Einleitung
Jon Kabat-Zinn, der als einer der Ersten das Achtsamkeitsprinzip in den klinischen
Kontext integrierte, definiert Achtsamkeit als die absichtsvolle, bewusste und nicht
wertende Lenkung der Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Augenblick [1]. Nach seinem Verständnis handelt es sich um eine Fähigkeit, die grundsätzlich jedem
Menschen innewohnt. Welches medizinische und psychotherapeutische Potenzial allerdings
damit verbunden ist, hat sich erst durch die Entwicklung achtsamkeitsbasierter Therapieverfahren
und die gerade in jüngster Zeit schnell wachsende Forschung in diesem Bereich gezeigt.
Der vorliegende Artikel stellt das Prinzip der Achtsamkeit vor und gibt exemplarisch
einen Überblick über einige etablierte achtsamkeitsbasierte Verfahren sowie über den
aktuellen Stand ihrer empirischen Überprüfung. Darüber hinaus wird die Rolle der Achtsamkeit
des Therapeuten diskutiert. Abschließend folgt ein Ausblick auf künftige Entwicklungen
in diesem Bereich.
Das Achtsamkeitsprinzip
Historischer Hintergrund
In allen Kulturen – auch in der westlich-christlichen – finden sich Praktiken zur
Förderung einer achtsamen Haltung. Als wesentliches Element östlicher Meditationswege
wurden diese Praktiken jedoch v. a. im Rahmen der jahrtausendealten buddhistischen
Tradition kultiviert. In den hier vorgestellten achtsamkeitsbasierten Verfahren werden
Meditationsformen eingesetzt, die mit nur geringen Veränderungen aus dieser Meditationstradition
übernommen wurden. Dennoch ist das Achtsamkeitsprinzip an keinen bestimmten spirituellen
oder kulturellen Kontext gebunden, weshalb Achtsamkeitsübungen auch unabhängig von
religiösen Orientierungen und weltanschaulichen Haltungen praktizierbar sind.
Achtsamkeitsbasierte Verfahren übernehmen Teile überlieferter östlicher Meditationsformen.
Manche Autoren diskutieren jedoch, inwieweit die religiös-spirituelle Dimension der
Meditation, die in den ursprünglichen buddhistischen Ansätzen zentral ist, ebenfalls
in den therapeutischen Kontext integriert werden kann und soll und inwieweit ein Verzicht
auf solche Aspekte das Potenzial achtsamkeitsbasierter Ansätze einschränkt [2]. Heidenreich und Michalak weisen in diesem Zusammenhang zudem darauf hin, dass die
religiös-spirituelle Dimension nicht notwendigerweise auf buddhistische/östliche Spiritualität
beschränkt werden muss, sondern auch christliche/westliche Zugangswege beinhalten
kann [3].
Eine häufig zitierte Definition stammt von Jon Kabat-Zinn, dem Begründer der achtsamkeitsbasierten
Stressreduktion (Mindfulness-Based Stress Reduction, MBSR) [1]. Er charakterisiert Achtsamkeit als
Es ist eine alltägliche Erfahrung, dass wir uns während einer Tätigkeit gedanklich
mit etwas anderem beschäftigen. Kabat-Zinn spricht in diesem Zusammenhang vom „Autopilotenmodus“
[1]. Eine zentrale Annahme achtsamkeitsbasierter Ansätze ist, dass dieser Autopilotenmodus
flexibles und situativ angemessenes Handeln erschwert, da er automatisierte und starre
Verarbeitungs- und Reaktionsmuster begünstigt (z. B. Rumination).
Ziel der Achtsamkeitspraxis ist es, das Bewusstsein wieder in den gegenwärtigen Augenblick zu holen und mit der aktuellen Tätigkeit in Übereinstimmung zu bringen – also beispielsweise
beim Essen den Vorgang des Essens tatsächlich wahrzunehmen anstatt gleichzeitig fernzusehen,
zu lesen oder gedanklich bei den Erledigungen des nächsten Tages zu sein. Absichtsvoll ist diese Aufmerksamkeitslenkung, weil sie mit dem bewussten Ziel verbunden ist,
Achtsamkeit möglichst in allen Lebenssituationen aufrechtzuerhalten – und nicht wertend, weil die auftretenden Bewusstseinsinhalte nicht als positiv oder negativ, angenehm
oder unangenehm kategorisiert werden, sondern einfach bewusst wahrgenommen werden
sollen. Diese nicht wertende Haltung bezieht sich dabei auch auf die Tendenz des Bewertens
an sich (d. h. auch der unvermeidliche Akt des Bewertens soll nicht bewertet werden).
Die Rolle der Akzeptanz
In achtsamkeitsbasierten Ansätzen kommt diesem Begriff eine besondere Bedeutung zu.
Meibert, Michalak und Heidenreich beschreiben Akzeptanz als eine Haltung, in der alle
Aspekte des Selbst so angenommen werden, wie sie sind [4]. Im Rahmen der Achtsamkeitsmeditation übt man, sich selbst mit seinen Stärken und
Schwächen zu akzeptieren und jeden Augenblick so anzunehmen, wie er sich zeigt. Fühlt
man sich beispielsweise gestresst und beginnt aus diesem Zustand heraus mit einer
Meditationsübung, bedeutet die Praxis der Achtsamkeit, dieses Gefühl des „Gestresstseins“
wahrzunehmen und zu akzeptieren – und sich nicht dafür zu verurteilen oder unter Druck
zu setzen, sich entspannen zu müssen. Akzeptanz bedeutet in diesem Zusammenhang jedoch
nicht, dass man jegliche Erfahrung in passiv-resignativer Haltung erdulden muss oder
den Wunsch nach Veränderung unterdrücken soll. Kabat-Zinn versteht unter Akzeptanz
„die Bereitschaft, Menschen und Geschehnisse möglichst unvoreingenommen, möglichst
frei von eigenen Interpretationen zu betrachten. Ein klarer, von Ängsten und vorgefassten
Meinungen ungetrübter Geist erkennt die wirklichen Anforderungen einer Situation ungleich
besser und ist in der Lage, entsprechend zu handeln“ ([5], S. 53).
