Psychiatr Prax 2012; 39(05): 199-201
DOI: 10.1055/s-0032-1305090
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sozialpsychiatrie – wohin?

Social Psychiatry – Where Do You Go to?
Hans Joachim Salize
Arbeitsgruppe Versorgungsforschung, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim
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Prof. (apl) Dr. Hans Joachim Salize
Leiter Arbeitsgruppe Versorgungsforschung, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Medizinische Fakultät Mannheim, Universität Heidelberg
J5
68159 Mannheim

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Publication Date:
28 June 2012 (online)

 
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Prof. Dr. Hans Joachim Salize

Die Sozialpsychiatrie hat eine glorreiche Vergangenheit, derer sie sich zu Recht rühmen kann. Die Psychiatriereform der 1970er- und 1980er-Jahre bewirkte eine fundamentale Veränderung der Lebensrealität einer der am massivsten benachteiligten Bevölkerungsgruppen hierzulande, nämlich der chronisch psychisch Kranken. Die gesellschaftspolitische Bedeutung dieser Leistung ist kaum zu überschätzen. Sie kann sich mit solch singulären Kraftakten wie der Integration der Bevölkerung der früheren DDR in die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen der Bundesrepublik nach der 1990er-Wende messen.

Die psychiatrische Reformbewegung der damaligen Zeit verstand sich explizit als gesellschaftspolitische Kraft. Ihr Impuls, die inhumanen und zynischen Bedingungen der Anstaltspsychiatrie der Nachkriegszeit zu überwinden, hatte viele ihrer Wurzeln in der allgemeinen sozialen und politischen Aufbruchstimmung der späten 1960er-Jahre.

Die Psychiatriereform entnahm einen Großteil ihrer wissenschaftlichen Fundierung und Legitimation aus sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen oder philosophischen Theorien. Diese deckten eine große – auch ideologische – Bandbreite ab und reichten von den Schriften von Michel Foucault über Erving Goffman bis zu Franco Basaglia, um nur einige der prominentesten Vertreter zu nennen. Die Bandbreite entsprach dem damaligen theorie- und diskussionsfreudigen Klima, war aber auch einer notgedrungen nur schwach entwickelten sozialpsychiatrischen Forschung geschuldet. Für fortschrittliche und unter Praxisbedingungen funktionierende sozialpsychiatrische Versorgungsmodelle war schlicht keine Evidenzbasis vorhanden, die als Leitlinie des Auf- und Ausbaus von humanen Versorgungsstrukturen hätte dienen können.

Im heutigen ernüchterten Zeitgeist ist das damalige Klima und sein Reformschwung nur noch schwer nachvollziehbar. Deshalb ist es auch aus heutiger Sicht schwierig zu beurteilen, wieweit die sozialwissenschaftlich-philosophische Theoriefundierung und der gesellschaftspolitische Impetus die konkrete Ausgestaltung der sozialpsychiatrischen Versorgungsrealität, wie wir sie heute vorfinden, befördert haben oder welche Anteile davon eher abträglich waren. Ungeachtet dessen klingt aber die sozial- und gesellschaftspolitische Programmatik der damaligen Bewegung bis heute in der Namensgebung des Faches („Sozial“-Psychiatrie) nach und reklamiert allein dadurch schon eine fortdauernde Relevanz.

Aus der Perspektive ihres Erbes stellt sich die sozialpsychiatrische Realität heute jedoch mehr als trist dar. Will man es pointiert ausdrücken, erscheint die heutige sozialpsychiatrische Versorgung hierzulande als ebenso autarkes und erstarrtes System wie die Anstaltspsychiatrie, als deren Gegenmodell sie einst entworfen worden ist und die Goffman als totale Institution charakterisierte.

Dies ist eine steile These und verschärft bewusst die kürzliche Defizitanalyse an dieser Stelle, die den Evidenzstau der vergangenen psychiatrischen Generation konstatierte, die Entwicklung der letzten drei Dekaden insgesamt aber als Fortschritt wertete [1]. Der vorliegende Beitrag behauptet dagegen einen dramatischen Stillstand des Faches Sozialpsychiatrie in theoretischer und versorgungspraktischer Hinsicht, der nicht nur die Zukunftsfähigkeit des Faches akut gefährdet, sondern auch die Lebens- und Versorgungsrealität der ihr anvertrauten Klientel. Belege für diese Hypothese gibt es einige:

  • Deutschlandweit herrscht eine extreme Ungleichheit der rehabilitativen, gemeinde- oder sozialpsychiatrischen Versorgungskonzepte und -standards [2]. Neben vielem anderem zeugt dies v. a. von der andauernden Abwesenheit einer Evidenzbasierung. Dafür ist aber primär nicht etwa die Sozial- oder Gesundheitspolitik verantwortlich zu machen, sondern das zuständige akademische Fach, d. h. die Sozialpsychiatrie selbst.

