physiopraxis 2011; 9(5): 28-31
DOI: 10.1055/s-0031-1280585
physiotherapie

Rhythmisch-Akustische Stimulation bei Morbus Parkinson – Auditives Dopamin

Stefan MainkaSebastian Trebs
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Publikationsdatum:
20. Mai 2011 (online)

Inhaltsübersicht

Das Gehen fällt vielen Patienten mit Morbus Parkinson schwer – mit Musik oder einem Metronom klappt es besser. Stefan Mainka und Sebastian Trebs erklären, wie Physiotherapeuten die rhythmisch-akustische Stimulation (RAS) einsetzen können, das richtige Tempo finden und warum Singen manchmal besser ist als Musikhören.

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Stefan Mainka ist Dipl.-Musiktherapeut (FH) und Fellow für Neurologische Musiktherapie, Sebastian Trebs ist Physiotherapeut. Beide arbeiten im Neurologischen Fachkrankenhaus für Bewegungsstörungen/Parkinson Beelitz-Heilstätten. Stefan Mainka ist zudem als Dozent tätig und leitet ein klinisches Forschungsprojekt zum musikgestützten Laufbandtraining.

Musik hat auf den menschlichen Körper einen fast magischen Effekt: Sie fährt in die Glieder und macht Bewegungen geschmeidig. Daher spielt beispielsweise Tanzen im Neurologischen Fachkrankenhaus Beelitz-Heilstätten eine wichtige Rolle: Die Patienten mit Morbus Parkinson gewinnen ihre verloren gegangene Beweglichkeit und die Freude an Bewegung zurück.

Eine andere Möglichkeit, die Behandlung bei Morbus Parkinson musikalisch zu untermalen, bietet die rhythmisch-akustische Stimulation (RAS). Unter RAS versteht man Gangtraining mit akustischer Stimulation mittels Musik oder dem Klicken eines Metronoms [1]. Der Therapeut bestimmt zuerst die Gangmerkmale seines Patienten, ermittelt dann das richtige Stimulationstempo und kann anschließend sofort mit Musik oder einem Metronom loslegen.

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Cueing-Strategien: Damit hat alles angefangen

Bereits in den 1990er-Jahren erschienen die ersten Studien zur Therapie mit Rhythmus bei Morbus Parkinson, damals als „Metronomtherapie“ bekannt [2]. Inzwischen sprechen Forscher und Praktiker allgemein von Cueing-Strategien. Der Begriff Cueing kommt aus dem Englischen und beschreibt eine kontinuierliche akustische oder visuelle Stimulation für eine Aktivität. Diese Stimulation kann ein wiederkehrendes Lichtsignal sein, ein gleichmäßiges Metronomklicken oder auch Musik. Auf die Motorik hat vor allem akustisches Cueing eine besonders starke Wirkung: Es löst eine bessere Bewegungsbereitschaft [3,4] und eine größere Bewegungsgenauigkeit [5,6] aus und bewirkt, dass Patienten den zeitlichen Ablauf einer Bewegung besser steuern können [7]. Zudem kommt es zu einer Art Magnet-effekt, einer spontanen Ankopplung von Bewegung an das akustische Cueing [8]. Diese unmittelbare Ankopplung findet sich auch bei Patienten mit Morbus Parkinson. Allein im letzten Jahrzehnt erschienen zahlreiche Studien, die dies eindrucksvoll belegen [9–17].

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Eindeutige Vorteile: Musik bringt mehr als das Metronom

Bei all diesen Forschungsarbeiten wurden die Probanden nicht mit Musik, sondern mit einem Metronom stimuliert. Bis heute fand Musik nur spärlichen Einsatz in der Gangtherapie bei Morbus Parkinson. Das ist schade, denn Musik bietet im Gegensatz zum Metronom etliche Vorteile: Sie aktiviert emotional und sorgt so für eine positive Stimmung. In Bezug auf Morbus Parkinson bezeichnete der Neurologe Oliver Sacks Musik einmal als „auditives Dopamin, eine Prothese für die geschädigten Basalganglien“ [18].

Anders als das Metronom hat Musik zudem ein breites Klangspektrum und kann deshalb lauter aufgedreht werden, was den Ankopplungseffekt verbessert [3]. Dass Patienten mit Morbus Parkinson an Musik genauso schnell und zuverlässig ankoppeln können wie gleichaltrige, gesunde Kontrollpersonen, konnten Gerald McIntosh und seine Kollegen bereits 1997 zeigen [19].

