Pro
Berlin verfügt über ein recht gut ausgebautes Netz an gemeindepsychiatrischen Einrichtungen
in der Eingliederungshilfe (EinglH, SGB XII), welches meist ambulant organisiert ist.
Im Jahr 2010 wurden ca. 6000 Menschen durch die Dienste des BEW, der Wohngemeinschaften,
Beschäftigungstagesstätten und 6 stationäre Einrichtungen versorgt. Das Hilfesystem
ist streng regionalisiert: Hilfeplankonferenzen und vor allem Steuerungsgremien sorgen
für Hilfen in den Bezirken, in denen die KlientInnen wohnen. „Geschlossene“ Einrichtungen
der EinglH gibt es in Berlin nicht, allerdings eine Reihe von Pflegeeinrichtungen,
die über geschlossene Bereiche verfügen.
Eine vom Senat durchgeführte Untersuchung ergab, dass im ersten Halbjahr 2010 mindestens
8 Menschen in stationären Einrichtungen der EinglH außerhalb von Berlin geschlossen,
d. h. nach § 1906 BGB, untergebracht worden sind, alle an den regionalen Steuerungsgremien
vorbei. Nicht bekannt ist nach wie vor, wie viele Menschen in den letzten Jahren außerhalb
untergebracht worden sind. Nicht bekannt ist auch, wie viele Menschen als pflegebedürftig
i. S. SGB XI „umetikettiert“ wurden und geschlossen in entsprechende Einrichtungen
in und außerhalb von Berlin untergebracht worden sind.
Um diesem Problem zu begegnen, ist in Berlin eine Initiative entstanden, deren Ziel
es ist, innerhalb von Berlin regionalisierte Einrichtungen zu etablieren, die es ermöglichen
sollen, für die von einem Unterbringungsbeschluss betroffenen Menschen eine Möglichkeit
der Hilfe zu bieten, die zwar nicht die Unterbringung verhindert, aber ein regional
vernetztes Angebot der vergleichsweise gut ausgestatteten EinglH zu ermöglichen –
stationär. Hintergrund dieser Überlegungen ist, die regionale Pflichtversorgung auch
dieser Personengruppe zu erschließen.
Frick u. Frick [1] benennen unterschiedliche Perspektiven, sich dem Problem zu nähern:
Eine biomedizinische Perspektive stellt die Eigenschaften und Verhaltensweisen (Symptome) der Menschen in den Vordergrund,
die sich z. T. so extrem manifestiere, sodass sich eine relevante Selbstgefährdung
als Grund für eine geschlossene Unterbringung rechtfertigen kann. Es handelt sich
hierbei um Menschen mit schwersten multimorbiden und langanhaltenden Störungen mit
rezidivierenden Verläufen, die eine lange und wechselvolle institutionelle Karriere
nach sich gezogen hat. Hinsichtlich ihrer Aktivitäten und Teilhabefähigkeiten haben
sie äußerst starke Einschränkungen, wie z. B. bei der Selbst- und / oder Fremdwahrnehmung,
der Organisation ihrer Selbstsorge, bei der Strukturierung ihrer Zeit und die Entwicklung
von (Lebens-)Perspektiven. Sie sind selbstaggressiv, was dauerhaft akute Suizidalität
bedeuten kann aber auch exzessiver Drogenkonsum oder Vernachlässigung des eigenen
Körpers. Oder sie haben eine kaum vorhandene Impulskontrolle, was sich in verbalen
oder körperlichen Attacken, in übergriffigem, angstauslösendem oder aktiv störendem
Verhalten – auch mit sexuellen Inhalten – äußert [2].
Eine Public-Health-Perspektive stellt eher das Hilfesystem in den Vordergrund. Gemeindepsychiatrische Hilfesysteme
sind nicht in der Lage, diesen Menschen die angemessen Hilfen zukommen zu lassen.
Die Gründe hierfür können vielfältig sein und miteinander verwoben. So z. B. eine
mangelnde Ressourcenausstattung (Raum, Zeit, Geld), ein fehlendes angemessenes therapeutisches
Milieu oder auch Eingangsschwellen (z. B. Programm, vorausgesetzte Motivation, „Gruppenfähigkeit“)
sowie fehlende therapeutische Strategien. Eine Vielzahl von Einrichtungen in Berlin
sind – nach meiner Einschätzung – aus unterschiedlichen genannten Gründen nicht in
der Lage, mit dem Problem und den Menschen umzugehen.
