Prof. Dr. Hans Joachim Salize
Die Sozialpsychiatrie hat eine glorreiche Vergangenheit, derer sie sich zu Recht rühmen
kann. Die Psychiatriereform der 1970er- und 1980er-Jahre bewirkte eine fundamentale
Veränderung der Lebensrealität einer der am massivsten benachteiligten Bevölkerungsgruppen
hierzulande, nämlich der chronisch psychisch Kranken. Die gesellschaftspolitische
Bedeutung dieser Leistung ist kaum zu überschätzen. Sie kann sich mit solch singulären
Kraftakten wie der Integration der Bevölkerung der früheren DDR in die sozialen und
wirtschaftlichen Strukturen der Bundesrepublik nach der 1990er-Wende messen.
Die psychiatrische Reformbewegung der damaligen Zeit verstand sich explizit als gesellschaftspolitische
Kraft. Ihr Impuls, die inhumanen und zynischen Bedingungen der Anstaltspsychiatrie
der Nachkriegszeit zu überwinden, hatte viele ihrer Wurzeln in der allgemeinen sozialen
und politischen Aufbruchstimmung der späten 1960er-Jahre.
Die Psychiatriereform entnahm einen Großteil ihrer wissenschaftlichen Fundierung und
Legitimation aus sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen oder philosophischen
Theorien. Diese deckten eine große – auch ideologische – Bandbreite ab und reichten
von den Schriften von Michel Foucault über Erving Goffman bis zu Franco Basaglia,
um nur einige der prominentesten Vertreter zu nennen. Die Bandbreite entsprach dem
damaligen theorie- und diskussionsfreudigen Klima, war aber auch einer notgedrungen
nur schwach entwickelten sozialpsychiatrischen Forschung geschuldet. Für fortschrittliche
und unter Praxisbedingungen funktionierende sozialpsychiatrische Versorgungsmodelle
war schlicht keine Evidenzbasis vorhanden, die als Leitlinie des Auf- und Ausbaus
von humanen Versorgungsstrukturen hätte dienen können.
Im heutigen ernüchterten Zeitgeist ist das damalige Klima und sein Reformschwung nur
noch schwer nachvollziehbar. Deshalb ist es auch aus heutiger Sicht schwierig zu beurteilen,
wieweit die sozialwissenschaftlich-philosophische Theoriefundierung und der gesellschaftspolitische
Impetus die konkrete Ausgestaltung der sozialpsychiatrischen Versorgungsrealität,
wie wir sie heute vorfinden, befördert haben oder welche Anteile davon eher abträglich
waren. Ungeachtet dessen klingt aber die sozial- und gesellschaftspolitische Programmatik
der damaligen Bewegung bis heute in der Namensgebung des Faches („Sozial“-Psychiatrie) nach und reklamiert allein dadurch schon eine fortdauernde Relevanz.
Aus der Perspektive ihres Erbes stellt sich die sozialpsychiatrische Realität heute
jedoch mehr als trist dar. Will man es pointiert ausdrücken, erscheint die heutige
sozialpsychiatrische Versorgung hierzulande als ebenso autarkes und erstarrtes System
wie die Anstaltspsychiatrie, als deren Gegenmodell sie einst entworfen worden ist
und die Goffman als totale Institution charakterisierte.
Dies ist eine steile These und verschärft bewusst die kürzliche Defizitanalyse an
dieser Stelle, die den Evidenzstau der vergangenen psychiatrischen Generation konstatierte,
die Entwicklung der letzten drei Dekaden insgesamt aber als Fortschritt wertete [1]. Der vorliegende Beitrag behauptet dagegen einen dramatischen Stillstand des Faches
Sozialpsychiatrie in theoretischer und versorgungspraktischer Hinsicht, der nicht
nur die Zukunftsfähigkeit des Faches akut gefährdet, sondern auch die Lebens- und
Versorgungsrealität der ihr anvertrauten Klientel. Belege für diese Hypothese gibt
es einige:
-
Deutschlandweit herrscht eine extreme Ungleichheit der rehabilitativen, gemeinde-
oder sozialpsychiatrischen Versorgungskonzepte und -standards [2]. Neben vielem anderem zeugt dies v. a. von der andauernden Abwesenheit einer Evidenzbasierung.
Dafür ist aber primär nicht etwa die Sozial- oder Gesundheitspolitik verantwortlich
zu machen, sondern das zuständige akademische Fach, d. h. die Sozialpsychiatrie selbst.
-
Das Ringen um den Ausbau und die Verbesserung der sozialpsychiatrischen Versorgungspraxis
und damit der Lebensbedingungen der Klientel ist in Deutschland eingestellt worden.