Geübt wird immer deutlich schneller oder deutlich langsamer #

Entscheidend für den Erfolg: das passende Stimulationstempo

Ganz egal, ob Musik oder ein Metronom zum Einsatz kommt – zuerst muss der Therapeut das optimale Stimulationstempo finden. Welches das beste ist, hat Anne-Marie Willems untersucht [9]: Sie ließ Patienten mit Morbus Parkinson mit Metronomcueing von 80, 90, 100, 110 und 120 % der selbst gewählten Schrittfrequenz (Kadenz) gehen. Die größte Schrittlänge verzeichnete Willems bei 110 %, also bei einer 10 %-igen Temposteigerung. Stellte sie das Metronom hingegen auf 100 %, also auf das selbst gewählte Tempo der Patienten ein, war die Schrittlänge deutlich kürzer. Das Überraschende: Auch bei einem Metronomcueing mit 90 % – also bei einer Verlangsamung – waren die Schritte größer, wenn auch nicht ganz so wie bei der Beschleunigung auf 110 %. Willems beachtete in ihrer Studie allerdings nicht, dass es zu langsam und zu schnell gehende Patienten gibt. Das ist unserer Erfahrung nach aber ein sehr wichtiger Aspekt. Wir haben herausgefunden, dass vor allem verlangsamte Patienten von einer Beschleunigung profitieren. Zu schnell gehende Patienten verbessern sich dagegen eher durch ein verlangsamtes Cueingtempo.

DER 20-METER-WALK-TEST

Die Kadenz berechnen

Bedingungen:

  • > eine 20 Meter lange, ebene, gerade Strecke, die mindestens zwei Meter breit und gut beleuchtet ist

  • > keine Ablenkung des Patienten

Durchführung:

  • > Standardisiertes, nichtforcierendes Kommando geben, beispielsweise: „Stellen Sie sich vor, Sie gehen in bequemem Tempo zum Supermarkt.“

  • > Der Patient startet zwei Meter vor der Startlinie, der Therapeut geht etwas hinter dem Patienten, damit sich dieser nicht an das Tempo des Therapeuten anpasst.

  • > Der Therapeut zählt die Anzahl der Fersenkontakte innerhalb der Gehstrecke und stoppt die Zeit.

Berechnung:

Kadenz = (60 : Gehdauer) x Schrittzahl

Zudem kann der Therapeut mit diesem Test die Schrittlänge und die Geschwindigkeit berechnen, die ihm als Vergleichswerte dienen:

  • > Schrittlänge = Strecke : Schrittzahl

  • > Geschwindigkeit = Strecke : Gehdauer

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Die drei Gangtypen: Schleicher, Festinierer und Freezer

Um für jeden Patienten das optimale Stimulationstempo bestimmen zu können, schauen wir, ob er ein „Schleicher", „Festinierer“ oder „Freezer“ ist (Tab., S. 30).

Tab. Gangtypen bei Morbus Parkinson, die Anwendung der RAS-Gangtherapie sowie weitere Übungsmöglichkeiten
TypPathologische GangmerkmaleKadenzRAS-TempoZieleÜbungen
Schleicher
  • > eingeschränkter Bewegungsfluss

  • > verlangsamt

  • > verkürzte Schrittlänge

  • > verminderter Armschwung

  • > 95 bis 115 Schritte/min

  • > Musik oder Metronom: 108 bis 126 bpm (circa 10 %-ige Beschleunigung)

  • > größere Schritte

  • > besserer Armschwung

  • > bessere Beweglichkeit

  • > besseres Gleichge-wicht

  • > Gehen auf gerader Strecke

  • > Start-Stopp-Übung

  • > Treppe steigen (Tempo entsprechend langsamer)

  • > Alltagstransfer: Beibehalten des Gehtempos ohne Musik/Metronom

Festinierer
  • > guter Bewegungsfluss

  • > kleinschrittiger Vorfußgang

  • > eingeschränkter, initialer Fersenkontakt

  • > kleiner und schneller werdende Schritte

  • > Vorneigung des Oberkörpers

  • > 115 bis 135 Schritte/min

  • > Musik oder Metronom: 100 bis 115 bpm (10–15 %-ige Verlangsamung)

  • > größere Schritte

  • > initialer Fersenkontakt

  • > besseres Gleichgewicht

  • > bessere Wahrnehmung des Gangbildes

  • > Gehen auf gerader Strecke

  • > Start-Stopp-Übung

  • > Alltagstransfer: Beibehalten des Gehtempos ohne Musik/Metronom

Freezer
  • > Gangblockaden bei guter Beweglichkeit (ON-Freezing)

  • > ansonsten flüssige, eher zu schnelle Kadenz

  • > 100 bis 125 Schritte/min, wenn kein Freezing auftritt

  • > Metronom: 86 bis 96 bpm (circa 10 %-ige Verlangsamung)