Eine juristische Perspektive thematisiert die Leistungszuständigkeit. Es stellt sich die Frage, ob z. B. wg. „langanhaltender
akuter Behandlungsbedürftigkeit“ die GKV im Rahmen einer Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit
zuständig wären (inkl. Psych KG), oder ob es sich um „medizinische Rehabilitation“
(SGB V, VI) handeln könnte, oder ob es sich tatsächlich um eine Leistung der EinglH
handelt oder gar der Pflege (SGB XI). Jedoch ist es für Krankenhäuser äußerst schwer,
die o. g. Menschen zu versorgen, da sie unter einem enormen Druck der Reduzierung
von Verweildauern leiden und die GKV sich für die o. g. Zielgruppe nicht zuständig
wähnt. Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation (RPK) gibt es in Berlin nicht.
Einrichtungen der Pflege erscheinen unter Teilhabeaspekten inadäquat.
In dieser Trias der Perspektiven stellt sich das Problem in Berlin – verkürzt – wie
folgt: Es gibt Menschen, die aufgrund ihrer Problemlagen und Verhaltensweisen aus
ethischen Gründen einer Grenzen setzenden, mithin geschlossenen Unterbringung, fakultativ,
bedürfen. Gemeindepsychiatrische Einrichtungen sind zurzeit nicht in der Lage, mit
diesen Menschen umzugehen. Sozialrechtliche Interpretationen der Sozialversicherungsträger
verhindern eine angemessene Versorgung im Rahmen von Krankenhausversorgung bzw. medizinischer
Rehabilitation. Pflegeeinrichtungen erscheinen nicht geeignet.
Die Perspektive ist, unter den gegebenen sozialrechtlichen Bedingungen und ihrer Veränderungsmöglichkeiten,
auf den Sozialhilfeträger zu rekurrieren. Aber auch hier gibt es Folgen: Sofern geschlossene
Einrichtungen in Hilfesystemen etabliert werden, könnte ein Sog entstehen, dass es
nicht nur vereinzelte Einrichtungen gibt, sondern dass ein Markt von Einrichtungen
entsteht und sich die regelhaften gemeindepsychiatrischen Einrichtungen und Dienste
schwieriger Klienten entledigen. Eine Ghettoisierung der „Letzten“ (Dörner) wäre die
Folge, mithin eine Erodierung der regionalen Versorgungsverpflichtung.
Ein „Weiter so“, wie bisher hätte weiter zur Folge, dass eine Vielzahl von Menschen
in gemeindeferne Einrichtungen abgeschoben wird – und dort bleibt. Je nachdem, wie
man sich entscheidet, scheint mir eine „Loose-Loose-Situation“ vorzuliegen. Hinsichtlich
der Menschen, die eine große Herausforderung an therapeutische Hilfen und Hilfesysteme
sind, scheint es keine Gewinner geben zu können.
Trotz dieses Dilemmas wird im Folgenden versucht, eine „geschlossene Unterbringung“
zu konzipieren – als eine stationäre Einrichtung der EinglH und als eine „Wunschliste“:
-
Eine stationäre Einrichtung deshalb, weil hier die „institutionellen Bedingungen“
vorliegen für die Sorge basaler Bedürfnisse (i. S. Maslow) sowie eines „Milieus“ sorgen
zu können.
-
Sie muss über eine paradoxe Zielstellung verfügen in dem Sinne, dass in ihrer Konzeption
die Trias von Problembereichen der Menschen, der „Hilflosigkeit des Hilfesystems“
und der Endlichkeit therapeutischer Möglichkeiten zum Ausdruck kommen. Hier spielt
eine ethisch motivierte Grundhaltung eine große Rolle.
-
Sie muss eine extrem personenzentrierte, gemeindeorientierte und offene Konzeption
haben. Personenzentriert in dem Sinne, dass auch „Planlosigkeit“ des Klienten zum
Programm gemacht werden kann. Gemeindeorientiert in dem Sinne, das viele „rein“ dürfen
aber (fakultativ) der Bewohner nicht immer „raus“ darf. Offen in dem Sinne, dass es
kein therapeutisches Programm“ gibt, das jeder absolvieren muss. Antiinstitutionalisierung
muss institutionalisiert werden.