  • Das Ringen um den Ausbau und die Verbesserung der sozialpsychiatrischen Versorgungspraxis und damit der Lebensbedingungen der Klientel ist in Deutschland eingestellt worden. Die ambulante Soziotherapie, als eine der letzten neuartigen Versorgungsformen vor ca. 10 Jahren eingeführt, dümpelt vor sich hin. Von einem flächendeckenden Ausbau kann keine Rede sein [3]. Innovative Versorgungsstrategien werden im Ausland entwickelt und umgesetzt, wie das Beispiel Assertive Community Treatment (ACT) zeigt. Dieser Ansatz wäre mehr als geeignet, die Fragmentierung der psychiatrischen Versorgungslandschaft hierzulande aufzubrechen und entspricht zudem konzeptionell dem gesundheitspolitisch nach wie vor präferierten integrierten Versorgungsmodell. Die in Europa lebhaft geführte ACT-Debatte findet jedoch in Deutschland keinerlei Widerhall. Der im letzten Herbst in Rotterdam durchgeführte, mit über 600 Versorgungsexperten und -praktikern v. a. aus den Niederlanden, Großbritannien und den skandinavischen Ländern besetzte erste internationale Kongress für Assertive Outreach Treatment verzeichnete exakt einen einzigen Delegierten aus Deutschland.

  • Bezüglich der integrierten Versorgung – eigentlich ein ideales Format für die Adressierung zentraler sozialpsychiatrischer Versorgungsmängel – bestimmen die Finanzierungsträger und Krankenkassen den Kurs. Als Resultat werden in den diversen Modellen Versorgungs- und Budgetanteile zwischen Krankenhäusern, Institutsambulanzen und niedergelassenen Psychiatern verschoben, während die wesentlichen sozialpsychiatrischen Versorgungssegmente – betreute Wohnformen und berufliche Rehabilitation – unberücksichtigt bleiben. Mittlerweile ist sogar die Pharmaindustrie innovativer und nutzt die von der Sozialpsychiatrie gelassene Lücke, indem sie – wie im vielkritisierten Niedersächsischen Modell – den Einbezug der ambulanten psychiatrischen Pflege in die integrierte Versorgung betreibt und damit als Anbieter den Fuß in diesen Zukunftsmarkt setzt.

  • Auch einen Theorie- oder Paradigmendiskurs gibt es schon lange nicht mehr. Der zwingend notwendige Paradigmenwechsel von der Akutversorgung und Rehabilitation zur Prävention und psychiatrischen Gesundheitsförderung ist dadurch ausgeblieben. Er hätte spätestens ab Mitte der 1990er-Jahre nach der erfolgreichen Etablierung der heute gültigen stationären, ambulanten und rehabilitativen Versorgungsstrukturen intensiv betrieben werden müssen – parallel zu einem kontinuierlichen Innovationsprozess, der die etablierten Strukturen hinsichtlich ihrer Effektivität permanent hinterfragt.

  • Ebenso wenig ist die Ausweitung der etablierten Versorgungsstrukturen auf andere sozialpsychiatrisch bedürftige Zielgruppen als die chronisch psychisch Kranken, über die sich die Sozialpsychiatrie fast ausschließlich definiert, erfolgt. Dies wären z. B. psychisch kranke Wohnungslose und andere gesellschaftlich marginalisierte Gruppen. Als Hemmnisse werden stets sozialrechtliche Schranken angeführt, was aber nichts anderes bedeutet, als das Primat der Politik vor der sozialpsychiatrischen Theorie und Praxis anzuerkennen.

  • Diese traurige Theorielosigkeit wird auch an dem Dreiklang von Wohnen, Arbeit und Freizeit bzw. Sozialbeziehungen als den relevanten Ziel- und Wirkfeldern der Sozialpsychiatrie deutlich. Anders als zu Beginn der Psychiatriereform werden heute die gesellschafts- und sozialpolitischen Rahmenbedingungen, die diese Zielfelder determinieren und in immer schnellerer Folge verändern, klaglos als Standards akzeptiert. Ihre Wechselbeziehung mit der psychischen Gesundheit und Krankheit der Klientel wird nicht mehr hinterfragt – trotz der großen theoriebildenden Debatten der Vergangenheit über die soziale Determiniertheit oder Verursachung psychischer Störungen.
    So hat die Sozialpsychiatrie die Einführung der Hartz-IV-Gesetzgebung unberührt an sich vorüberziehen lassen, ohne auch nur annähernd die massiven Auswirkungen dieser sozialrechtlichen Einschnitte auf die prekäre psychische Lage der Betroffenen zu thematisieren. Stattdessen konnten sich die Jobcenter und Arbeitsagenturen ungestört in regelrechte Durchlauferhitzer für psychiatrische Krankheitsbilder verwandeln, aus denen ein psychiatrischer Dienst jedweder Couleur problemlos seinen Jahresbedarf an Klienten rekrutieren könnte. Aber selbst wenn ein Dienst dies beabsichtigte, würde dies bedeuten, dass entsprechende Schnittstellen zwischen Sozialpsychiatrie und Arbeitsverwaltung geschaffen worden wären. Dies ist aber in drei Dekaden Sozialpsychiatrie nicht geschehen – obwohl Arbeit ein zentraler rehabilitativer Baustein für psychisch Kranke ist.