  • > Alternative: mentales Singen

  • > größere Schritte

  • > gleichmäßigerer Schrittrhythmus

  • > Verminderung der konzentrativen Anstrengung beim Gehen

  • > besseres Gleichgewicht

  • > Start-Stopp-Übung

  • > Wenden

  • > Seitwärts

  • > Rückwärts

  • > Dual-Task (Gehen mit Ablenkaufgabe)

  • > Alltagstransfer: Beibehalten des Gehtempos ohne Metronom

bpm = beats per minute, Schläge pro Minute

Schleicher gehen verlangsamt. Daher profitieren sie sehr gut von einer Gangbeschleunigung durch die RAS-Therapie. So können sie größere Schritte machen, gehen beschwingter, flüssiger und insgesamt dynamischer.

Festinierer gehen hingegen eher zu schnell. Sie haben eine flüssige Kadenz, die im Normalbereich, das heißt bei etwa 119 bis 125 Schritten pro Minute [20], oder leicht darüber liegt. Beim Gangbild fällt ein leicht nach vorn gebeugter Vorfußgang mit eingeschränktem oder fehlendem initialen Fersenkontakt auf. Oft können Festinierer ihr Gangbild nicht gut wahrnehmen und daher auch nicht selbst verändern. Ihnen hilft ein verlangsamtes Stimulationstempo.

Die dritte Gruppe sind Freezer, die aus guter Beweglichkeit heraus plötzlich stehen bleiben (physiopraxis 9/09, S. 24, „Freezing bei Parkinson-Syndromen“). Bei der Gangtherapie mit RAS sollte das Stimulationstempo bei etwa 90 % der selbst gewählten Kadenz liegen [7, 21]. Es wird also verlangsamt geübt. Bei Freezern führt einzig die Verlangsamung um 10 % zu einer Vergrößerung der Schrittlänge und zu einem stabileren Gangbild. Zwar belegte eine spanische Forschergruppe unlängst auch einen Therapieerfolg mit einer beschleunigten Stimulation, doch diese positive Wirkung war nur bei OFF-Blockaden zu beobachten [15].

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Darauf kommt es an: die perfekte RAS-Musik

Steht fest, zu welchem Gangtyp ein Patient gehört, weiß der Therapeut auch, ob er die Kadenz verlangsamen oder beschleunigen muss, um das perfekte RAS-Tempo zu erhalten. Die Kadenz ermittelt der Therapeut am besten mit dem 20-Meter-Walk-Test („Der 20-Meter-Walk-Test“).

INTERNET

Musik, Liedtext und Literatur

Im Internet steht unter www.heise.de die Software BPM Detector zum kostenlosen Download bereit. Mit einem Klick lässt sich damit das Tempo von Musikstücken ermitteln. Das hilft bei der Suche geeigneter Trainingsmusik.

Stefan Mainka hat verschiedene Musikstücke mit unterschiedlichen Tempi passend für die RAS-Therapie zusammengestellt. Sie können Sie im Internet unter www.reha-musik.de kostenlos downloaden und sofort mit der RAS-Therapie loslegen.

Für das mentale Singen eignet sich das Volkslied „Im Frühtau zu Berge“. Stefan Mainka hat es in ein Anti-Freezing-Lied umgetextet. Im Internet steht es Ihnen zusammen mit dem Literaturverzeichnis zur Ansicht und zum Download bereit.

Anschließend kann er das Metronom dementsprechend einstellen beziehungsweise eine passende Musik auswählen ("Internet"). Wichtig ist, dass die Musik ein gleichbleibendes Tempo, eine einheitliche Lautstärke und möglichst keinen Liedtext hat. Ein gerader und deutlich akzentuierter Takt ist hilfreich, beispielsweise ein 2/4-, 4/4- oder 6/8-Marsch. Am besten ist eine einfache und bekannte Melodie. Sie erleichtert dem Patienten nach der Trainingseinheit das Gehen ohne Musik, da er das Lied in Gedanken weitersingen kann.

Für die RAS-Therapie mit Musik raten wir zu einem einfach zu handhabenden MP3-Player, bei dem auf dem Display zu erkennen ist, welcher Titel gerade gespielt wird. Sinnvoll ist auch eine Klammer, mit der er sich an der Kleidung befestigen lässt ([Abb. 1, S. 29]). Bei der RAS mittels Metronom empfehlen wir ein Gerät mit einer variablen Lautstärkeregelung, einem angenehmen Piepton und einem Kopfhörerausgang ([Abb. 2]). Außerdem ist eine TapIn-Funktion sinnvoll, mit der das Tempo manuell durch mehrmaliges Drücken einer Taste bestimmt werden kann.