Es gilt, seine Stärken und Schwächen zu akzeptieren und jeden Augenblick so anzunehmen,
wie er sich zeigt – ohne Wertung.
Zentrale Übungsformen
Die Vermittlung und Kultivierung von Achtsamkeit erfolgt auf der Basis einer intensiven
Schulung in formellen und informellen Übungen.
Formelle Übungen
Die wichtigsten Elemente der „formellen Praxis“ sind:
Im Rahmen dieser Übungen wird über einen zuvor festgelegten Zeitraum die Entwicklung
von Achtsamkeit trainiert. Hierbei geht es nicht darum, ein bestimmtes Ziel zu erreichen
oder eine Übung „richtig“ auszuführen. Die Praktizierenden werden stattdessen dazu
eingeladen, mit ihrer Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Augenblick zu bleiben, das Vorhandene
bewusst wahrzunehmen und eine akzeptierende Haltung einzunehmen. Schweift die Aufmerksamkeit
ab, so wird dies zunächst bewusst und nicht wertend zur Kenntnis genommen, bevor man
wieder sanft zur Übung zurückkehrt. Die einzelnen Elemente der formellen Praxis werden
im Folgenden detaillierter vorgestellt.
Die Aufmerksamkeit soll im gegenwärtigen Augenblick bleiben; schweift man ab, kehrt
man danach bewusst wieder zum Augenblick zurück.
Body-Scan
Bei dieser Übung lenken die Teilnehmer ihre Aufmerksamkeit zunächst einige Minuten
auf das Atmen. Danach wandern sie mit ihrer Aufmerksamkeit systematisch durch den
ganzen Körper. Die einzelnen Regionen werden möglichst bewusst und achtsam wahrgenommen.
Es geht dabei nicht darum, an die jeweiligen Körperteile zu denken, sondern in die
Körperregion hineinzuspüren und mit Achtsamkeit und einer nicht wertenden Haltung
das wahrzunehmen, was man im jeweiligen Moment spüren kann. Wenn man den jeweiligen
Körperteil nicht spürt, dann ist es genau dieses Nichtspüren was man wahrnehmen sollte.
Wichtig ist, dass es bei dieser Übung nicht um das Erreichen eines bestimmten Zustands
geht. Entspannung und Wohlbefinden können sich einstellen, sind aber nicht Ziel der
Übung. Ebenso „wertvoll“ ist die bewusste Wahrnehmung von Verspannung oder Unruhe.
Auch solchen Empfindungen wird mit einer Haltung möglichst großer Akzeptanz und Offenheit
begegnet.
Driftet die Aufmerksamkeit während der Übung ab, kehren die Übenden, sobald sie dies
registrieren, sanft wieder zur jeweiligen Körperpartie zurück, ohne sich dafür zu
verurteilen. So werden nacheinander alle Teile des Körpers mit Achtsamkeit „gescannt“.
Abschluss der Übung ist die Wahrnehmung des Gesamtkörpergefühls.
Insgesamt dauert der Body-Scan etwa 40 – 45 Minuten. Er kann im Sitzen oder Stehen
durchgeführt werden, erfolgt meist jedoch im Liegen. Nach dem Body-Scan, aber auch
nach allen weiteren Achtsamkeitsübungen, findet in der Gruppe ein ausführlicher Austausch
(engl. Inquiry) über die während der Übungen gemachten Erfahrungen statt. Der Therapeut
erkundet dabei die konkreten Erfahrungen im Körper und die gedanklichen Reaktionen
darauf. Auf dieser Grundlage werden dann auch mögliche Alternativen zu habituellen
Gedanken und Verhaltensmustern entwickelt.
Achtsame Körperarbeit
In der Regel werden einfache Übungen aus dem Hatha-Yoga vermittelt. Auch hier geht
es nicht um das richtige Ausführen der Bewegungsabläufe, sondern um eine achtsame
Körperwahrnehmung. Dabei lernen die Teilnehmer, ihre Grenzen bewusst zu spüren und
jene gewohnheitsmäßigen Gedankenmuster wahrzunehmen, die üblicherweise auftauchen,
wenn sie an ihre Grenzen stoßen (z. B. „Das schaffe ich niemals“ oder „Streng dich
mehr an“). Durch die achtsame und nicht wertende Haltung werden die Yogaübungen und
jede andere Form der Körperarbeit zur Meditation.
Bei körperlichen Einschränkungen ist es möglich, die betreffenden Übungen zur Körperwahrnehmung
abzuwandeln oder nur in der Vorstellung zu praktizieren.
Sitzmeditation
Diese Übung wird entweder auf einem Stuhl oder (wenn möglich) auf einem Meditationskissen
oder -bänkchen auf dem Boden durchgeführt. Die Übenden nehmen zunächst eine aufrechte
Haltung ein und lenken ihre Aufmerksamkeit auf ihre Atmung – genauer gesagt auf die
körperlichen Empfindungen, die mit der Atmung verbunden sind. Schweift die Aufmerksamkeit
zu Gedanken, Gefühlen oder anderen Körperempfindungen ab, wird dieses Abschweifen
bewusst und ohne sich dafür zu verurteilen wahrgenommen, bevor die Aufmerksamkeit
behutsam zum Atem zurückgeführt wird.