-
Grenzen werden nur dann gesetzt, wenn es dem Schutz des Bewohners dient. Dies betrifft
insbesondere suizidales Verhalten, den möglichen Folgen eigenaggressiven oder fremdaggressiven
Verhaltens sowie den Folgen eigener extremer Vernachlässigung.
-
Sie muss extrem therapeutisch sein im Sinne einer sehr sensiblen, emphatischen, jedoch
unstrukturierten individuellen, Lebensfeld orientierten Begleitung und Motivierung
zur Inanspruchnahme offener Hilfen.
-
Sie muss über ein System von „Paten“ aus zuweisenden Einrichtungen und Diensten verfügen
können. Dies mit dem Zweck, dass keiner aus dem gemeindepsychiatrischen Hilfesystem
sich seiner Verantwortung entziehen kann (Kontinuität). Darüber hinaus sind informelle
Hilfesysteme (Familie, Angehörige) aktiv einzubeziehen.
-
Es muss eine öffentliche Kontrolle von derartigen Einrichtungen etabliert werden.
Am besten wären „Trialogische Beiräte“ mit Aufsichtsfunktion
-
Es dürfen nur kurze Unterbringungsbeschlüsse ausgesprochen werden, für die eine Überprüfung
inkl. eines Votums von Beiräten vorgesehen ist.
Gibt es Alternativen? Ja!
Angesichts der UN-BRK- und BVerfG-Rechtsprechung sowie den damit verbundenen Diskussionen
um Zwangsunterbringung und -medikation könnte sich das Thema erledigen. „Inklusion“
und „Selbstbestimmung“ darf jedoch nicht dazu führen, dass Menschen sich zu Tode bringen
oder in den Maßregelvollzug bzw. ins Gefängnis „wandern“. Auch eine Unterbringung
in der eigenen Wohnung bzw. einer Wohngemeinschaft käme in Betracht. Hier ist jedoch
zu erwägen, inwieweit ein „Stubenarrest“ eine echte Alternative ist – insbesondere
hinsichtlich einer Milieugestaltung in Wohngemeinschaften. Mir sind keine Konzepte
und Erfahrungen bekannt. Eine Langzeitunterbringung im Krankenhaus (PsychKG) sehe
ich auf absehbare Zeit nicht. Eine Alternative scheint zu sein, dass „geschlossene
Türen“ durch „enge Begleitung“ ersetzt werden. Aber auch dies setzt ein stationäres
Setting voraus.
Der BTG weist durch sein Positionspapier in die richtige Richtung [3]. Er weist auf die Notwendigkeit von Gesetzesänderungen hin, sowie auf erforderliche
Umsetzungsregelungen und Qualitätsstandards im Hilfesystem. Mir scheint erforderlich,
dass Verfahrensregelungen ergänzt werden, die die Einbeziehung regionaler Hilfesysteme
in die Entscheidungen, die Überprüfung und die Berichterstattung und Beaufsichtigung
von Unterbringungsbeschlüssen regeln.
Geschlossene Einrichtungen sind eine unzureichende Lösung des Problems von schwierigen
Menschen, unzureichenden regionalen Hilfesystemen und unzureichenden rechtlichen Regelungen.
Solange noch keine Alternativen gefunden sind, können geschlossene Einrichtungen gewährleisten,
dass auch für untergebrachte KlientInnen Einrichtungen der EinglH mit einer regionalen
Einbindung in Netzstrukturen eine (vorläufige) Antwort auf ein Problem sind, das bisher
nur durch Ausgrenzung geregelt wird. Wenn es derartige Einrichtungen als Teil regionaler
Hilfesysteme gibt, ist das schlecht, wenn es sie nicht gibt, noch schlechter.