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Abb. 1 Mit dem richtigen Rhythmus im Ohr geht es sich leichter. (Foto: S. Mainka)

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Abb. 2 Das Metronom ist bei Freezern das Mittel der Wahl. (Foto: www.korg.de)

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Eine weitere Möglichkeit: das mentale Singen

Während Schleicher und Festinierer auf Musik und Metronom gleich gut reagieren, haben wir die Erfahrung gemacht, dass Freezer sich ausschließlich mit einem Metronom stimulieren lassen. Immer wieder liest man, dass auch rhythmische Musik beim Freezing wirksam sei, doch diese Ansicht teilen wir nicht. Laute und rhythmisch akzentuierte Musik hat zwar einen allgemein stimulierenden Effekt auf die Beweglichkeit und Koordination bei Morbus Parkinson [22]. Sobald man jedoch versucht, das Tempo der Patienten mit einer Trainingsmusik gezielt zu verlangsamen, können Freezer nicht mehr ankoppeln. Es scheint, dass sie die komplexen zeitlichen Informationen eines Musikstückes nicht mehr verarbeiten und motorisch integrieren können. Musik hilft ihnen allenfalls kurzzeitig über eine Blockade hinweg. Daher ist das Metronom für Freezer bei der RASTherapie zunächst das Hilfsmittel der Wahl.

Bleibt auch beim Metronom eine spontane Ankopplung aus, gibt es für Freezer eine weitere Möglichkeit: das mentale Singen. Dabei stellen sich die Patienten beim Gehen ein Lied vor und setzen ihre Schritte entsprechend dem Rhythmus des Liedes. Das sorgt nachweislich für einen flüssigeren und gleichmäßigeren Gang [23, 24]. Es ist auch möglich, ein bekanntes Lied umzutexten, um den Patienten beim Training mit Schlüsselwörtern wie „große Schritte", „langsam“ oder „Füße heben“ fortwährend an die Trainingsziele zu erinnern („Internet“,).

Mittlerweile ist eindeutig belegt, dass zwischen Gangfestination und Freezing ein enger Zusammenhang besteht [25]: Festinierendes Gehen kann der Beginn eines kontinuierlichen Prozesses sein, der schließlich im Freezing endet. Daher sollten Therapeuten bei Festinierern immer wieder die therapeutische Wirkung von Musik überprüfen und gegebenenfalls auf das Metronom umsteigen.

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Viel hilft viel: Nur regelmäßiges RAS-Training bringt Erfolg

RAS ist für jeden Patienten geeignet, dessen Gangbild sich durch eine akustische Stimulation verbessert. Dennoch ist es unabdingbar, eine klare Diagnose zu stellen. Denn unsere Erfahrung zeigt, dass nur Patienten mit Morbus Parkinson nachhaltig von einer RASTherapie profitieren. Patienten mit sogenanntem sekundärem Parkinson-Syndrom sprechen auf akustisches Cueing dagegen nicht gut an. Dazu zählen die Erkrankungen Normdruckhydrocephalus, Multisystematrophie, Demenz mit Lewy-Körperchen, kortikobasale Degeneration, subarteriosklerotische Enzephalopathie und progressive supranukleäre Blickparese. Diese Patienten zeigen zwar das klinische Bild eines Morbus Parkinson, doch bei ihnen scheint das neuronale Netzwerk für die audiomotorische Ankopplung nicht mehr zu funktionieren. Ob ein Patient unter solch einer Stö-rung leidet, erkennt ein Therapeut mittels eines einfachen Mitklopftests – dem sogenannten Tapping-Test: Patienten mit sekundärem Parkinson-Syndrom können einer Metronompulsation von 100 Schlägen pro Minute (beats per minute, bpm) nicht mehr mit der Hand folgen. Sie klopfen zu schnell oder zu langsam und können nicht einschätzen, ob sie im Takt waren oder nicht. Für Patienten mit Morbus Parkinson ist dies kein Problem.

Optimal ist es, wenn die Patienten drei bis fünf Mal pro Woche für 12 bis 15 Minuten trainieren, da die Effekte einer Gangtherapie bei Morbus Parkinson nicht länger als ein paar Wochen anhalten [26, 27]. Mit der RAS haben die Patienten nur dann Erfolg, wenn sie regelmäßig üben [28] – zusammen mit dem Therapeuten und auch alleine zu Hause.

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Abb. 1 Mit dem richtigen Rhythmus im Ohr geht es sich leichter. (Foto: S. Mainka)

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Abb. 2 Das Metronom ist bei Freezern das Mittel der Wahl. (Foto: www.korg.de)