Die gesamte Aufmerksamkeit des Übenden liegt auf seiner (körperlich empfundenen) Atmung.
Es wird empfohlen, zunächst mit 5 – bis 10-minütigen Sitzmeditationen zu beginnen
und die Dauer allmählich zu steigern. Im weiteren Verlauf können durch entsprechende
Übung auch Sitzperioden von 30 – 45 Minuten und länger erfolgen und diese Meditation
kann dabei auf andere Erfahrungsbereiche ausgedehnt werden, wie z. B. auf:
Gehmeditation
Bei der Gehmeditation setzt man möglichst langsam einen Fuß vor den anderen. Dazu
sollten die Teilnehmer ein Tempo wählen, bei dem sie achtsam auf jeden einzelnen Bestandteil
der Bewegung und die damit verbundenen Empfindungen achten können. Zuvor legen sie
sowohl eine Zeitspanne fest, wie lange sie diese Meditation durchführen möchten, als
auch die Strecke, auf der sie üben wollen. Wichtig ist, dass es auch hier nicht darum
geht, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Am besten wählt man daher eine Strecke, die
man ungestört auf und ab gehen kann – ohne einen bestimmten Endpunkt im Hinterkopf
haben zu müssen.
Es geht nicht darum, ein bestimmtes Ziel zu erreichen.
Nachdem man die Gehmeditation anfangs zunächst als formale Übung praktiziert, kann
man sie später zu einer informellen Übung wandeln, indem man auch andere Strecken
im Alltag auf achtsame Weise zurücklegt.
Entspannung und Wohlbefinden können sich im Rahmen der formellen Übungen einstellen,
sind aber nicht das Ziel. Ebenso „wertvoll“ ist die bewusste Wahrnehmung von Verspannung
oder Unruhe. Auch solchen Empfindungen wird mit einer Haltung möglichst großer Akzeptanz
und Offenheit begegnet.
Informelle Übungen
Eine besondere Bedeutung kommt in achtsamkeitsbasierten Ansätzen der Integration von
Achtsamkeit in den Alltag zu. Um den Teilnehmern den Transfer zu erleichtern, suchen
sie sich zunächst eine einzelne Routinetätigkeit aus und führen diese in den darauffolgenden
Tagen jeweils in einer achtsamen Haltung aus. Entscheiden sie sich beispielsweise
für „achtsames Zähneputzen“, bedeutet dies:
-
bei jedem Zähneputzen spüren, wie sich die Zahnbürste in der Hand anfühlt
-
den Duft der Zahnpasta wahrnehmen
-
den Geschmack und die Konsistenz der Zahnpasta spüren
-
die Empfindungen und Bewegungen der Hand, die die Zahnbürste hält, beachten
-
wahrnehmen, wenn die Gedanken abschweifen und daraufhin nicht wertend mit der Aufmerksamkeit
zur Tätigkeit zurückkehren etc.
Mit zunehmender Praxis werden die Teilnehmer dann dazu ermutigt, jeder Alltagstätigkeit mit dieser achtsamen Haltung zu begegnen – egal ob es sich um etwas
Angenehmes handelt (z. B. einen Spaziergang im Wald) oder um eine eher „lästige“ Angelegenheit
(z. B. Wäsche waschen). Das konkrete Ziel der informellen Übungen besteht darin, das
Bewusstsein – so gut es geht – immer wieder in den gegenwärtigen Augenblick zu holen
und mit der aktuellen Tätigkeit in Übereinstimmung zu bringen, sodass sich Achtsamkeit
schließlich in allen Lebenssituationen und bei allen Tätigkeiten und Handlungen entwickeln
kann. Dies schließt auch die zwischenmenschliche Kommunikation, den Umgang mit schwierigen
Gefühlen und Gedanken sowie die Wahrnehmung angenehmer und unangenehmer Empfindungen
ein – ebenso wie die eigenen Reaktionen darauf.
Regelmäßige informelle Übungen erhöhen die Achtsamkeit in allen Lebenssituationen.
Die regelmäßige Durchführung der Übungen spielt sowohl in der formellen als auch in
der informellen Praxis eine Rolle, denn das kontinuierliche Praktizieren ist eine
zentrale Voraussetzung für die Entfaltung der Effektivität von Achtsamkeit [6].
Achtsamkeitsbasierte Therapieprogramme
Achtsamkeitsbasierte Therapieprogramme
In den vergangenen Jahren wurden verschiedene Verfahren entwickelt, in denen Achtsamkeit
von Bedeutung ist. Im Folgenden werden exemplarisch 5 etablierte verhaltenstherapeutisch
orientierte Ansätze vorgestellt, die das Achtsamkeitsprinzip in unterschiedlichem
Umfang integrieren:
Achtsamkeitsbasierte Verfahren. Bei den sog. achtsamkeitsbasierten Verfahren bildet Achtsamkeit das grundlegende Therapieprinzip. Formellen
und informellen Übungen kommt hierbei ein hoher Stellenwert zu. Beispiele hierfür
sind:
-
Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR)
-
Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT)
-
Mindfulness-Based Relapse Prevention (MBRP)
Achtsamkeitsinformierte Verfahren. In achtsamkeitsinformierten Verfahren werden Achtsamkeit und Akzeptanz dagegen zwar
ebenfalls gezielt vermittelt, jedoch eher als eines unter mehreren Behandlungsprinzipien
und zudem ohne formelle Meditationspraxis. Beispiele:
Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR)
Kabat-Zinn, ein ehemaliger Molekularbiologe, entwickelte Ende der 1970er-Jahre in
einem verhaltensmedizinischen Setting das „Mindfulness-Based Stress Reduction Program“
[1]
[5]. Er selbst hatte langjährige Meditationserfahrung und war einer der Ersten, der
das buddhistische Achtsamkeitsprinzip in den klinischen Kontext integrierte. Gedacht
war das MBSR-Programm ursprünglich für Patienten mit chronischen und stressbedingten
Erkrankungen. Mittlerweile liegen Hinweise auf die Wirksamkeit des Verfahrens bei
einer großen Bandbreite an körperlichen und psychischen Störungen vor.
