Kontra
Prof. Dr. Sven Barnow
Linden u. Mitarb. gehen in ihrem dimensionalen Modell zur Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen
(PS) davon aus, dass eine Teilleistungsstörung des Emotionssystems, die früh erworben
wurde bzw. auch genetisch bedingt sein kann, psychische Störungen und speziell die
Entwicklung von PS begünstigen [1]
[2]. Deutlich würde dies durch die Interaktionsprobleme, speziell jedoch durch den unmittelbaren
Eindruck („first impression“) „als eigenartig oder unangemessen“, den solche Personen
bei ihren Interaktionspartnern auslösen. Linden versteht diese Defizite als unmittelbare
Folge einer emotionalen Teilleistungsstörung. Dabei wird postuliert, dass die Störung
der Affektregulation primär ist. Erst daraus resultieren (sekundär) Probleme in der
affektiven Kommunikation und Interaktion. Tertiär werden schließlich kognitive Schemata
herausgebildet (wie bspw. die von Beck [3] postulierten Grundannahmen „ich bin wertlos“, „ich bin nicht liebenswert“), die
letztendlich (quaternär) allgemeine Anpassungsprobleme (Psychopathologie) nach sich
ziehen. Dieses Stufenmodell geht also anders als viele kognitive Ansätze von einem
Primat der Emotion aus. Ich begrüße diesen Ansatz zutiefst, denn momentan werden Konzepte
favorisiert, die von einer durchgehenden Emotionskontrolle ausgehen und der Kognition
die entscheidende Bedeutung für zielorientiertes Handeln und seelische Gesundheit
beimessen. Dabei werden kognitive Faktoren oft überbewertet und emotionale Dimensionen
erscheinen als randständig.
Mein Hauptkritikpunkt bezieht sich eher darauf, dass Linden u. Mitarb. wenig konkret beschreiben, was sie
genau unter einer emotionalen Teilleistungsstörung verstehen. Handelt es sich dabei um Störungen der Generierung von Emotionen?; der
tatsächlichen oder erlebten Intensität von Basisemotionen?; oder willkürlichen bzw.
unwillkürlichen Regulation von Emotionen? Wo sollen sich diese minimalen Verarbeitungsdefizite
im Gehirn genau manifestieren: in Regionen des Präfrontalen Kortex (PFC)? oder eher
in subkortikalen Strukturen, die für die Bottom-up-Generierung von Emotionen zuständig
sein sollen (u. a. Amygdala, Übersicht s. [4]). Im ersteren Falle hätten wir es primär mit kognitiven Störungen zu tun (damit
wäre der Ansatz eigentlich auch ein „kognitiver“), im letzteren mit einer Störung
subkortikaler Strukturen, die eher mit der Generierung und Konditionierung von emotionalen
Prozessen in Verbindung gebracht werden.
Mein zweiter Kritikpunkt bezieht sich auf die Kausalitätsvermutung, die explizit im Modell vorgenommen wird.
Linden et al. [1]
[2] postulieren dabei ein Entwicklungsmodell, in dem bestimmte Entwicklungsstufen nacheinander
angeordnet werden. Dieser deterministische Ansatz ist empirisch kaum zu belegen und
auch schwer zu untersuchen. Es ist wenig wahrscheinlich, dass sich emotionale, kognitive
und interaktionale Probleme überhaupt eindeutig voneinander abgrenzen lassen. Das
Theoriekonzept beruht auch eher auf Beobachtungen aus dem klinischen Alltag, nach
denen Personen mit PS oft schon in der „first impression“ problematisch wirken (s. o.).
Die Autoren werten dies als Beleg für die Theorie der primär emotionalen Störung,
ohne jedoch einen überzeugenden experimentell überprüfbaren Ansatz darzustellen, der
die einzelnen Entwicklungsstufen nachvollziehbar macht.
Drittens bleibt es unklar, welche Vorhersagen das Modell genau tätigt, wie es sich falsifizieren
lässt und welche Alternativhypothesen das „First-impression“-Phänomen ebenso plausibel
erklären könnten. Zum Beispiel: Was während einer kurz andauernden Interaktionssituation
wahrgenommen und gefühlt wird, sind möglicherweise eher die Interaktionsbesonderheiten
und die sozialen Defizite von Personen mit PS. Solche Defizite oder Abweichungen im
Interaktionsverhalten werden offensichtlich sofort vom Gegenüber dechiffriert und
lösen Befremden, oftmals auch komplementäre Emotionen aus. In einer bisher noch nicht
veröffentlichten Studie unserer Arbeitsgruppe ließen wir bspw. Personen einen (genormten)
Wetterbericht vorlesen. Vier dieser Personen hatten eine PS (narzisstisch, histrionisch,
antisozial, selbstunsicher), 8 keine Störung. Die Ergebnisse zeigen, dass Probanden,
die diese etwa 20 s andauernden Filmsequenzen sahen und die jeweiligen „Vorleser“
bewerteten, Personen mit PS signifikant häufiger als „psychisch gestört“ einschätzten
im Vergleich zu den gesunden Filmpersonen. Besonders interessant war jedoch der Befund,
nachdem die jeweiligen PS komplementäre Emotionen bei den Betrachtern signifikant
häufiger auslösten (histrionisch: die Beobachter fühlten sich eher sexuell erregt,
bei gleichzeitiger Aversion gegenüber der Filmperson; selbstunsicher: diese Filmperson
löste hingegen stärker Gefühle wie Mitleid, Sympathie und Fürsorge aus [immer im Vergleich
zu den berichteten Emotionen bei den Filmpersonen ohne psychische Störung]).