Die ambulante Soziotherapie, als eine der letzten neuartigen Versorgungsformen vor
ca. 10 Jahren eingeführt, dümpelt vor sich hin. Von einem flächendeckenden Ausbau
kann keine Rede sein [3]. Innovative Versorgungsstrategien werden im Ausland entwickelt und umgesetzt, wie
das Beispiel Assertive Community Treatment (ACT) zeigt. Dieser Ansatz wäre mehr als
geeignet, die Fragmentierung der psychiatrischen Versorgungslandschaft hierzulande
aufzubrechen und entspricht zudem konzeptionell dem gesundheitspolitisch nach wie
vor präferierten integrierten Versorgungsmodell. Die in Europa lebhaft geführte ACT-Debatte
findet jedoch in Deutschland keinerlei Widerhall. Der im letzten Herbst in Rotterdam
durchgeführte, mit über 600 Versorgungsexperten und -praktikern v. a. aus den Niederlanden,
Großbritannien und den skandinavischen Ländern besetzte erste internationale Kongress
für Assertive Outreach Treatment verzeichnete exakt einen einzigen Delegierten aus
Deutschland.
-
Bezüglich der integrierten Versorgung – eigentlich ein ideales Format für die Adressierung
zentraler sozialpsychiatrischer Versorgungsmängel – bestimmen die Finanzierungsträger
und Krankenkassen den Kurs. Als Resultat werden in den diversen Modellen Versorgungs-
und Budgetanteile zwischen Krankenhäusern, Institutsambulanzen und niedergelassenen
Psychiatern verschoben, während die wesentlichen sozialpsychiatrischen Versorgungssegmente
– betreute Wohnformen und berufliche Rehabilitation – unberücksichtigt bleiben. Mittlerweile
ist sogar die Pharmaindustrie innovativer und nutzt die von der Sozialpsychiatrie
gelassene Lücke, indem sie – wie im vielkritisierten Niedersächsischen Modell – den
Einbezug der ambulanten psychiatrischen Pflege in die integrierte Versorgung betreibt
und damit als Anbieter den Fuß in diesen Zukunftsmarkt setzt.
-
Auch einen Theorie- oder Paradigmendiskurs gibt es schon lange nicht mehr. Der zwingend
notwendige Paradigmenwechsel von der Akutversorgung und Rehabilitation zur Prävention
und psychiatrischen Gesundheitsförderung ist dadurch ausgeblieben. Er hätte spätestens
ab Mitte der 1990er-Jahre nach der erfolgreichen Etablierung der heute gültigen stationären,
ambulanten und rehabilitativen Versorgungsstrukturen intensiv betrieben werden müssen
– parallel zu einem kontinuierlichen Innovationsprozess, der die etablierten Strukturen
hinsichtlich ihrer Effektivität permanent hinterfragt.
-
Ebenso wenig ist die Ausweitung der etablierten Versorgungsstrukturen auf andere sozialpsychiatrisch
bedürftige Zielgruppen als die chronisch psychisch Kranken, über die sich die Sozialpsychiatrie
fast ausschließlich definiert, erfolgt. Dies wären z. B. psychisch kranke Wohnungslose
und andere gesellschaftlich marginalisierte Gruppen. Als Hemmnisse werden stets sozialrechtliche
Schranken angeführt, was aber nichts anderes bedeutet, als das Primat der Politik
vor der sozialpsychiatrischen Theorie und Praxis anzuerkennen.
-
Diese traurige Theorielosigkeit wird auch an dem Dreiklang von Wohnen, Arbeit und
Freizeit bzw. Sozialbeziehungen als den relevanten Ziel- und Wirkfeldern der Sozialpsychiatrie
deutlich. Anders als zu Beginn der Psychiatriereform werden heute die gesellschafts-
und sozialpolitischen Rahmenbedingungen, die diese Zielfelder determinieren und in
immer schnellerer Folge verändern, klaglos als Standards akzeptiert. Ihre Wechselbeziehung
mit der psychischen Gesundheit und Krankheit der Klientel wird nicht mehr hinterfragt
– trotz der großen theoriebildenden Debatten der Vergangenheit über die soziale Determiniertheit
oder Verursachung psychischer Störungen.
So hat die Sozialpsychiatrie die Einführung der Hartz-IV-Gesetzgebung unberührt an
sich vorüberziehen lassen, ohne auch nur annähernd die massiven Auswirkungen dieser
sozialrechtlichen Einschnitte auf die prekäre psychische Lage der Betroffenen zu thematisieren.
Stattdessen konnten sich die Jobcenter und Arbeitsagenturen ungestört in regelrechte
Durchlauferhitzer für psychiatrische Krankheitsbilder verwandeln, aus denen ein psychiatrischer
Dienst jedweder Couleur problemlos seinen Jahresbedarf an Klienten rekrutieren könnte.
