Kein Ärztekongress ohne das Thema Nachwuchssorgen und Arztmangel. Doch ist die Situation
wirklich so dramatisch, wie gelegentlich zu hören? Zumindest die Deutsche Gesellschaft
für Chirurgie vollzog unlängst eine erstaunliche Wende: weg von plakativen Fehlurteilen.
"Nachwuchssorgen" plagen die Deutschen Chirurgen – etwa im April 2004. Der damalige
DGCh-Präsident Prof. Bernward Ulrich fordert eine "Ausbildungsplatzabgabe" für Chirurgen.
Werde nicht gegengesteuert, so sein Nachfolger Prof. Matthias Rothmund Ende 2004,
werde man unter dem Ärztemangel spürbar leiden. 2008 prognostiziert DGCh-Präsident
Prof. Rainer Arbogast ein "eklatantes Versorgungsproblem" für die kommenden Jahre.
"Eklatanten Fachärztemangel" beklagen einmal mehr Standesvertreter auf dem DKOU 2010.
Nur noch 1339 Orthopäden und Unfallchirurgen hätten 2009 ihre Facharztprüfung abgelegt.
228 weniger als noch 2007.
Ärztemangel allenthalben!
Überraschenderweise seit Kurzem erst einmal storniert. Und zwar ausgerechnet von der
DGCh. Die aktuelle Debatte sei geprägt von "pauschalisierenden Behauptungen, sehr
heterogenen Datenlagen und darauf fußenden fragwürdigen Prognosen", so Anfang Dezember
2010 Prof. Hartwig Bauer, Generalsekretär der DGCh auf einer Pressekonferenz.
Ein Grund der Verwirrung: Die Statistik zum Thema Ärztemangel hat eine mäßige Grundlage
und die Zahlen werden von den Akteuren im Gesundheitswesen gelegentlich recht unterschiedlich
gewichtet.
Als Referenz wäre einmal zu nennen, es grüßt die Kassenseite, die Zahlen des WIdO
der AOK. Das Institut hebt fast immer auf eine seit Jahren steigende Arztdichte ab.
(Foto: Markus Niethammer/Thieme Verlagsgruppe)
320 000 berufstätige Ärzte in Deutschland zählte es im letzten Versorgungsreport.
390 Ärzte arbeiteten danach 2008 für 100 000 Einwohner. Gegenüber 1990 ist das 28
% mehr. Es gebe keinen Arztmangel, so fast unisono die Kassenvertreter, doch seien
die Ärzte ungleich verteilt. Strukturell "interessante" Regionen im "Südwesten der
Republik" weisen regelmäßig Versorgungsgrade von 130, 140 % und mehr auf. Starnberg
bringt es derzeit bei Hausärzten auf 148,1 %, Tübingen, Stand 2007, bei Psychotherapeuten
gar auf 591 %. 83 von insgesamt 395 Planungsbezirken in Deutschland haben hingegen
weniger als 100 % Versorgung. Viele davon liegen im Osten: Der Saalekreis in Sachsen-Anhalt
ist bei Hausärzten mit 69,1 % unterversorgt.
Eine Sichtweise, an denen Referenzwerk Nummer 2, es grüßt die Arztseite, per se nichts
zu mäkeln hat. Auch die Studie zur Altersstruktur- und Arztzahlentwicklung von BÄK
und KBV, in 5. Auflage vom September 2009 [s. weitere Informationen], sieht einen "Staubsaugereffekt in Richtung Westen": Wenn Hausärzte in Regionen
im Osten schlechtere Verdienstmöglichkeiten haben, gingen sie eben lieber in den Westen.
Jonglage um Nachwuchszahlen
Diese Studie lenkt den Blick dann aber v. a. auf die Altersverteilung der Ärzte. Die
sieht nicht gut aus. Der durchschnittliche Vertragsarzt war 2009 gut 52 Jahre alt,
sein Kollege in der Klinik 41 Jahre. Damit ist der eine heute knapp 5, der andere
3 Jahre älter als seine Durchschnittskollegen von 1993. Anhand von Hochrechnungen
kalkuliert der Report, dass zwischen 2010 und 2020 Nachfolger für 71 625 Ärzten gefunden
werden müssen. Angesichts sinkender Absolventenzahlen an den Hochschulen drohe Unterversorgung
in vielen Bereichen.
Denn zwischen 2003 und 2008 hätten fast 18 % aller Medizinstudenten ihr Studium nicht
abgeschlossen – aktuell seien es immer noch über 14 % Studienabbrecher. Und auch nach
dem Studium ginge dieser Schwund weiter. Mehr als jeder 10. Absolvent habe es zwischen
2003 und 2008 vorgezogen, ins Ausland zu gehen. Helfen, so die Statistiker um Dr.
Thomas Kopetsch, könne der Republik da vielleicht, eine Stille Reserve zu heben. Jene
rund 38 000 Ärzte, die derzeit nicht berufstätig sind.
