitquoten weitere
11 190 Ärzte.
Tab. 1 Ersatzbedarf an Ärzten bis 2019 [1].
Tab. 2 Mehrbedarf an Ärzten bis 2019 [1].
Der Zugang neuer Ärzte hängt von der Zahl der Studienabsolventen ab. Je nach Schwundquote
im Medizinstudium liegt diese bis 2019 bestenfalls bei 145 320 (Drop-out 0 %) und
schlimmstenfalls bei 79 930 Neuzugängen (Drop-out 45 %). Gemäß der aktuellen Drop-out-Rate
von rund 30 % sind 101 720 Neuzugänge an Ärzten zu erwarten (Status-Quo-Szenario).
Aufgrund des errechneten Mehrbedarfs von 31 000 Ärzten und des Ersatzbedarfs von 108
000 Ärzten kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass das System zur Bedarfsdeckung bis
zum Jahr 2019 einen Zugang von 139 000 Ärzten benötigt. Geht man von der realistischsten
Schwundquote von 30 % aus, würden etwa 37 400 Ärzte fehlen.
Gegenmaßnahmen zum Ärztemangel
Gegenmaßnahmen zum Ärztemangel
Viele Krankenhäuser setzen bei der Bekämpfung des Ärztemangels auf finanzielle Anreize
wie die Unterstützung von Fortbildungen und Kongressen, außer- oder übertarifliche
Bezahlungen, Leistungsprämien, Boni oder die Vorweggewährung von Aufstiegsstufen.
Mehr als 60 % der Krankenhäuser beauftragen bereits Personalagenturen zur Arztsuche
bzw. beschäftigen sog. Honorarärzte. Darüber hinaus akquirieren 39 % der Häuser gezielt
Ärzte im Ausland; ein Viertel der Einrichtungen beschäftigt zeitlich befristet Vertragsärzte.
Familienfreundliche Arbeitsbedingungen bieten 19 % der Krankenhäuser mit betrieblichen
Belegplätzen in Kinderbetreuungseinrichtungen der Umgebung an; 15 % halten betriebseigene
Betreuungseinrichtungen vor.
Handlungsempfehlungen
Handlungsempfehlungen
Das Gutachten kommt zu dem Schluss, dass der Abbau der Versorgungsgrenzen zwischen
dem ambulanten und stationären Sektor die knappen ärztlichen Ressourcen zwischen den
Sektoren effizienter verteilen werde. Dafür müssten Krankenhaus- oder Institutsambulanzen
für die ambulante Versorgung geöffnet werden. Im Gegenzug sollten aber auch freiberufliche
Fachärzte stärker als bislang an der Patientenversorgung im Krankenhaus mitwirken
können.
Unumgänglich sei die Delegation ärztlicher Tätigkeiten, die zur Entlastung der Ärzte
an andere Gesundheitsberufe oder an neue Berufsgruppen delegiert werden könnten. Auch
eine Entbürokratisierung wird als Gegenmaßnahme gesehen. Die fortwährende Ausweitung
von Dokumentationsanforderungen durch Politik, Selbstverwaltung, Kostenträger und
MDK müsse gestoppt werden. Krankenhäuser könnten durch Standardisierung und Delegation
der Dokumentation sowie innovative technische Lösungen zur Reduktion des Dokumentationsaufwandes
im Ärztlichen Dienst beitragen.
In der mitarbeiterorientierten Weiterbildung, wie Tutoren- oder Mentorensystemen,
standardisierten Weiterbildungsplänen, regelmäßigen Weiterbildungsgesprächen oder
der festen Zusage der Einhaltung vorgesehener Weiterbildungszeiten sieht die Studie
geeignete Instrumente und empfiehlt die Weiterbildungsordnungen auf Straffungs- und
Verschlankungspotenziale zu überprüfen. Familienfreundliche Arbeitsbedingungen, wie
bedarfsgerechte betriebliche Kinderbetreuung, flexible Arbeitszeiten und Wiedereinstiegsprogramme
während der Elternzeit, werden als wesentlicher Standort- und Wettbewerbsfaktor gesehen.
Letztlich sei der Ärztemangel im Krankenhaus ein Problem, das trotz aller krankenhausseitigen
Verbesserungsmöglichkeiten in hohem Maße durch den Mangel an verfügbaren Fachkräften
bedingt sei. Mittelbar müsse der Ersatz- und Mehrbedarf an Ärzten komplett über den
Krankenhausbereich gedeckt werden, weil die Neuzugänge hier ihre Weiterbildung absolvieren.
Gelingt es nicht, die hohe Abbrecherquote während des Medizinstudiums und in der Übergangsphase
zwischen Studium und Aufnahme der ärztlichen Tätigkeit zu senken, würden die Krankenhäuser
am frühesten und drastischsten der Mangel an ärztlichem Nachwuchs zu spüren bekommen.
Anne Marie Feldkamp, Bochum