Kontra
Es gibt Patienten, die bringen ihre Therapeuten zur Verzweiflung. Allen ihnen zugedachten
Bemühungen zum Trotz verhalten sie sich in einer Weise, die über kurz oder lang eine
erneute Krisenintervention erwarten lässt. Sie kümmern sich nicht um ihre Gesundheit,
auch wenn dies nach allgemeiner Auffassung dringend geboten wäre. Oder sie lassen
ihre Wohnung bis zur Unbewohnbarkeit verwahrlosen und provozieren immer neue Zwangsumzüge,
weil ihre Nachbarn es nicht mehr mit ihnen aushalten. Manche lassen eine Lebensweise
– mit oder ohne Alkohol – erkennen, die derart unstrukturiert ist, dass auch stabilere
Gemüter davon krank würden. Fakt ist: Sie vernachlässigen in einer für sie, aber auch
für ihre Umgebung durchaus nicht harmlosen Weise ihre Selbstsorge, die Sorge um die eigene Gesundheit, die eigene Wohnung, die Erfordernisse des gesellschaftlichen
Zusammenlebens und / oder ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage. Man kann sagen,
ihre Fähigkeit zur Selbstsorge ist unter dem einen oder anderen Aspekt defizitär,
sodass sie dazu Unterstützung – oder wie es in der UN-Behindertenrechtskonvention
heißt: Assistenz – benötigen. Das ist keine neue Erkenntnis: Menschen mit schweren
psychischen Beeinträchtigungen benötigen oft Hilfen zur Alltagsbewältigung. Schon
vor 30 Jahren beschrieben Bauer u. Drees [4] sie als Sozialtherapie. In dem von ihnen dargestellten Beispielfall erwies sich
letztlich die Bestellung einer regelmäßigen Haushalthilfe als Lösung, dank der es
nicht mehr zu den schweren psychotischen Krisen kam, die früher ständig neue, oft
unfreiwillige Klinikaufnahmen zur Folge gehabt hatten.
Doch wo gibt es einen verfügbaren Dienst in der örtlichen psychiatrischen Infrastruktur,
der solches verlässlich leistet und sich nicht auf ausgelesene, weniger schwierige
Fälle beschränkt? Ambulante gemeindepsychiatrische Zentren, die im Rahmen einer Versorgungspflicht
solches – wenn notwendig auch viele Jahre lang – tatsächlich leisten, sind mangels
ausreichender Finanzierung und personeller Ausstattung selten. Die Kassenleistung
Soziotherapie ist vielerorts ein Papiertiger, praktisch oft nicht verfügbar. Soziotherapeuten
berichten, dass allein der zuvor notwendige administrative Aufwand von entsprechenden
Anträgen an den Sozialleistungsträger abschreckt. Betreutes Wohnen ist bundesweit
ein bunter Flickenteppich fachlich kompetenter oder auch mancherorts für schwierige
Fälle weniger befähigter Hilfen zur mobilen Unterstützung. Mancherorts leichter verfügbar
sind rechtliche Betreuer, vom Gesetz her eigentlich nur als Vertreter des Willens
und der Interessen ihrer Klienten gedacht, doch nicht selten auch mehr oder weniger
als Ersatz für fehlende soziotherapeutische Helfer in Anspruch genommen [5]. Da gibt es dann berufsmäßige Betreuer, die über hervorragende Kompetenzen für ihr
als „Zurüstung“ zur Selbstsorge verstandenes Unterstützungsmanagement verfügen [6]. Doch weil die Politik fachliche Qualifikationsnormen für Betreuer verweigert, fällt
anderen Betreuern aufgrund mangelnder Qualifikation in ihrer Hilflosigkeit nicht mehr
ein, als eine u. U. zwangsweise Heimeinweisung zu veranlassen. Der Klient scheint
dann versorgt, und das ohne ein zeitaufwendiges Hilfeplanverfahren.
Die Heimeinweisung stellt immer noch die einfachste Lösung bei Problemen mit Patienten / Klienten
mit wesentlichen Selbstsorgedefiziten dar. Die Idee der Asylierung von Menschen mit
erheblich störendem Verhalten entstand im 18. Jahrhundert und führte in der folgenden
Zeit zur Entstehung psychiatrischer Anstalten [7]. Im Gefolge der Psychiatriereform übernahmen Heime deren mit Fürsorge begründete
Funktion des Asylierens, ohne dass sich an der Situation der Betroffenen zunächst
Wesentliches änderte, wie die Expertenkommission zum Modellprogramm Psychiatrie 1988
festgestellt hat. Inzwischen hat sich in den Heimen einiges gewandelt, manche leisten
– die einen gut und engagiert, aber andere weiterhin skandalös schlecht – die Sorge,
der mancher ihrer Bewohner vielleicht wirklich bedarf, während andere Bewohner dort
verlernen, was sie bisher noch selbst leisten konnten. Denn Heime haben die Gewohnheit,
für alle Bewohner das gleiche einheitliche Sorgepaket zu bieten, ob der einzelne Bewohner
dies alles braucht oder nicht. Dafür muss er lernen, sich der Hausordnung anzupassen.
