Das Unbehagen an unserem deutschen Medizinsystem nimmt immer mehr zu. Die Patienten,
die sich natürlich die bestmögliche Medizin wünschen, um wieder gesund zu werden bzw.
wenigstens ihr Leben wieder besser bewältigen zu können, merken, dass dieser Anspruch
im praktischen Alltag oft nicht realisiert werden kann. Das Sozialgesetzbuch schreibt
zwar den Ärzten vor, den allgemeinen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis im Auge
zu behalten und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen, sie sind aber immer
stärker weisungsgebunden, d.h. sie müssen die Balance zwischen medizinischen Notwendigkeiten
und ökonomischen Zwängen halten.
Die ökonomischen Zwänge und die entsprechenden Auswirkungen werden immer massiver.
Der Ausschluss fast aller Phytopharmaka aus der Erstattungsfähigkeit im Jahr 2004
war nur einer der vielen kleinen Bausteine, die der Kostendämpfung dienen sollten.
Der weitere starke Anstieg der Arzneimittelkosten, der von den Experten damals prognostiziert
wurde, ist längst eingetreten, die Ausgaben steigen trotz immer hektischer werdender
Regulierungsversuche ständig weiter. Einige weitere Beispiele: Inzwischen müssen von
Schwerkranken diagnostische und therapeutische Maßnahmen immer häufiger selbst bezahlt
werden. Für Maßnahmen der physikalischen Therapie und Hilfsmittel müssen orthopädische
Patienten oft selbst aufkommen, außer sie mutieren zum sozialversicherungsrechtlichen
Fachmann. Auch wenn das Wirtschaftlichkeitsgebot für die Verordnung eines Heilmittels
erfüllt und dessen Wirksamkeit belegt ist, müssen Patienten auf diese Leistung verzichten,
wenn sie teuer ist, weil das Heilmittelbudget des behandelnden Arztes ausgeschöpft
ist.
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bestimmt nach den Regeln der evidenzbasierten
Medizin, d.h. nach anscheinend objektiven Kriterien, was in den Leistungskatalog der
gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aufgenommen wird. Nun gibt es aber eine Vielzahl
von preiswerten und/oder nicht patentgeschützten Verfahren, die den Wirksamkeitsbeleg
nicht erbringen können, weil niemand die ständig steigenden Kosten für eine klinische
Studie übernehmen kann. Bei anderen Verfahren ist der G-BA trotz des Vorliegens von
positiven Studien nicht zur eindeutigen Entscheidung gekommen, dass die jeweilige
Methode für den Patienten einen Nutzen hat. Der Arzt, der die Leistungsfähigkeit eines
derartigen Verfahrens kennt und im Einzelfall einen Patienten damit behandeln möchte,
hat nun vier Möglichkeiten: Er behandelt den Patienten nach dem Stand der ärztlichen
Kunst und riskiert einen Regress, er wendet einen »Trick« an, er wendet das Verfahren
als IGeL an oder er überweist den Patienten in ein Krankenhaus, in dem das Verfahren
angewendet wird, was dann für die Versicherungsgemeinschaft höhere Kosten verursacht.
Leider gilt eine erfolgreiche Therapie mit diesem Verfahren aber nicht als Wirksamkeitsbeleg
für den G-BA, weil es sich nur um eine Kasuistik handelt. Verweigert die betreffende
GKV die Erstattung eines nicht anerkannten Verfahrens, muss sich der Patient oft bis
in die oberste Instanz der Sozialgerichtsbarkeit durchklagen. Auf dieser Ebene zeigt
sich die Krankenkasse dann kulant, um ein Grundsatzurteil zu verhindern.
Bei der Verschreibung von Arzneimitteln sollen bekanntlich Generika und nicht die
patentgeschützten Analogpräparate berücksichtigt werden. Da manche Patienten das empfohlene
Generikum nicht vertragen, gerät der behandelnde Arzt in ein Dilemma: Entweder trifft
er die richtige individuelle Entscheidung oder er folgt dem kollektiv definierten
Nutzen. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient wird so zunehmend durch die gesetzlichen
Vorgaben, die Regelungen der Krankenkassen, die Furcht der Ärzte vor Regressen, die
Drohungen der Krankenkassen bzw. die Verwaltungsdirektoren der Krankenhäuser bestimmt.
Die Erkrankung eines Patienten muss dabei wie in einem Prokrustesbett in einen vorgegebenen
Standard nach ICD-10 gepresst werden, Diagnostik und Therapie werden auf die Kosten-Nutzen-Relationen
reduziert. Der Verlust der Individualität des Patienten ist in diesem System erwünscht,
er wird aber darüber nicht informiert, sondern vielmehr im Glauben gelassen, dass
er Anspruch auf eine auf ihn abgestimmte Therapie hat, die sich am medizinischen Fortschritt
orientiert. Die Spannung zwischen diesem Anspruch und den begrenzten Finanzmitteln
nimmt immer mehr zu, die Therapiefreiheit steht - gewollt? - hinten an.
Es ist wohl nicht zu vermeiden, dass eine Versorgung, die für die Solidargemeinschaft
bezahlbar bleiben soll, auf dem Hintergrund begrenzter Mittel, ansteigendem Alter
der Bevölkerung und teurem medizinischen Fortschritt in einem gewissen Ausmaß rationiert
werden muss. Allerdings weiß man inzwischen auch, dass das Erreichen eines gesunden
Alters nur zu 10% von der medizinischen Versorgung, zu 30% aber von der genetischen
Ausstattung und zu 60% von der Eigenvorsorge abhängt. Hier liegt wohl die größte Chance,
das Problem besser in den Griff zu bekommen. Wir müssen aber öffentlich darüber diskutieren
und nicht das Arzt-Patient-Verhältnis damit belasten, sonst wird es dauerhaft beschädigt.
Das Unbehagen ist übrigens inzwischen ganz oben angekommen: Bei der Eröffnungsveranstaltung
des Internistenkongresses am 1.5.2011 stellte sich Minister Rosier in seiner Rede
eine Verletzung eines seiner Kniegelenke am Jahresende vor, mit der er einen Arzt
aufsucht, dem entsprechend den Vorgaben seines Verwaltungsdirektors noch einige größere
operative Eingriffe am Kniegelenk bis Jahresende »fehlen« und malte sich die entsprechenden
Konsequenzen aus.