Abubakar I. Tuberculosis and air travel: a systematic review and analysis of policy.
Lancet Infect Dis 2010; 10: 176–83
(Foto: creativ collection)
Thema: Auf der "DO NOT BOARD LIST" werden Personen genannt, denen die USA die Teilnahme
am öffentlichen Flugverkehr aufgrund einer ansteckenden Erkrankung verweigert. Die
Centers for Disease Prevention and Control (CDC) und das U.S. Department of Homeland
Security haben im Jahr 2007 Kriterien dafür festgelegt. Alle Fluglinien dürfen gelisteten
Personen keine Bordkarten für Flüge innerhalb, in die oder aus den USA ausstellen.
Die Maßnahme der US-Behörden ist eine erhebliche Einschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit.
Zwischen Mai 2007 und Juni 2008 wurden 33 Personen auf die Liste gesetzt – alle aufgrund
der Diagnose "offene Lungentuberkulose" und weiterer Kriterien, wie beispielsweise
Non-Compliance mit einer Behandlung. Acht dieser Personen hatten eine multiresistente
Tuberkulose (MDR-TB oder XDR-TB) [
1
].
Auslöser für die Regelung war ein amerikanischer Rechtsanwalt mit der (Zufalls-)Diagnose
offene Lungentuberkulose im Mai 2007. Er reiste trotzdem in mehrere europäische Städte,
bevor im Labor die Diagnose XDR-Tuberkulose erfolgte. Die Bemühungen der Gesundheitsbehörden
und Medien blieben erfolglos: Der Erkrankte wusste von der Suche und dass er möglicherweise
ansteckend ist. Es gelang ihm, unbemerkt von Prag nach Montreal zu fliegen, um per
Auto in die USA einzureisen und sich erst dort behandeln zu lassen. Die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) empfiehlt [
2
]:
-
Personen mit ansteckender Lungentuberkulose müssen bis Reisebeginn mindestens 2 Wochen
tuberkulostatisch behandelt sein.
-
Personen mit MDR- oder XDR-Tuberkulose sollen erst nach kulturellem Nachweis, dass
sie nicht mehr infektiös sind, wieder am öffentlichen Flugverkehr teilnehmen.
-
Wird eine Person mit offener Lungentuberkulose an Bord entdeckt, soll diese eine Mund-Nasen-Maske
erhalten und im Kabinenraum möglichst abgesondert von anderen Passagieren sitzen.
Die Klimaanlage des Flugzeugs soll nach der Landung nicht länger als 30 Minuten abgestellt
bleiben.
-
Mitreisende Kontaktpersonen müssen erst ab einer Flugdauer von 8 oder mehr Stunden
nachverfolgt werden. Dies betrifft nur Passagiere, die bis zu 2 Reihen vor und hinter
einer Indexperson mit offener Lungentuberkulose saßen.
Projekt: Zu dieser WHO-Empfehlung veröffentlichte Ibrahim Abubakar aus England im Jahr 2010
eine Übersichtsarbeit über Tuberkulose im Flugverkehr.
Ergebnisse: Abubakar stellt darin fest, dass nur in 2 von 13 Studien eine Ansteckung mit Tuberkulose
während eines Langstreckenflugs dokumentiert wurde.
Fazit: Aus Sicht des Autors sind die WHO-Empfehlungen keine kosteneffektive Strategie für
die weltweite Bekämpfung von Tuberkulose. Er hinterfragt insbesondere den Nutzen einer
Umgebungsuntersuchung im Flugverkehr bei Personen mit mikroskopisch negativer Lungentuberkulose
und verweist auf den immensen Aufwand und die Gefahr, dass die Indexperson im Rahmen
der umfangreichen Nachverfolgung versehentlich namentlich bekannt wird.
Dem Autor ist sicherlich zuzustimmen, dass die Nachverfolgung von Kontaktpersonen
im Flugverkehr eine aufwendige und wenig kosteneffektive Strategie zur Eindämmung
der Tuberkulose ist. Für den öffentlichen Gesundheitsdienst in Deutschland besteht
jedoch bei der sehr begrenzten Datenlage wenig Ermessensspielraum für grundsätzliche
Erwägungen dieser Art. Es muss zumindest in jedem Einzelfall überprüft werden, ob
eine Nachverfolgung von Kontaktpersonen nach Langstreckenflügen erfolgen muss. Fachliche
Grundlage für diese Entscheidungen sind die Empfehlungen des Deutschen Zentralkomitee
für Tuberkulose (DZK) [
3
] und der WHO [
2
], die das Europäische Seuchenzentrum (ECDC) im Jahr 2009 bestätigte [
4
].
Aus meiner Sicht – als Leiterin des Hafen- und Flughafenärztlichen Dienstes in Hamburg
– sind die genannten Empfehlungen außerordentlich hilfreich für die Praxis, da sie
hinreichend konkret und nachvollziehbar sind. Der öffentliche Gesundheitsdienst benötigt
in der täglichen Arbeit praktikable Arbeitshilfen angesehener Institutionen: Jede
Entscheidung für oder gegen die Nachverfolgung eines Flugpassagiers muss danach gegenüber
Fachleuten, Fluggesellschaften, Reisenden, Vorgesetzten sowie Vertretern der Politik
und der Medien gerechtfertigt werden.
Solche handhabbaren Empfehlungen fehlen für den Schiffsverkehr. Bei Seeleuten ist
die Diagnose offene Lungentuberkulose beziehungsweise ein Verdacht darauf kein seltenes
Ereignis – trotz der Seetauglichkeitsuntersuchung für alle. Insbesondere auf Kreuzfahrtschiffen,
auf denen hunderte bis tausende Crewmitglieder und Passagiere aus der ganzen Welt
auf engem Raum zusammenkommen, führt dies zu umfangreichen und komplexen Fragestellungen,
auf die die bestehenden Empfehlungen für den Flugverkehr nur begrenzt angewendet werden
können.
Dr. Clara Schlaich, Hamburg