Pro
Vor nicht sehr langer Zeit wurde mir von diesem Organ bereits Gelegenheit gegeben,
als Agnostiker in Erscheinung zu treten [1]. Dies ist nota bene eine Aufgabe, die in krassem Widerspruch zum Rollenmodell eines Medizinprofessors
steht und ich habe sie dennoch mutig geschultert, nur um von einem rhetorisch raffinierten
und mit vielen Referenzen bewaffneten Akademiker klassischer Prägung intellektuell
gedemütigt zu werden. Was veranlasst mich – außer Martin Hambrecht – erneut eine schier
aussichtslose Position zu vertreten, wo doch die neuropsychiatrische Welt ihren Stolz
darein setzt, Litaneien von Diagnosen herunterzubeten, um mit funkelnden Erkenntnisschätzen
zu brillieren? Schließlich widerspreche ich mir selbst, da ich an vielen anderen Stellen
die Seiten schwärze und die Stunden fülle mit den Konzepten von Alzheimer, Lewy-Körperchen,
frontotemporalen, posterioren usw. Demenzen. Das lässt sich alles wunderbar durchdeklinieren
und in dem Moment, da ein Begriff gefallen ist, steht er auch schon so in der Welt,
als würde er eine wichtige Sache repräsentieren – realiter handelt es sich aber halt
nur um eine solche verbalisierte Vorstellung von der Welt, ein Flatus vocis der oft
in die Irre leitet. Aber das Problem ist uns seit dem Universalienstreit gut vertraut.
So jetzt aber die wichtigsten Argumente für die Wiedervereinigung der Demenzen aus
allen Territorien beteiligter Disziplinen:
Historisch: es hat lange genug gedauert, bis die Demenz-Welt für wissenschaftliche Zwecke (z. B.
Diagnose, Therapie, Grundlagenforschung, …) hinreichend vereinfacht war. Vorher tummelten
sich Presbyophrenie, Greisenblödsinn, Amentia u. v. a. immer im Verbund mit etwas
frühreifen Annahmen über die wahren Ursachen der jeweils von den mit seherischen Kräften
begabten Lehrstuhlinhaber in den Vordergrund gerückten Symptome. Besonders bemerkenswert,
dass gerade der legendäre Splitter Kraepelin wesentlich dazu beigetragen hat. Der
kleine gemeinsame Nenner der Demenz ist tatsächlich ein sehr kleiner, ein Verlust
der geistigen Leistungsfähigkeit von solcher Schwere, dass die Alltagsbewältigung
beeinträchtigt wird.
Logisch: entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem [2]. Die Welt ist schon kompliziert genug; auf wissenschaftliche Angeber und auf Chaoten
die noch zur Entropie beitragen muss in Zeiten des Klimawandels verzichtet werden.
Leute, die nicht klar zwischen klinisch deskriptivem Merkmalen (Demenz), Lokalisation,
und anderen biologischen Parametern differenzieren können und deren Engstirnigkeit
zu hausgemachten Problemen führt, braucht man nicht länger zuhören.
Etymo-logisch: die Demenz ist ein klinisches Syndrom. Genauer – die Demenz ist EIN klinisches Syndrom.
Da „läuft etwas zusammen“ (griech. „syn“ zusammen, und „dromos“ Lauf). Man kann also
in den gängigen Klassifikationssystemen nachschauen, was alles dazugehört und das
ist dann das EINE Demenzsyndrom.
Psycho-logisch: bedeutet die Diagnose einer „A“-Demenz (z. B. „Alzheimer Demenz“), dass der Patient
keine „B“-Demenz hat (z. B. „Boxer-Demenz“) [3] und darunter wird dann nicht nur der klinische Phänotyp, sondern gleich die Krankheit,
die Ursache verstanden. Das ist der große Irrtum zum Nachteil vieler Patienten (bei
denen zumeist recht vielfältige Ursachen recht vielgestaltige Hirnveränderungen mit
insgesamt recht buntem Ergebnis in ein- und derselben Person hervorbringen).
