? Vorab bitte aus berufenem Munde: Wie viel Sport sollte jeder treiben und … tut der
Bürger das auch?
Die Deutsche Sportärzteschaft nennt als Mindestempfehlung dreimal pro Woche 30 Minuten
niedrig dosierten Ausdauersport. Das wäre sozusagen Pflicht für jeden, es sorgt dafür,
dass die Risiken für Diabetes, Herzinfarkt und so weiter deutlich gesenkt werden.
Drei mal 30 Minuten, das kann man wirklich schaffen. Wenn man aber sieht, was die
breite Masse so treibt, dann würde ich sagen, das viele weit davon entfernt sind.
? Also etwa Rad fahren?
Zum Beispiel. Welche Sportart man wählt, bleibt dem Einzelnen überlassen.
? Aber um was geht es hier genau? 30 Minuten flott mit dem Rad den Berg hoch oder
eher so ein bisschen um den Block?
Das kommt darauf an. Es geht um entspannten Ausdauersport. Für den Nicht-Geübten ist
Bergauf fahren meistens kein entspanntes Fahren, er fängt besser in der Ebene an.
? Davon trennen muss man wohl die Frage, was zu tun ist, um im Alter den Abbau von
Muskelmasse zu bremsen?
Korrekt. Da muss schon ein Kraft-Widerstands-Training her, bei dem man mit bis zu
85 Prozent seiner Muskelleistung übt. Studien konnten zeigen, dass durch regelmäßiges
Krafttraining z. B. Sturzgeschehen und Knochenbrüche im hohen Alter deutlich gesenkt
werden können.
? Muss ich dafür ins Fitnessstudio?
Das kommt auf Ihr Niveau an. Jemand, der gar nicht geübt ist, kann mit einigen Übungen
daheim anfangen.
? Kommen wir zur Kehrseite von Sport. "Junge Athleten leiden immer häufiger unter
Ermüdungsbrüchen" lautete eine Pressemeldung zum letzten DKOU. Nehmen Sportverletzungen
zu?
Nein, es gibt absolut gesehen keine Zunahme. Was wir hingegen neu beobachten, ist
eine Verschiebung hin zu Überlastungsschäden. Etwa eine Überlastung von Achilles-
oder Kniescheibensehne. Oder ein Ermüdungsbruch.
? Woran liegt das?
Das hat u. a. mit neuen Trendsportarten und leistungs- und wettkampforientiertem Breitensport
zu tun. Jeder kann heute Sport treiben, jedem wird eingeredet – geh los, kauf dir
ein paar Schuhe und laufe einen Halbmarathon. Das ist einerseits positiv. Doch legen
viele Ungeübte zu sehr einfach drauf los und wundern sich anschließend, dass z. B.
die Achillessehne weh tut.
? Das ist aber per se noch nicht gefährlich?
Kommt drauf an. Es gibt Sehnenscheidenreizungen, denen sie zwei, drei Wochen Ruhe
und Behandlung geben und das reicht. In vielen Fällen geht es aber um Sehnenumbaustörungen.
Die haben u. a. mit einer falschen Technik zu tun. Jemand kommt z. B. vom Fahrrad,
sagt, ich möchte jetzt laufen gehen, ist konditionell relativ gut, kauft sich irgendein
paar Laufschuhe legt los und kommt nach sechs Wochen mit Achillessehnenbeschwerden.
Da muss man dann anfangen zu suchen: Falscher Laufschuh, falscher Untergrund, falsche
Lauftechnik … man muss fragen, wie hat derjenige belastet, wo hat er sich belastet
und wie kann man das ändern, damit es nicht wieder kommt?
? Sind Aufwärmen und Dehnungsübungen wichtig?
Letztendlich fehlen die wissenschaftlichen Beweise. Im Endeffekt sagt man aber, der
Körper braucht sechs Minuten, bis er einen gewissen Steady State erreicht hat. Aufwärmen
und langsam loslegen macht daher Sinn. Viele steigen jedoch aus dem Auto, Schuhe an
… und Attacke.
? Bei Beschwerden zu wem?
Ab 35 Jahren sollte jeder, der irgendeine Form von Sport neu angeht, vorher zu einem
Arzt mit Kenntnissen in Sportmedizin gehen, um sich checken und beraten zu lassen.
Das muss nicht unbedingt einer sein, der Sport auf dem Schild stehen hat. Manchmal
reicht auch ein Hausarzt, der sportmedizinisch gut ausgebildet ist.
? Schon mit 35 Jahren?