  • Die Gemeindepsychiatrischen Verbünde – einst auch als Betreiber solcher Prozesse konzipiert – haben sich stattdessen in heterogene Gebilde mit unspezifischer Zielrichtung verwandelt, in denen es weitgehend nur um die Verteidigung des Etablierten und der Pfründe der jeweiligen Akteure geht, gesellschaftliche und sozialpolitische Entwicklungen nicht mehr antizipiert werden und vielfach ein Koordinationsaufwand betrieben wird, der mehr Ressourcen bindet als er freisetzt.

Die Liste ließe sich mühelos weiter fortsetzen. Es ist zu hinterfragen, wie eine Bewegung, die vor 30 Jahren praxisrelevante und nachhaltige Antworten auf gesellschaftspolitische Kernfragen zu geben in der Lage war, den beschriebenen Niedergang nehmen konnte. Ein gängiges Erklärungsmuster gibt dem Boom der biologischen Psychiatrie, die die universitäre Forschung seit den späten 1980er-Jahren dominiert und die psychiatrische Wortführerschaft übernommen hat, die Schuld. In der Tat wird der letzte verbliebene Lehrstuhl für Sozialpsychiatrie in deutschsprachigen Ländern in Zürich demnächst mit der Emeritierung seines Inhabers abgewickelt und in einen weiteren biologisch orientierten Lehrstuhl umgewandelt. Auf die biologische Psychiatrie einzuschlagen greift aber zu kurz. Die fehlende Praxisrelevanz und unerfüllten Versprechungen der Grundlagenforschung sind nicht die eigentliche Ursache des Dilemmas, sondern sie verschärfen nur die Herausforderungen, der sich die Psychiatrie insgesamt und die Sozialpsychiatrie im Besonderen in der nahen Zukunft stellen muss.

Diese bestehen v. a. in den Folgen der sich rapide zuspitzenden globalen ökonomischen Krise auf die psychosoziale Lage der Bevölkerung. Die gegenwärtige Burnout-Debatte ist nur einer der ersten Indikatoren dafür, wie die Finanzkrise und der wachsende Druck in der Arbeitswelt unmittelbar auf das Zuständigkeitsgebiet der Psychiatrie durchschlagen [4]. Die zu erwartenden Zusammenbrüche ganzer europäischer Volkswirtschaften werden vermutlich zu noch ganz anderen psychosozialen Verschärfungen führen und die psychiatrischen Krankheitsraten massiv in die Höhe treiben.

Es ist evident, dass die Antwort der Psychiatrie darauf sich nicht in der weiteren Erforschung von hirnorganischen Stoffwechselprozessen erschöpfen kann und auch nicht darin, auf die sozialpsychiatrischen Errungenschaften der Vergangenheit zu verweisen. Die Sozialpsychiatrie wird die gewaltigen gesellschaftlichen Herausforderungen der Zukunft nicht lösen können, sie wird sich aber um des Preises der völligen Irrelevanz und ihres Untergangs schnellstmöglich wieder in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang stellen müssen.

Die beschriebenen jahrzehntelangen Versäumnisse werden nicht in kurzer Zeit zu kompensieren sein. Ein Programm, das dieses leisten könnte, muss fundiert entwickelt und kann in dem hier zur Verfügung stehenden Raum nur angerissen werden. An vorderer Stelle gehört dazu die Wiederbelebung eines die realen Bedingungen antizipierenden analytisch-theoriebildenden Diskurses. Dieser Diskurs muss – wie es schon zu Beginn der Psychiatriereform befruchtend war – einen intensiven Dialog mit Disziplinen aufnehmen, die auf die gesellschaftspolitischen Verhältnisse reflektieren. Das sind nicht Biochemie oder Genetik, sondern Soziologie, Politologie, Ökonomie, Philosophie oder Anthropologie. Um diesen Dialog zu führen und in praxisrelevante Handlungsstrategien zu übersetzen, braucht es vor allem Akteure, denen die Unumgänglichkeit dieser Perspektive klar vor Augen ist. Diese müssen der jetzt antretenden psychiatrischen Generation erwachsen. Sie wird eine Menge an politischer Analysefähigkeit, sozialem Gewissen, Reformwillen und Begeisterung benötigen, um den sozialpsychiatrischen Geist wiederzuerwecken, der schon einmal an einer entscheidenden gesellschaftspolitischen Schnittstelle enorme gestalterische Kraft entwickelt und die Zustände zum Besseren hin verändert hat.


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Leiter Arbeitsgruppe Versorgungsforschung, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Medizinische Fakultät Mannheim, Universität Heidelberg
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