Epidemio-logisch: Hauptrisikofaktor für die Mehrzahl der „Fälle“ ist das Alter; daneben gibt es eine
Reihe von Risiko- und Schutzfaktoren, die von Bildung und Beruf bis zu Sport, Diät
und den großen Volkskrankheiten Depression, Hypertonie, Hypercholesterinämie, Diabetes
mellitus u. v. a. reichen – ohne Ansehen der Demenzform [4]
[5].
Pragmatisch: ebenso wie man diese Risikofaktoren präventiv beeinflussen kann um neurodegenerativen,
vaskulären und anderen Hirnveränderungen Paroli zu bieten, kann man auch den meisten
alten dementen Patienten mit mehr als einer Pathologie durch den Einsatz von verträglichen
Medikamenten symptomatisch helfen, die sich bei der ein oder anderen prototypischen
Demenzform bewährt haben [4]
[5]. Schon schade, dass heute den meisten dementen Patienten die Therapien gegen Alzheimer
vorenthalten bleiben, nur weil sie z. B. zusätzlich ein paar vaskuläre Problemchen
haben.
Neuropatho-logisch: auch die eingefleischten Sezierer und Sektierer beugen sich neuerdings der Wahrheit,
die ihnen aus dem Mikroskop entgegenleuchtet: wie zu Alzheimer’s Zeiten ist es schwer,
den Wald vor lauter Bäumen zu sehen, so dicht und verwickelt sind die Veränderungen,
die sich in den Gehirnen alter Menschen finden – bei den dementen ein wenig mehr als
bei den noch nicht dementen. Fast alle weisen nicht nur eine Art der neurodegenerativen,
vaskulären, entzündlichen, traumatischen usw. Hirnveränderungen auf [6].
Radio-logisch etc.: dadurch hat ja die Pathologie gerade ihr diktatorisches Privileg verloren und ist
eher bereit nochmals genauer hinzusehen. Bereits zu Lebzeiten eines Menschen lässt
sich immer besser erkennen, wie viele Läuse, Flöhe und andere Parasiten an seiner
Substanz zehren. Und viele zeigen demenzrelevante Befunde: Amyloidablagerungen [7], funktionelle Hirnveränderungen [8], veränderte Rezeptorbindungen, oft sogar eine Schrumpfung und kleine Löcher im Zentralorgan.
Molekularbio-logisch: manche Marker lassen sich lange im Liquor bestimmen ehe die Leistung nachlässt und
auch der vermeintlich typische ältere Schlaganfallpatient mit einer Demenz leidet
labormedizinisch zusätzlich unter Alzheimer [9]. Die Genetik lasse ich hier mal ganz beiseite.
Thanato-logisch: ist die klinische Endstrecke bei vielen zugrunde liegenden Erkrankungen gleich [10], aber natürlich sollte man das Pferd nicht von hinten her aufzäumen.
Diplomatisch: zugegeben (a) es gibt bei jüngeren Patienten prototypisch reine Erkrankungen, die
ausnahmsweise auch einmal zu einer raren Demenzform führen können; (b) letztlich können
einige 100 zerebrale und somatische Erkrankungen eine Demenz verursachen und dies
prinzipiell ohne Alzheimer plus andere neurodegenerative plus vaskuläre plus andere
Hirnveränderungen; das ist aber selten so.
Jetzt noch schnell ein paar gute Gründe weshalb man die Welt mit offenen Augen ansehen
und die wichtigen Probleme nicht voreilig in ein paar Schubladen verräumen sollte,
solange man noch gar nicht die ausreichenden Kenntnisse hat, um diese vernünftig zu
etikettieren:
Reiner „Alzheimer“, rein vaskuläre Demenzen sind im Alter selten. Was nützen also
Erkenntnisse, die an handverlesenen Stichproben gewonnen wurden, der weit überwiegenden
Mehrheit der Patienten. Oder wird da sowieso ein wenig geschummelt, ganz so wie es
die Studie erfordert? Hatten die Patienten mit der „wahrscheinlichen primär degenerativen
Alzheimerdemenz“ doch ein paar vaskuläre Stippchen im Kopf, die geflissentlich unterschlagen
wurden?