Durchführung. Das Training wird in Gruppen von bis zu 30 Teilnehmern durchgeführt und umfasst 8
wöchentliche Sitzungen von jeweils 2 – 3 Stunden Dauer sowie einen gemeinsamen „Tag
der Achtsamkeit“. Hauptbestandteile des Programms sind die oben beschriebenen formellen
und informellen Übungen. Ergänzt werden diese durch psychoedukative Elemente – genauer
gesagt durch die Vermittlung wesentlicher Grundlagen aus der Stressforschung.
Formelle und informelle Achtsamkeitsübungen werden ergänzt durch Elemente aus der
Stressforschung.
Jede Sitzung hat dabei einen Themenschwerpunkt, in dessen Rahmen die Achtsamkeitsprinzipien
gemeinsam erarbeitet werden. In der 2. Sitzung geht es beispielsweise um das „kreative
Reagieren auf Lebenssituationen“ als Gegenpol zu dem bereits erwähnten Autopilotenmodus.
Um den Transfer der Erfahrungen in den Alltag zu erleichtern, sollten die Teilnehmer
darüber hinaus regelmäßig achtsamkeitsbezogene Hausaufgaben durchführen – im Idealfall
an 6 Tagen pro Woche für jeweils etwa 45 Minuten. Den thematischen Abschluss des Programms
bilden Strategien für die langfristige Integration des Achtsamkeitsprinzips in den
Alltag.
Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie (MBCT)
Segal, Williams und Teasdale entwickelten die „Mindfulness-Based Cognitive Therapy“
als Rückfallprophylaxe für ehemals depressive Patienten [7]. Theoretische Grundlage des Programms ist ein Modell der Autoren zu möglichen Mechanismen
im Prozess des Rückfallgeschehens [8]: Grundannahme ist, dass bei ehemals depressiven Personen bereits milde dysphorische
Zustände zu einer Reaktivierung negativer grüblerischer Denkmuster aus früheren Episoden
führen können. Segal et al. postulieren, dass die Kultivierung von Achtsamkeit dabei
hilft, dieses grüblerische Reaktionsmuster und die damit verbundenen negativen Gedanken
und Gefühle möglichst frühzeitig zu erkennen und aus diesen auszusteigen, indem sich
der Übende der lebendigen Erfahrung des Hier und Jetzt zuwendet [7].
Disidentification. Darüber hinaus soll durch Achtsamkeit eine Haltung gegenüber diesen inneren Erlebnissen
gefördert werden, die als „Disidentification“ bezeichnet wird. Das bedeutet, dass
Gedanken nicht als realitätsgetreue Abbilder der Wirklichkeit oder als valide Selbstaussagen
betrachtet werden, sondern als das, was sie sind: mentale Ereignisse. In diesem Zusammenhang
werden Aussagen wie „Gedanken sind keine Tatsachen“ oder „Ich bin nicht meine Gedanken“
formuliert. Gleiches gilt für Emotionen und körperliche Empfindungen.
Wichtig ist, Gedanken, Gefühle und körperliche Empfindungen nicht als realitätsgetreue
Abbilder der Wirklichkeit zu sehen, sondern als mentale bzw. körperliche Ereignisse.
Im Gegensatz zur klassischen kognitiven Therapie wird also keine Modifikation der
kognitiven Inhalte angestrebt, sondern eine Veränderung der Haltung gegenüber diesen
Gedanken und Empfindungen. Zentral ist dabei die Entwicklung von Akzeptanz und Offenheit.
Durchführung. Die Struktur des MBCT-Programms ähnelt derjenigen von MBSR: Die Behandlung wird in
Gruppen (max. 12 Patienten) durchgeführt und umfasst ebenfalls 8 wöchentliche Sitzungen
von jeweils ca. 2 Stunden Dauer sowie einen gemeinsamen „Tag der Achtsamkeit“.
In den ersten 4 Sitzungen geht es schwerpunktmäßig um das Erlernen und Einüben von
Achtsamkeit; im 2. Teil des Programms (Sitzung 5 – 8) wird die Behandlung verstärkt
durch klassische kognitive Interventionen ergänzt, wie z. B.:
-
Psychoedukation zum Thema Depression
-
Bedeutung von und Umgang mit automatischen Gedanken
-
Aufbau angenehmer Aktivitäten etc.
Voraussetzung für die Teilnahme am MBCT-Programm ist, dass die Patienten zu Behandlungsbeginn
nicht akut depressiv sind.
Zusätzlich werden die Patienten wie auch im MBSR-Programm dazu angeleitet, an 6 Tagen
pro Woche jeweils mindestens 45 Minuten formale Achtsamkeitsübungen zu praktizieren
und Achtsamkeit durch informelle Übungen in ihren Alltag zu integrieren. Vier Booster-Sitzungen,
die im Jahr nach dem Abschluss des 8-Wochen-Programms stattfinden, bieten den Patienten
darüber hinaus die Möglichkeit, sich zu treffen, gemeinsam zu üben und sich über Erfahrungen
auszutauschen.