Hätten Sie einen Porsche seit 35 Jahren in der Garage, würden Sie mit dem auch nicht
ohne vorherigen Check in Urlaub fahren. Es gibt beispielsweise die Borg-Skala, mit
der sich das subjektive Belastungsempfinden erfassen lässt. Auf einer Skala von "ich
bin überhaupt nicht angestrengt" bis … "mehr geht nicht". Bei Freizeitsportlern zeigt
sich regelmäßig: Die Hälfte denkt, dass sie noch ganz entspannt ist, während sie,
objektiv gesehen, längst im roten Bereich trainiert. Die Leute sind dann immer überrascht,
wenn man ihnen zeigt, guck mal, ab 10 Kilometer in der Stunde bist du schon in einem
roten Bereich, du rennst aber immer bei 13 und fühlst dich vermeintlich gut. Ausdauermedizinisch
gesehen ist das dann leider am Ziel vorbei. Daher zum Arzt – ein erfahrener Sportmediziner
wird Ihren optimalen Trainingsbereich ermitteln.
? Ehem, also noch eine kleine Igel-Leistung für Jedermann?
Die Kosten sind überschaubar. Ich rate dazu, weil ich glaube, dass Überlastungs- und
Spätschäden dadurch deutlich minimiert werden. Auch Kinder und Jugendliche sollten
vor dem Eintritt in einen Verein zu solch einer Untersuchung, falsches Training wäre
hier besonders fatal.
? In jedem Sportverein soll der Trainer seine Schützlinge vorher zu einem Check-Up
schicken?
Ja. Im Kader ist das längst Standard. Jeder Sportler, der im Landes- oder Bundeskader
ist, muss einmal im Jahr eine Kaderuntersuchung machen.
? Ist das aufwändig?
Nein, das ist zumindest orthopädisch eine Viertelstunde insgesamt vielleicht 45 Minuten.
Sie schauen beispielsweise, wie entwickelt sich die Wirbelsäule, die Beine, wie entwickelt
sich dieser Mensch und ist die Sportart, die er betreibt, für ihn die richtige? Ist
das jetzt überhaupt jemand, der zum Beispiel wirklich Speerwerfer werden sollte?
? Wonach beurteilen Sie das?
Es gibt Warnzeichen. Wenn Ihnen z. B. ein Sportler sagt, ich hatte zwei-, dreimal
letztes Jahr ein bisschen Rückenbeschwerden, dann sollten Sie ein Röntgenbild überdenken.
Finden Sie dann bei einem jungen Athleten womöglich eine Entwicklungsstörung mit einem
bestimmten Schweregrad in einem Lendenwirbelkörper, müssen Sie ihm und seinen Eltern
sagen: Du musst aus diesen Drehsportarten prinzipiell raus, oder fängst damit besser
gar nicht erst an: Kein Speerwurf, kein Hochsprung.
? Und der muss sich daran halten?
Bei Kader-Sportlern keine Frage. Wenn wir dem Verband sagen, er kriegt keine Sporttauglichkeitserklärung
für das kommende Jahr, dann ist das bindend. Diesbezüglich sind aber Mario Gomez oder
Fabian Hambüchen nicht anders gebaut als Fritz und Lieschen Müller um die Ecke. Jeder
Trainer sollte deshalb für so etwas ein waches Auge haben.
? Das ist jetzt wiederum ziemlich unverbindlich.
Idealerweise müsste man von jedem Vereins- und Übungsleiter fordern, dass gewisse
sportmedizinische Grundvoraussetzungen da sind, um mit Jugendlichen zu arbeiten.
? Ein Zertifikat, ich war da und dort in dem Kurs und weiß, welcher meiner Spieler
wann zum Arzt muss?
Wenn Sie so wollen …
? Wer soll das einführen? Der DFB?
Zum Beispiel.
Andererseits ist vieles bei Sportverletzungen bis heute umstritten. Einer der Gründe
scheint, dass es offenbar wenig valide Statistiken dazu gibt. Die offenbar größte
Stichprobe hierzulande kommt auf Größenordnungen, nach denen sich pro Jahr fünf von
100 Leuten, die Sport treiben, gravierend verletzen. Und König Fußball regiert bei
den Unfallursachen regelmäßig auf Platz 1 (Tab. [
1
]).
Das sehe ich grosso modo auch so. Generell zählen Hand-, Fuß- und Basketball zu den
gefährlichsten Sportarten. Man weiß: Eine High-Impact-Sportart ist eine mit direktem
Gegnerkontakt. Sobald der ins Spiel kommt, wird es gefährlich.