Meinetwegen möge man den flapsigen klinischen Jargon mit Alzheimer (als Demenzform!),
subkortikale arteriosklerotische – bzw. jetzt sehr viel verbessert: – vaskuläre kognitive
Störung, semantische Demenz, alpha-Synukleopathie usw. undiszipliniert zwischen Eponym,
Symptomatik, Lokalisation, Ätiologie, Genetik usw. mäandernd beibehalten. Für eine
einheitliche und saubere dimensionale Dokumentation der Befunde auf den unterschiedlichen
Untersuchungsebenen müsste man sich mehr Mühe geben.
Kontra
Muss man aufgrund neuerer wissenschaftlicher Untersuchungsergebnisse die gesonderte
Betrachtung von Alzheimerdemenz (AD) und vaskulärer Demenz (VaD) zugunsten einer gemischten
bzw. einheitlichen Demenzform aufgeben? Sollte man dann vielleicht nur noch eine seltene,
„reine“ AD und eine seltene, „reine“ VaD an den Spektrumspolen gelten lassen?
Sicherlich würde man damit einigen wichtigen Erkenntnissen der letzten Jahre auf diesem
Gebiet nachkommen. Beide Demenzformen, AD wie VaD, haben z. B. wichtige Risikofaktoren
gemeinsam, weisen in autoptischen Untersuchungen Alzheimerpathologie wie vaskuläre
Schädigungen auf oder können mit Interventionen wie Ernährungsanpassung oder physischer
Ausdauerbildung in ähnlicher Weise präventiv und therapeutisch günstig beeinflusst
werden.
So wichtig auch zukünftig die Aufklärung von Faktoren sein mag, die auf beide Demenzformen
gleichermaßen einwirken bzw. sie kennzeichnen, so notwendig bleibt die Beachtung und
zukünftige Erforschung der spezifischen Merkmale für AD und VaD. Diese spezifischen
Merkmale finden wir in vielen, beide Krankheiten betreffenden Bereichen. Von ihnen
soll im Folgenden, bezogen auf Früherkennung, klinische Kennzeichen und therapeutische
Strategien, die Rede sein.
Früherkennung und klinische Kennzeichen
In der Früherkennung von AD und VaD stehen nicht gemeinsame, sondern unterschiedliche
Kriterien im Mittelpunkt. Für die AD sind es das typischerweise mit der verbalen Abrufstörung
als ausschlaggebender Symptomlast gekennzeichnete „Mild Cognitive Impairment (MCI;
amnestic MCI)“, die spezifische Konstellation von Liquorparametern (erhöhtes Gesamt-tau
und phospho-tau, erniedrigtes Abeta1–42-Protein) und eine mesiotemporal betonte Hirnvolumenminderung
im kranialen Kernspintomogramm („Hippokampusatrophie“). Bei Zugrundelegung dieser
Merkmale wird für die spätere Manifestation der AD eine positive Prädiktion von über
80 % erzielt [11]
[12]. Zerebrovaskuläre Zeichen oder Symptome sind für diese Trefferrate nicht von Belang.
Die Früherkennung der VaD stellt den Untersucher vor ein ungleich vielfältigeres Bild.
Zunächst ist das Symptombild des Konzeptes des „Vascular Cognitive Impairment (VCI)“
[13]
[14] abhängig von Ort, Ausmaß und Schwere der vaskulären Schädigung; meist sind die prädemenziellen
Symptomstadien von exekutiven Funktionseinbußen gekennzeichnet, die weniger rasch
klinisch, gleichwohl neuropsychologisch früh nachweisbar sind [15]. Zusätzliche Symptommanifestationen werden durch das im Einzelfall vorliegende Krankheitsereignis
bestimmt: Territorial-, multiple embolische, hämodynamische oder strategische Infarkte
oder mikroangiopathische Läsionsmuster. Erst der differenzierende, nicht der reduzierende
diagnostische Zugang, insbesondere in den Bereichen Neuropsychologie und apparative
Diagnostik, wird der Komplexität des hier vorliegenden Krankheitsgeschehens gerecht.