Studienlage. In randomisierten, kontrollierten Studien konnte belegt werden, dass MBCT, verglichen
mit einer Routinebehandlung, die Rückfallgefahr bei ehemals depressiven Patienten
um ca. 59 % reduziert. Diese Reduktion der Rückfallrate zeigte sich jedoch ausschließlich
bei Patienten, die bereits 3 oder mehr depressive Episoden in der Vorgeschichte erlebt
hatten, nicht jedoch bei Patienten mit lediglich 2 bisherigen Episoden [9]
[10].
Ziel der MBCT ist nicht die Veränderung kognitiver Inhalte; es geht vielmehr um die
Modifizierung der Haltung diesen dysfunktionalen Kognitionen gegenüber. Kernelement
ist die Kultivierung von Akzeptanz und Offenheit.
Achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention bei Substanzabhängigkeit (MBRP)
Alan Marlatt und seine Kollegen erforschen bereits seit rund 2 Jahrzehnten die Integration
von Achtsamkeitspraxis in klassische Rückfallpräventionsprogramme für Suchterkrankte.
Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse entwickelten sie die achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention
(Mindfulness-Based Relapse Prevention, MBRP). Es handelt sich dabei um ein manualisiertes
Rückfallpräventionsprogramm [11], das speziell für Personen konzipiert wurde, die eine Erstbehandlung wegen einer
substanzbezogenen Störung erfolgreich abgeschlossen haben. Die MBRP setzt sich im
praktischen Teil aus kognitiv-behavioralen Strategien der klassischen Rückfallprävention
sowie Elementen der MBSR [1] und der MBCT [7] zusammen.
Durchführung. Im Format ähnelt das Programm den beiden letztgenannten Verfahren: Es finden 8 wöchentliche
Gruppensitzungen von jeweils etwa 2 Stunden Dauer statt. Hauptbestandteil sind auch
hier die oben beschriebenen formellen und informellen Achtsamkeitsübungen sowie psychoedukative
Aspekte (z. B. Wissensvermittlung über Craving, Identifikation von Hinweisreizen und
Hochrisikosituationen, Vermittlung von Bewältigungsstrategien etc.). In den ersten
3 Sitzungen geht es dabei schwerpunktmäßig um das Erlernen einer achtsamen Wahrnehmung
sowie um die Integration von Achtsamkeitstechniken in den Alltag. Die 3 darauffolgenden
Sitzungen konzentrieren sich auf die Akzeptanz von Wahrnehmungen und die Anwendung
von Achtsamkeitstechniken auf die Rückfallprävention. In den beiden letzten Sitzungen
geht es schließlich um Selbstfürsorge, die Unterstützung durch Netzwerke und um einen
ausgewogenen Lebensstil.
Psychoedukative Elemente ergänzen die formellen und informellen Achtsamkeitsübungen.
Urge Surfing. Die regelmäßige Achtsamkeitspraxis soll die Teilnehmer in die Lage versetzen, auf
interne und externe Reize weniger automatisiert zu reagieren. Eine wesentliche Rolle
spielt hierbei die von Marlatt [12] verwendete Metapher des „Urge Surfing“. Dabei sollen sich die Teilnehmer vorstellen,
das Verlangen sei eine Welle, die sich nach und nach aufbaut – und nach einer gewissen
Zeit auch wieder abflaut. Das Ziel besteht darin, durch Achtsamkeit und Akzeptanz
zu lernen, auf dieser Welle zu „surfen“ – ohne dem Verlangen nachzugeben und davon
„überrollt“ zu werden. Auf diese Weise können sie die Erfahrung machen, dass die Welle
irgendwann auch wieder kleiner wird, das Verlangen vorübergeht und sie durch die Kultivierung
einer akzeptierenden Haltung gegenüber psychischen und physischen (aus medizinischer
Sicht unbedenklichen) Entzugserscheinungen mehr Selbstwirksamkeit erlangen.
Die Teilnehmer sollen lernen, auf der „Welle“ des Verlangens zu surfen, bis diese
wieder abebbt.
Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT)
Die Acceptance and Commitment Therapy oder ACT (als ganzes Wort gesprochen) wurde
von Hayes, Strosahl und Wilson entwickelt [13]. Es handelt sich hierbei um einen verhaltensanalytischen störungsübergreifenden
Ansatz, der auf lerntheoretischen Annahmen basiert. Im Zentrum der Behandlung steht:
Den theoretischen Rahmen der ACT bildet die sog. „Relational Frame Theory“ (RFT; Bezugsrahmentheorie)
[13]
[14]. Diesem Ansatz zufolge bietet die menschliche Fähigkeit des Sprachgebrauchs nicht
nur Vorteile: So führt die Verwendung abstrakter Regelsysteme im Umgang mit innerer
Erfahrung (z. B. „Angst ist gefährlich und muss unter allen Umständen unter Kontrolle
gebracht werden“) u. a. dazu, dass flexibles, situationsangepasstes und erfahrungsoffenes
Verhalten unterbleibt. Die daraus resultierenden rigiden Verhaltensweisen, deren funktionaler
Kern oft in einer Vermeidung unangenehmer innerer Erfahrungen (Gedanken, Gefühle oder
Körperempfindungen) besteht („Experiential Avoidance“), bilden wiederum die Grundlage
für eine Vielzahl von psychischen Störungen und Erkrankungen. Psychisches Leiden ist
demnach nicht die Folge schwieriger Emotionen, irrationalen Denkens oder dysfunktionaler
Schemata, sondern entsteht, wenn wir unser Verhalten darauf ausrichten, aversives
inneres Erleben krampfhaft kontrollieren oder reduzieren zu wollen. Aus diesem Grund
wird im Rahmen der ACT nicht die Beseitigung, sondern die Akzeptanz dieser negativen
Erlebnisse angestrebt.