Diese Befunde stützen zwar den klinischen Eindruck wie von Linden angenommen, was
sie aber genau bedeuten, lässt sich nicht eindeutig ableiten. Sie verdeutlichen jedoch
eine gewisse Funktionalität von Persönlichkeitsstörungsmustern, wenn beispielsweise
die selbstunsichere PS beim gegenüber Nachsicht und Fürsorge induziert, selbst in
einer normierten, eher neutralen Situation. In einer weiteren Studie gingen wir genau
andersherum vor: Diesmal zeigten wir Patienten mit Borderline-PS, depressiven Patienten
ohne PS und gesunden Kontrollen mehrere 10 s andauernde Filmclips, in denen zu sehen
war, wie eine Person (psychisch gesunde Studentinnen oder Studenten) einen Raum betrat
und sich wortlos setzte. Diesmal mussten die Probanden die jeweils gezeigten Filmpersonen
so schnell wie möglich auf verschiedenen Persönlichkeitsdimensionen bewerten (z. B.
freundlich, brutal, aggressiv usw.). Hierbei zeigte sich, dass Borderline-Patienten,
sowohl im Vergleich zu den gesunden als auch zu den depressiven Probanden, die Filmpersonen
als signifikant aggressiver und brutaler bewerteten [5]. Diese Befunde sind konsistent mit den Annahmen der kognitiven Theorie der PS von
Beck, denn dieser geht davon aus, dass bedingt durch die Grundannahmen von Borderline-Patienten
(u. a. „die Welt und andere sind feindselig“ und „ich bin vulnerabel und verletzlich“)
diese anderen Personen spontan als gefährlicher und bedrohlicher einschätzen.
Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Die Theorie einer primären emotionalen Teilleistungsstörung
bei Personen mit PS ist interessant, muss aber konkretisiert werden. Außerdem mangelt
es bisher an einer nachvollziehbaren Operationalisierung und damit Messmöglichkeit
von emotionalen Teilleistungsstörungen. Auch fehlen Belege für das vorgeschlagene
Entwicklungsmodell; hierzu wären längsschnittliche Studien notwendig. Linden stößt
mit seinem Modell jedoch eine hilfreiche Debatte an, indem er viel stärker auf die
Bedeutung emotionaler Prozesse bei PS abhebt.
Mein Beitrag ist also nicht direkt als Kontraschrift zu werten. Vielmehr möchte ich
weitere Forschung stimulieren und eine Konkretisierung des theoretischen Modells anregen.
Meine eigenen Vorstellungen beinhalten einen dimensionalen Ansatz, der stärker Aspekte
der Emotionsregulation berücksichtigt (Review s. [6]). Hierbei gehe ich von einem kontinuierlichen Zusammenspiel von Kognition und Emotion
aus, wobei jedoch zentral gedächtnispsychologische Befunde berücksichtigt werden.
In Anlehnung an Ideen der 2-System-Modelle, wie sie u. a. von Kahnemann [7] beschrieben worden sind, gehe ich davon aus, dass sich ein implizites System von
einem expliziten, eher kognitiven System unterscheiden lässt, wobei beide Systeme
zusammenwirken und sich mehr oder weniger gegenseitig beeinflussen. Während das (sehr
schnelle) implizite System assoziativ arbeitet und Aspekte des impliziten Gedächtnisses
repräsentiert (also u. a. unbewusste Schemata), ist das kognitive System an den expliziten
Gedächtnisinhalten orientiert und arbeitet deutlich langsamer (Wissen, Fakten, höherer
kognitiver Load). Ich vermute nun, dass die von Linden beschriebenen Besonderheiten
der „First impression“ bei PS eher dem impliziten System anzulasten sind (ich nenne
es bewusst NICHT affektives oder impulsives System). Emotionale und Verhaltenstendenzen
werden in kürzester Zeit (oft in weniger als einer Sekunde) auf Grundlage assoziativ
nahestehender Informationen ausgelöst. Das oft Irritierende in der „first impression“
bei Personen mit PS ließe sich damit dadurch erklären, dass diese so reagieren wie
sie es hoch automatisiert in den meisten Situationen gelernt und im impliziten Gedächtnis
abgespeichert haben, wobei keine Kontrolle durch das langsamere kognitive System erfolgt,
welches demzufolge für die „first impression“ weniger relevant ist.
Dies hat bedeutsame Implikationen: Ich unterscheide also nicht mehr zwischen Emotion
versus Kognition, sondern stattdessen zwischen verschiedenen Verarbeitungssystemen
(Gedächtnisstrukturen) im Gehirn. Psychische Störungen sind damit Störungen des impliziten
oder des explizit-kognitiven Systems bzw. deren Zusammenwirkens. Personen mit PS müssen
also weder emotionale Teilleistungsstörungen aufweisen, noch exekutive Einbußen zeigen,
sondern sind meiner Auffassung nach eher durch Störungen einzelner Verarbeitungssysteme
und der unzureichenden Integration unterschiedlicher Situationen gekennzeichnet, was
dann zu emotionalen und kognitiven Besonderheiten führt, die stabil und überdauernd
sind.