Darüber hinaus erfordert der unterschiedliche Symptomverlauf von MCI bei AD und VCI
bei VaD eine getrennte Betrachtung und Prognoseformulierung. Je nach verursachender
vaskulärer Schädigung sind deutlich günstigere Symptomverläufe unter Therapie zu erwarten,
als dies für das im Vorfeld der AD auftretende amnestische MCI mit typischem Biomarkerprofil
der Fall wäre. Selbst wenn in der Literatur darüber berichtet wird, dass auch bei
klinisch diagnostischen VaD-Fällen alzheimerähnliche Proteinmuster im Liquor gefunden
wurden [16], so handelt es sich keineswegs um eine konsistente Datenlage und hat daher auch
keinen Zugang in diagnostische Leitlinien für die VaD erhalten.
Was die Besonderheit der Krankheitsverläufe im vaskulären Bereich gegenüber den Verläufen
bei AD anbetrifft, ist auch auf die sogenannte „post stroke dementia“ zu verweisen
[17]. Die Tatsache, dass ein zerebrales Insultrezidiv wesentlich die unmittelbar folgende
Manifestationsrate einer Demenz bestimmt, belegt die Verursachung dieser Demenzform
durch zerebrovaskuläre Schädigung, nicht etwa durch degenerative Mechanismen.
Therapie
Die aktuellen therapeutischen Strategien zur zukünftigen Symptom- und Krankheitsbeeinflussung
der AD sind eng assoziiert mit den Folgen des spezifischen neurodegenerativen Schädigungsprozesses.
Zerebrovaskuläre Beeinträchtigungen sind nach heutiger Auffassung für eine frühzeitige
Therapie der AD kein vielversprechendes Ziel, da deren Relevanz für den Krankheitszustand
des Betroffenen niedriger zu bewerten ist als die möglichen Restitutionsoptionen im
neurodegenerativen Bereich. Die Zukunft der AD-Therapie ist neurodegenerativ bezogen;
sie spielt sich – abseits vaskulärer Prozesse – auf den Feldern der Amyloidauflösung
und mehr und mehr auch der Fibrillenbeseitigung ab. Sie soll bestmöglich zu einem
Zeitpunkt einsetzen, zu dem Symptomatik noch fehlt oder allenfalls sehr diskret vorhanden
ist, die Biomarkerkonstellation aber bereits wegweisend ist [18].
Problematik der Assoziation von Neuropathologie und klinischer Symptomatik
Ein weiterer Aspekt zeigt die grundsätzliche Problematik in der Bewertung einer Assoziation
zwischen neuropathologischen (degenerativen und vaskulären) Veränderungen und kognitiver
Symptomatik bei höherem Lebensalter. Durch autoptische Untersuchungen diagnostizierte
Fälle mit sowohl zerebrovaskulären als auch alzheimertypischen neuropathologischen
Veränderungen wiesen zu Lebzeiten zwar überwiegend eine dazu passende Demenzsymptomatik
auf; gleichwohl bestand bei rund einem Drittel der untersuchten, zum Todeszeitpunkt
mindestens 70 Jahre alten Personen unmittelbar vor dem Tode kein Hinweis auf eine
Demenz [19]. Dies weist über die hier geführte Debatte hinaus auf das Problem der Relevanz neuropathologischer
Veränderungen für kognitive Leistungseinbußen hin und ebenso auf die Frage, welche
für das Auftreten einer kognitiven Symptomatik notwendigen zusätzlichen Faktoren zukünftig
aufgeklärt werden müssen, um die Verknüpfung von neuropathologischen und kognitiven
Auffälligkeiten zutreffend verstehen zu können.
Schlussbemerkung
Selbst wenn die Gehirne von AD-Fällen, vor allem im höheren Lebensalter, sehr häufig
neben den neurodegenerativen auch vaskuläre, zumeist mikroangiopathische Schädigungen
aufweisen [19] und damit nahegelegt wird, für ein zutreffendes Krankheitsverständnis seien Neurodegeneration
und Gefäßschädigung notwendigerweise gemeinsam zu betrachten, so überzeugen dennoch
der erforderliche differenzierende diagnostische Zugang in der Früherkennung, die
Spezifität biologischer Marker, die Heterogeneität vaskulärer Schädigungsursachen
und die unterschiedlichen, nur teilweise überlappenden therapeutischen Strategien
davon, AD und VaD getrennt voneinander zu halten.