Angestrebt wird bei der ACT nicht die Beseitigung negativer Erlebnisse, sondern deren
Akzeptanz.
Die ACT umfasst dabei insgesamt 6 Behandlungsschritte (Tab. [1]) mit dem Ziel, größere psychologische Flexibilität und kontextuelle Kontrolle zu
erlangen.
Tabelle 1
Behandlungsschritte der Acceptance and Commitment Therapy.
Schritt
|
Inhalt
|
Akzeptanz
|
-
Akzeptanz unangenehmer Gefühle, Gedanken und Körperempfindungen
-
Die Patienten lernen, was sie schlecht kontrollieren können (inneres Erleben) und
was sie gut kontrollieren können (offenes Verhalten), wenn sie dazu bereit sind.
|
kognitive Defusion
|
|
Achtsamkeit
|
|
Selbst-als-Kontext
|
|
persönliche Werte
|
|
Commitment
|
-
konkrete Umsetzung eigener Werte durch aktives und engagiertes Handeln sowie das Einhalten
von Vorsätzen
-
Dabei lernen die Patienten innere Barrieren der Verfolgung ihrer Lebensziele nicht
zu bekämpfen oder zu überwinden, sondern sie auf dem Lebensweg mitzunehmen.
|
Obwohl das letztendliche Ziel von ACT nicht in der Reduzierung von Symptomen oder
Störungen im engeren Sinne besteht, sondern im Aufbau eines engagierten und sinnerfüllten
Lebens, zeigen fast alle klinischen Outcome-Studien, dass auch Symptombeschwerden
durch ACT statistisch signifikant abnehmen [14].
Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT)
Bei der Dialektisch-Behavioralen Therapie nach Linehan handelt es sich um einen multimodalen
störungsspezifischen Behandlungsansatz für Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung
[15].
Die DBT wurde als komplexes störungsspezifisches Interventionsprogramm für Borderline-Patienten
entwickelt.
Die Vermittlung von Achtsamkeit und Akzeptanz stellt hierbei neben anderen Therapieprinzipien
ein zentrales Behandlungselement dar. Das Verfahren entstand Anfang der 1980er-Jahre
im Zuge der Entwicklung eines ambulanten Behandlungsprogramms für chronisch suizidale
Patientinnen. Linehan konnte beobachten, dass bei dieser Patientengruppe klassische
behaviorale Behandlungsprinzipien nur schwer realisiert werden konnten: Veränderungsbemühungen
schlugen fehl – ebenso der Versuch, Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind [15]
[16]. Aus diesem Grund erschien es Linehan wichtig, Veränderungsstrategien und Akzeptanz
simultan und balanciert in der Therapie einzusetzen („zentrale Dialektik“): So erfahren
die Patienten einerseits, dass der Therapeut sie in ihrer Problematik versteht und
validiert – andererseits werden sie zu konkreten Veränderungen in ihrer Situation
motiviert.
Die DBT basiert auf Überlegungen zur „zentralen Dialektik“ (Balance zwischen Veränderung
und Akzeptanz) der Verhaltenstherapie.
Das Behandlungsvorgehen ist grundsätzlich in 2 Teile gegliedert:
Einzeltherapie. Im Rahmen der Einzeltherapie werden klinisch relevante Verhaltensweisen und Kognitionen
bearbeitet, wie der Umgang mit akuten Krisen, Suizidalität, parasuizidalem Verhalten,
Traumata und selbstschädigenden Verhaltensweisen.
Gruppentherapie. In der Gruppentherapie steht dann das Erlernen neuer Fertigkeiten im Vordergrund.
Dieses sog. „Skills-Training“ [17] beinhaltet 5 Module:
Im Achtsamkeitsmodul werden kurze Achtsamkeitsübungen durchgeführt, um Gefühl und
Verstand wieder in Übereinstimmung zu bringen sowie Kontrolle über die eigene Person
und eine innere Distanzierung von dysfunktionalen Kognitionen zu ermöglichen.
Es liegt eine Reihe von positiven Befunden zum Einsatz der DBT vor (s. u.). Allerdings
ist es aufgrund der Komplexität der Behandlung nicht möglich, den Beitrag der achtsamkeitsbasierten
Prinzipien am Gesamtbehandlungserfolg abzuschätzen.
Das therapeutische Vorgehen bei der DBT erfolgt in Einzel- und Gruppensitzungen.
Aktueller Stand der Forschung
Aktueller Stand der Forschung
Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Studien zur empirischen Überprüfung achtsamkeitsbasierter
Ansätze und das Forschungsfeld wächst rasch. Im Folgenden werden daher lediglich exemplarisch
einige zentrale Ergebnisse aus Übersichtsarbeiten und Metaanalysen vorgestellt.
Befunde aus klinischen Studien
Insgesamt gibt es konsistente Hinweise auf die Wirksamkeit achtsamkeitsbasierter und
-informierter Verfahren bei einer Vielzahl von körperlichen und psychischen Störungen
[18]. In Metaanalysen zeigten sich u. a. die folgenden Befunde:
-
Bei der Reduktion von Angst- und Depressionssymptomen ergeben sich für MBSR und MBCT
mittlere Effektstärken [19]. Spezifiziert man die Analyse auf Patienten mit Diagnosen aus dem Bereich der Angststörungen
oder affektiven Störungen, ergeben sich hohe Effektstärken, die mit denen aus Metaanalysen
zur kognitiven Verhaltenstherapie vergleichbar sind.
-
In der Metaanalyse von Piet und Hougaard zeigte sich, dass MBCT das Rückfallrisiko
für Patienten mit 3 oder mehr Episoden in der Vorgeschichte um 43 % senkt [20].