Diese Prognose ist allerdings nun wiederum alles andere als ausgemacht. "Grobe Fehler"
attestierte Dr. Volker Hildebrand, Generalsekretär des Medizinischen Fakultätentags
dieser Statistik Ende 2010. 92 % der Studienanfänger im Fach Medizin schlössen erfolgreich
mit einem Examen ab. So zeige es eine eigens in Auftrag gegebene Sonderauswertung
beim Statistischen Bundesamt. Und der Run auf das Studium Medizin sei größer denn
je: 4,4 Bewerber kämen heute auf einen Medizinstudiumsplatz, vor 10 Jahren waren es
2,55. Von Motivationsmangel beim Nachwuchs mithin keine Spur: 94 % der Studierenden
wollen den Heilberuf auch ausüben. Es sind jene Zahlen, die auch die DGCh Ende 2010
zu einer Neubewertung veranlassten.
Bei 2 besonders wichtigen Größen zum Nachwuchs bietet die Statistik allerdings gar
nichts. Weder gibt es eine Zahl der jährlichen Approbationen noch eine zu den Ärzten
in Weiterbildung.
Was es gibt, ist die Zahl der Facharztanerkennungen. Und siehe da: Mit insgesamt 11510
neuen Fachärzten in Deutschland allein im Jahr 2009 ist die Pipeline alles andere
als trocken gefallen. Seit 1995 oszilliert die Zahl der Anerkennungen hier zwischen
knapp 14000 und 10000 hin und her. Und nebenbei, für Sorgen um Schwund bei neuen Fachärzten
für O & U gibt die Statistik derzeit keinen Anlass. Ab 2005 schnellten die Werte auf
pro Jahr über 1000 Neuanerkennungen – das liegt aber v. a. an den zahlreichen Umschreibungen
zum neuen Facharzt für O & U. Ein Rückgang seit Kurzem ist v. a. Ausdruck dafür, dass
diese Umschreibungen zurückgehen.
Klar ist: Regelmäßig berichten Medien über lange Wartezeiten und Anreisewege für Patienten
– v. a. in, s. o., strukturschwachen Regionen. Eine Hauptursache sind allerdings Fehler
im System der Bedarfsplanung für die Versorgung mit niedergelassenen Ärzten. 1993
zurrte das vom damaligen Gesundheitsminister Horst Seehofer eingebrachte Gesundheitsstrukturgesetz
(GSG) eine bereits seit den 1980ern bestehende Einteilung des Landes in 395 Planungsbezirke
fest. Mit deutscher Gründlichkeit, von kreisfreien Städten bis verdichteten oder ländlichen
Kreisen ordnet das Gesetz jedem Bezirk eine bestimmte Zahl an Ärzten pro Fachgebiet
zu, die per Definitionem Vollversorgung 100 % entsprechen. Eine Kernstadt kriegt so
einen Orthopäden auf 13242, ein ländlicher Kreis hingegen nur einen auf 30575 Einwohner.
Zahlen über Zahlen. Nur eben keine Statistiken zur Anzahl der Ärzte in Weiterbildung.
((Foto: MEV))
Es bleiben recht willkürliche Ziffern: Im Wesentlichen wurde damit der Anfang der
1990er Jahre bestehende Versorgungsgrad einfach bis heute fest- und fortgeschrieben.
Obendrein sollte das System v. a. "Überversorgung" bremsen. Sobald Planungsbezirke
einen Versorgungsgrad von 110 % erreichen, sollten sich keine neuen Fachärzte mehr
niederlassen. Eine Fülle an Ausnahmeregelungen sorgte von Anfang an zwar dafür, dass
manche deutlich höhere Versorgungsgrade haben. Zementierte nebenbei aber auch den
Besitzstand derer, die eben drin waren. Auch ein Grund für drohende "Überalterung"
der Ärzte im niedergelassenen Bereich.
Auch Unterversorgung wird arithmetisch definiert als Deckungsgrad von unter 50 % bei
Fachärzten, unter 75 % bei Hausärzten. Dabei war das System zuzeiten einer vermeintlich
drohenden "Ärzteschwemme" für diesen Fall schon gar nicht konzipiert. Sich wirklich
aktiv gegen den Ärtzemangel stemmen, konnten auch die bislang für den Sicherungsauftrag
zuständigen KVen kaum. Möglich waren vor Ort v. a. nur Werbung und gewisse finanzielle
Anreize.
Immerhin: Die Akteure haben die Schwäche des Systems offenbar erkannt. An Konzepten
liegen u. a. auf dem Tisch:
Kleinräumigere Versorgungseinheiten, bei denen auch demografische Faktoren eine Rolle
spielen, wünscht sich die Kassenärztliche Bundesvereinigung. Motto: Mehr Ärzte in
einer Region, die besonders viele alte Menschen hat. Außerdem sollen die KVen in
Zukunft Arztsitze gezielt dort ausschreiben dürfen, wo Bedarf besteht.
In die Bedarfsplanung sollen nicht mehr nur die niedergelassenen Ärzte, sondern auch
die Ressourcen von Krankenhäusern mitkalkuliern – das fordert der GKV-Spitzenverband.
Es gelte, Doppelstrukturen abzubauen. Obendrein könnten zeitlich befristete Zulassungen
helfen, rascher auf Fehlversorgung zu reagieren.
Etliche Punkte nimmt das Anfang April vorgestellte Eckpunktepapier für ein neues Versorgungsgesetz
aus dem Bundesgesundheitsministerium auf: Es könnte, falls wirklich umgesetzt, ab
kommendem Jahr eine oft theorielastige Diskussion um Nachwuchsmangel in der Medizin
konkretisieren.
BE