Für die betroffenen Bewohner bedeutet Heimaufenthalt nicht selten Minderung ihrer
Lebensqualität, Verlust an Selbstbestimmung und je nach Lage des Heims auch Verlust
ihres bisher vielleicht noch tragfähigen sozialen Netzwerks. Da ist es nicht verwunderlich,
dass sich mancher Bewohner in diesen Heimen nur unter Zwang aufhält. Doch das aus
dem 19. Jahrhundert stammende „Heimparadigma“ [8], wonach chronisch psychisch beeinträchtigte Menschen einen Schutzraum in Gestalt
einer u. U. lebenslangen totalen Asylierung fern der Gesellschaft brauchen, wird so
lange weitergelten, wie Heime für die Einweisenden die am einfachsten handhabbare
Lösung für die Behandlung der Patienten mit chronischen Schwierigkeiten bieten.
Doch auch die schwierigen, manchmal als ,behandlungsresistent‘ bezeichneten Patienten
haben ein soziales Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Auch für sie muss
es personzentrierte, dem individuellen Bedarf entsprechende Wohn- und Lebensformen
geben – passgenaue Hilfen zur Unterstützung ihrer Selbstsorge bzw. der Bewältigung
ihres Alltags, die ihren Empfänger nicht auf eine bestimmte Wohnform als Voraussetzung
für die Hilfeleistung festlegen, vielmehr als mobile Unterstützung organisiert sind.
Solche personzentrierte Hilfen zur Teilhabe sind im Rahmen einer erzwungenen stationären
Versorgung nur schwer zu leisten. Sie erfordern kompetente soziotherapeutische Fähigkeiten,
die in dem bei diesem Personenkreis erforderlichen Maße bisher noch nicht viele beherrschen.
Das gerade bei den schwierigen Patienten öfter gebotene Abwägen zwischen deren Recht
auf Selbstbestimmung und dem verantwortungsbewusst gebotenen Maß an Fürsorge angesichts
eines für sie, aber vielleicht auch für ihre Mitmenschen bedrohlich erscheinenden
Mangels an Selbstsorge lässt ein Heim immer wieder mal als die einzige vertretbare
Lösung erscheinen. Sicher kann sich ein stationärer Hilferahmen zum aktuellen Zeitpunkt
als durchaus individuell passgenaue Hilfe erweisen, wie etwa bei Menschen, die früher
erhebliche Traumatisierungen erlitten haben oder die vielleicht erstmals Konstanz
in ihrem Lebensumfeld erleben sollten. Doch dort soll der Betroffenen nicht lernen,
sich dem stationären Reglement als einer Art Subkultur anzupassen, vielmehr muss es
dann Aufgabe des Heimes sein, den Menschen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
zu befähigen. Solche Einrichtungen müssen dann ständig mit ambulanten Alternativangeboten
kooperieren. Wobei gerade die über institutionelle Grenzen hinweg konstant zuständige,
soziotherapeutisch kompetente Bezugsperson, welche die Entwicklung einer verlässlichen,
vertrauensvollen Beziehung ermöglicht, die entscheidende Voraussetzung für den Erfolg
darstellen wird.
Die Rede war bisher von Selbstsorgedefiziten, nicht aber von psychopathologischen
Symptomatiken. Das soll hier auch so bleiben, denn Symptome allein können keine Heimeinweisung
gegen den Willen der betroffenen Person rechtfertigen. Das ist schon mit der UN-Behindertenrechtskonvention
unvereinbar. Aus ihnen lässt sich allenfalls der festgestellte Unterstützungsbedarf
erklären. Der Arzt und Philosoph Fritz Hartmann, Gründungsrektor der Med. Hochschule
Hannover, hat in Bezug auf chronisch Kranke einen Paradigmenwechsel im ärztlichen
Denken und Handeln gefordert. Zur ärztlichen Sozialisation gehört die Haltung, die
Krankheit seines Patienten besiegen zu wollen, indem die Krankheitssymptome verschwinden. Doch Symptome allein machen
noch nicht eine Krankheit aus. Ärzte müssen sich damit abfinden, dass es „bedingte
Gesundheit“ gibt [9], also etwa ein mehr oder weniger gesundes Leben mit Halluzinationen.