-
In einer aktuellen Metaanalyse zur DBT ergab sich eine moderate globale Effektstärke
und darüber hinaus eine moderate Effektstärke für suizidales und selbstschädigendes
Verhalten [21].
-
Metaanalytische Befunde zu ACT ergaben ebenfalls mittlere Effektstärken [22]. Dabei zeigte sich keine Überlegenheit von ACT gegenüber etablierten Therapieansätzen.
Zusammenfassend wird deutlich, dass es mittlerweile eine breite Befundlage zur Wirksamkeit
achtsamkeitsbasierter und -informierter Therapieansätze gibt. Allerdings zeigt sich
auch, dass die Effektivität der Verfahren nicht größer ist als diejenige etablierter
Therapieansätze. Es dürfte deshalb zunächst einiges dafür sprechen, diese Verfahren
v. a. bei schwierigen (therapierefraktären) und chronischen Störungsverläufen einzusetzen.
Bei solchen Patienten könnte ein therapeutischer Zugang, der verstärkt die Prinzipien
Achtsamkeit und Akzeptanz integriert, eine sinnvolle Alternative bilden.
Da die Effektivität der achtsamkeitsbasierten Therapieverfahren vergleichbar ist mit
der etablierter Therapieansätze, bietet sich die Behandlung v. a. bei Patienten mit
therapierefraktären oder chronischen Verläufen an.
Darüber hinaus ist zu bedenken, dass in den Primärstudien, die den Metaanalysen zugrunde
liegen, die Symptomreduktion erfasst wurde. Therapieverfahren wie ACT (aber mit Einschränkungen
auch achtsamkeitsbasierte Verfahren) sehen eine Symptomreduktion jedoch nicht als
primäres Therapieziel an. Vielmehr möchten diese Ansätze Patienten bei einer grundsätzlicheren
Neuorientierung ihres Lebens unterstützen.
Ziel der achtsamkeitsbasierten Therapieverfahren ist nicht in erster Linie die Symptomreduktion,
sondern die Hilfe zur Neuorientierung im Leben der Patienten.
Befunde aus neurowissenschaftlichen Studien
Auch die neurowissenschaftliche Forschung befasst sich seit einigen Jahren mit den
Effekten achtsamkeitsbasierter Interventionen. Aus Überblicksartikeln von Cahn und
Polich [23] sowie Chiesa und Serretti [24] geht beispielsweise hervor, dass Achtsamkeitspraxis im Gehirn zu folgenden Veränderungen
führt:
-
erhöhte Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit
-
Steigerung der Alpha- und Theta-Aktivität im EEG
-
Zunahme der Aktivität im präfrontalen Kortex (PFC) sowie im anterioren zingulären
Kortex (ACC)
-
erhöhte Konzentration der grauen Substanz in Hirnarealen, die für Aufmerksamkeitsleistungen
zuständig sind
-
weniger altersbedingte Abnahme der grauen Substanz in diesen Bereichen bei Personen
mit langjähriger Meditationserfahrung
Sowohl Cahn und Polich [23] als auch Chiesa und Serretti [24] weisen jedoch darauf hin, dass sich die neurowissenschaftliche Forschung zu den
Effekten achtsamkeitsbasierter Verfahren noch in ihren Anfängen befindet, und dass
diese Ergebnisse erst durch weitere und v. a. methodisch anspruchsvollere Studien
überprüft werden sollten.
Grenzen achtsamkeitsbasierter Verfahren
Abschließend wollen wir darauf hinweisen, dass achtsamkeitsbasierte Verfahren zwar
offensichtlich einen sehr breiten Indikationsbereich aufweisen, jedoch gibt es – wie
bei allen wirksamen therapeutischen Interventionen – auch im Rahmen achtsamkeitsbasierter
Verfahren Kontraindikationen.
Kontraindikationen am Beispiel der MBSR
MBSR wurde als ergänzendes Therapieangebot konzipiert und kann daher eine medizinische
oder psychotherapeutische Behandlung nicht ersetzen. Beim Vorliegen körperlicher oder
psychischer Symptome sollte daher immer zunächst die Indikation einer medizinischen
und/oder psychotherapeutischen Versorgung überprüft werden. Die alleinige Behandlung
mit MBSR ist v. a. bei Patienten mit psychotischen Krisen, akutem Substanzmissbrauch
oder akuter Suizidalität kontraindiziert. Letzteres vor allem deshalb, weil aufgrund
des gruppentherapeutischen Settings kein engmaschiges Monitoring gewährleistet werden
kann.
Bei Patienten mit körperlichen Erkrankungen, einer Schwächung aufgrund von Behandlungsmaßnahmen
(z. B. Chemotherapie) oder einer Traumatisierung sollte außerdem vorab sowohl mit
dem Patienten als auch mit dem behandelnden Arzt geklärt werden, ob die körperbezogenen
Achtsamkeitsübungen eine Überforderung für den Patienten darstellen. In diesem Fall
sollte das Programm entsprechend modifiziert werden.
Die Achtsamkeit des Therapeuten
Die Achtsamkeit des Therapeuten
Sollte ein Therapeut, der Achtsamkeit vermittelt, sie auch selbst praktizieren? Diese
Frage wird in den hier vorgestellten Ansätzen unterschiedlich beantwortet. Insbesondere
Vertreter der achtsamkeitsbasierten Verfahren betonen jedoch, dass theoretisches Wissen allein nicht ausreicht. Segal,
Williams und Teasdale weisen beispielsweise darauf hin, dass es für eine glaubhafte
Vermittlung der Achtsamkeitspraxis nötig sei, selbst Erfahrungen damit zu sammeln
und regelmäßig und kontinuierlich formelle Achtsamkeitsübungen zu praktizieren [25]. Ihrer Meinung nach „…brauchen die Lernenden das Gefühl, dass der Lehrer sowohl
die Fähigkeit als auch die Erfahrung mitbringt, mit den schwierigen Situationen umgehen
zu können, die zwangsläufig auftreten werden“ ([25], S. 71).