Aber selbst wenn ein Dienst dies beabsichtigte, würde dies bedeuten, dass entsprechende
Schnittstellen zwischen Sozialpsychiatrie und Arbeitsverwaltung geschaffen worden
wären. Dies ist aber in drei Dekaden Sozialpsychiatrie nicht geschehen – obwohl Arbeit
ein zentraler rehabilitativer Baustein für psychisch Kranke ist.
-
Die Gemeindepsychiatrischen Verbünde – einst auch als Betreiber solcher Prozesse konzipiert
– haben sich stattdessen in heterogene Gebilde mit unspezifischer Zielrichtung verwandelt,
in denen es weitgehend nur um die Verteidigung des Etablierten und der Pfründe der
jeweiligen Akteure geht, gesellschaftliche und sozialpolitische Entwicklungen nicht
mehr antizipiert werden und vielfach ein Koordinationsaufwand betrieben wird, der
mehr Ressourcen bindet als er freisetzt.
Die Liste ließe sich mühelos weiter fortsetzen. Es ist zu hinterfragen, wie eine Bewegung,
die vor 30 Jahren praxisrelevante und nachhaltige Antworten auf gesellschaftspolitische
Kernfragen zu geben in der Lage war, den beschriebenen Niedergang nehmen konnte. Ein
gängiges Erklärungsmuster gibt dem Boom der biologischen Psychiatrie, die die universitäre
Forschung seit den späten 1980er-Jahren dominiert und die psychiatrische Wortführerschaft
übernommen hat, die Schuld. In der Tat wird der letzte verbliebene Lehrstuhl für Sozialpsychiatrie
in deutschsprachigen Ländern in Zürich demnächst mit der Emeritierung seines Inhabers
abgewickelt und in einen weiteren biologisch orientierten Lehrstuhl umgewandelt. Auf
die biologische Psychiatrie einzuschlagen greift aber zu kurz. Die fehlende Praxisrelevanz
und unerfüllten Versprechungen der Grundlagenforschung sind nicht die eigentliche
Ursache des Dilemmas, sondern sie verschärfen nur die Herausforderungen, der sich
die Psychiatrie insgesamt und die Sozialpsychiatrie im Besonderen in der nahen Zukunft
stellen muss.
Diese bestehen v. a. in den Folgen der sich rapide zuspitzenden globalen ökonomischen
Krise auf die psychosoziale Lage der Bevölkerung. Die gegenwärtige Burnout-Debatte
ist nur einer der ersten Indikatoren dafür, wie die Finanzkrise und der wachsende
Druck in der Arbeitswelt unmittelbar auf das Zuständigkeitsgebiet der Psychiatrie
durchschlagen [4]. Die zu erwartenden Zusammenbrüche ganzer europäischer Volkswirtschaften werden
vermutlich zu noch ganz anderen psychosozialen Verschärfungen führen und die psychiatrischen
Krankheitsraten massiv in die Höhe treiben.
Es ist evident, dass die Antwort der Psychiatrie darauf sich nicht in der weiteren
Erforschung von hirnorganischen Stoffwechselprozessen erschöpfen kann und auch nicht
darin, auf die sozialpsychiatrischen Errungenschaften der Vergangenheit zu verweisen.
Die Sozialpsychiatrie wird die gewaltigen gesellschaftlichen Herausforderungen der
Zukunft nicht lösen können, sie wird sich aber um des Preises der völligen Irrelevanz
und ihres Untergangs schnellstmöglich wieder in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang
stellen müssen.
Die beschriebenen jahrzehntelangen Versäumnisse werden nicht in kurzer Zeit zu kompensieren
sein. Ein Programm, das dieses leisten könnte, muss fundiert entwickelt und kann in
dem hier zur Verfügung stehenden Raum nur angerissen werden. An vorderer Stelle gehört
dazu die Wiederbelebung eines die realen Bedingungen antizipierenden analytisch-theoriebildenden
Diskurses. Dieser Diskurs muss – wie es schon zu Beginn der Psychiatriereform befruchtend
war – einen intensiven Dialog mit Disziplinen aufnehmen, die auf die gesellschaftspolitischen
Verhältnisse reflektieren. Das sind nicht Biochemie oder Genetik, sondern Soziologie,
Politologie, Ökonomie, Philosophie oder Anthropologie. Um diesen Dialog zu führen
und in praxisrelevante Handlungsstrategien zu übersetzen, braucht es vor allem Akteure,
denen die Unumgänglichkeit dieser Perspektive klar vor Augen ist. Diese müssen der
jetzt antretenden psychiatrischen Generation erwachsen. Sie wird eine Menge an politischer
Analysefähigkeit, sozialem Gewissen, Reformwillen und Begeisterung benötigen, um den
sozialpsychiatrischen Geist wiederzuerwecken, der schon einmal an einer entscheidenden
gesellschaftspolitischen Schnittstelle enorme gestalterische Kraft entwickelt und
die Zustände zum Besseren hin verändert hat.