Für den Therapeuten kann es hilfreich sein, Achtsamkeit nicht nur mit den Patienten
zu üben, sondern auch selbst regelmäßig zu praktizieren.
Anfangs waren die Autoren in dieser Hinsicht zwar skeptisch und fragten sich, ob es
überhaupt nötig sei, selbst zu üben. Doch erst nachdem sie sich dazu entschlossen
hatten, wurde ihnen klar, wie viel sie ihren Patienten tatsächlich abverlangten. „An
manchen Tagen formierte sich ein geradezu einmaliges Aufgebot an Entschuldigungen,
um sich vor der Disziplin der täglichen Praxis eine Pause zu gönnen“ ([25], S. 71). Mit der eigenen Übung wuchs allerdings auch der Respekt für die Patienten
– „am meisten für jene, die immer zu kämpfen hatten und trotzdem jede Woche wieder
zur Sitzung erschienen“ ([25], S. 71).
Selbst Achtsamkeit zu praktizieren, erfordert also auch vom Therapeuten sehr viel
Durchhaltevermögen. Dabei gibt es jedoch erste empirische Hinweise darauf, dass eben
dieses Vorgehen zur eigenen Gesundheit beiträgt. Shapiro, Brown und Biegel untersuchten
beispielsweise in einer prospektiven, kohortenkontrollierten Studie, welchen Effekt
die Teilnahme an einem MBSR-Kurs auf das Befinden von Psychotherapeuten in der Ausbildung
hat [26]. Es zeigte sich eine statistisch signifikante Abnahme in Bezug auf Stress, negativen
Affekt, Rumination, State- und Trait-Angst sowie eine deutliche Zunahme von positivem
Affekt und Mitgefühl mit sich selbst (Self-compassion). Über eine positive Wirkung
der Achtsamkeitspraxis auf die physische und psychische Gesundheit von Psychotherapeuten
berichten auch Christopher und Maris in ihrer Zusammenfassung mehrerer qualitativer
Studien [27].
Die selbst praktizierte Achtsamkeit wirkt sich positiv auf das physische und psychische
Befinden des Therapeuten aus.
Hick und Bien gehen zudem davon aus, dass die Achtsamkeit des Therapeuten – unabhängig
von jeglicher Schulenzugehörigkeit – dazu beitragen kann, die therapeutische Beziehung
zu stärken und positiv zu beeinflussen [28]. Auch hierzu gibt es erste Untersuchungen. Grepmair et al. fanden in einer randomisierten,
kontrollierten Doppelblindstudie beispielsweise, dass Patienten von Psychotherapeuten,
die an einem Zen-Kurs teilnahmen, deutlich bessere Therapieergebnisse aufwiesen [29].
Fazit und Perspektiven
Die empirische Überprüfung achtsamkeitsbasierter Ansätze führte in den vergangenen
Jahren bereits zu vielversprechenden Ergebnissen. Das Element der Achtsamkeit scheint
in der Behandlung verschiedener psychischer Störungen von Bedeutung zu sein und hat
offensichtlich das Potenzial, herkömmliche verhaltenstherapeutische Verfahren gewinnbringend
zu ergänzen.
Einen wichtigen Einsatzbereich achtsamkeitsbasierter Ansätze sehen wir dabei für die
Zukunft auch in der Prävention. Hier liegt es nahe, die Effektivität dieser Verfahren
vor allem für solche psychischen Störungen zu überprüfen, bei denen ätiologisch betrachtet
Aspekte wie geringe metakognitive Awareness, Experiential Avoidance und Gedankenunterdrückung
eine Rolle spielen.
-
Unter Achtsamkeit versteht man die absichtsvolle, bewusste und nicht wertende Lenkung
der Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Augenblick. Grundsätzlich besitzt jeder diese
Fähigkeit und ist in der Lage sie weiter zu kultivieren.
-
In den vergangenen Jahren wurden verschiedene verhaltenstherapeutische und -medizinische
Verfahren entwickelt, die eine solche Achtsamkeitspraxis in unterschiedlichem Umfang
integrieren.
-
Die innerhalb dieser Ansätze verwendeten formellen Achtsamkeitsübungen wurden mit
nur geringen Veränderungen aus der mehr als 2500 Jahre alten Meditationstradition
des Buddhismus übernommen, ihre Durchführung ist prinzipiell allerdings nicht an einen
bestimmten spirituellen oder kulturellen Kontext gebunden.
-
Im Rahmen der formellen Übungen kann sich Entspannung und Wohlbefinden einstellen,
dies ist jedoch nicht das Ziel. Als ebenso „wertvoll“ wird die bewusste Wahrnehmung
unangenehmer Empfindungen betrachtet, da es im Rahmen der Achtsamkeitspraxis im Wesentlichen
darum geht, eine offene und akzeptierende Haltung gegenüber (positiven und negativen)
Gedanken, Gefühlen und körperlichen Empfindungen zu entwickeln.
-
Die empirische Überprüfung achtsamkeitsbasierter Verfahren hat gezeigt, dass sich
das regelmäßige Praktizieren formeller und informeller Achtsamkeitsübungen positiv
auf die physische und psychische Gesundheit auswirkt, und dass achtsamkeitsbasierte
Ansätze offensichtlich einen sehr breiten Indikationsbereich aufweisen.