? Damit ist doch der medizinische Rat klar – besser kein Fußball, auch kein Handball?
Nein, wir verbieten niemandem seinen Sport. Natürlich ist Fußball gefährlicher als
Ausdauersport: Aber auch wer Ausdauer-Sport betreibt hat, relativ gesehen, wiederum
ein höheres Verletzungsrisiko als der, der gar nichts macht. Nein, angesichts der
Gesellschaft, in der wir leben, wäre ich froh, wenn all die übergewichtigen Kinder
Fußball spielten.
Und bitte: Wählen Sie einen Sport, der Spaß macht. Schick deinen Jungen Fußball spielen,
wenn er Spaß daran hat. Das ist viel besser, als der Nachbar, der seine Tochter Tennis
spielen lässt, die das zwar gar nicht mag, aber partout die neue Martina Navratilova
werden soll.
? Kriegt die Medizin denn heute zumindest jede Verletzung wieder hin?
Da hat sich enorm viel getan. Wenn Sie sich z. B. vor 30 Jahren das Kreuzband gerissen
haben, war das im Profisport möglicherweise das Karriereende. Heute ist man, egal
ob Profi oder Amateur, nach sechs bis neun Monaten wieder aktiv. Die meisten Sportverletzungen
sind heute reparabel. Mit Ausnahme von ganz schweren Knorpelverletzungen.
? Gibt es Anhaltspunkte, dass die Belastungen beim Sport generell steigen, damit Schwere
von Verletzungen und damit vielleicht auch das Risiko auf Spätschäden wie Arthrose?
Das wissen wir nicht, zum Teil weil die Daten fehlen oder weil sie widersprüchlich
sind. Es gibt aber zum Beispiel keine einzige Studie, die klar belegt, dass Marathonlaufen
auf Hochleistungsniveau ein erhöhtes Risiko für Hüftarthrosen mit sich bringt.
? Knorpel, der einmal weg ist, wächst nicht mehr nach.
Jede Gelenkverletzung mit Bandverletzungen und Knorpelschaden hat definitiv immer
eine Spätfolge, keine Frage.
? Was bleibt, ist Prävention. Die Arbeitsgemeinschaft Sicherheit im Sport (ASIS) legt
Faltblätter zur Prävention von Verletzungen im Sport auf.
Mir kein Begriff …
? Die sagen, man müsse Prävention sportartenspezifisch auslegen.
Ja sicher. Andererseits, sind einige wichtige Dinge gar nicht so sehr sportartenspezifisch.
Ein Hauptfehler, der z. B. immer noch bei allen Mannschaftssportarten gemacht wird,
bei denen Laufen eine gewisse Rolle spielt, ist, dass die so genannte Rumpfstabilisation
viel zu stiefmütterlich behandelt wird. Wenn ein Spieler rennt, springt und wieder
landet, vervielfachen sich die Reaktionskräfte des Aufpralls weiter oben. Das Knie
hat dann ungefähr das Dreifache, die Hüfte das Sechsfache an Körpergewicht zu tragen.
Abfangen muss das vor allem die Rumpfmuskulatur. Ist sie zu schwach, kippt das Becken
beim Landen etwas zur Seite und man wurschtelt sich irgendwo so hin. Das ist ein enormer
Risikofaktor für Überlastungsprobleme und Verletzungen der unteren Extremitäten. Und
das kann man trainieren.
Selbst im Profifußball sind solche Konzepte allerdings noch keine 25 Jahre alt. Jürgen
Klinsmann z. B. wurde 2006 belächelt, als er Spieler mit Gummibändern zwischen den
Beinen hat trainieren lassen. Heute ist diese so genannte Core Stability in fast jedem
Bundesligaverein Gang und Gäbe.
? Im Breitensport gibt es das bislang nicht?
Kaum. Dabei wäre das sehr wünschenswert. Da gibt es Übungen für Jedermann: Beim Zähneputzen
auf den Zehen stehen, mit dem einen Bein absolut ruhig stehen und mit dem anderen
Achter in die Luft zeichnen.
? Wo gibt es weitere Anleitungen für solche Übungen?
Etwa bei der FIFA. Die hat eine eigene medizinische Organisation, die F-MARC (Fifa
Medical Assessment and Research Centre). Die haben die so genannten 11+ aufgelegt
- 11 gymnastische Übungen, die jeder Fußballspieler problemlos machen kann. (Siehe:
http://de.fifa.com/aboutfifa/footballdevelopment/medical/playershealth/the11/index.html).
? Sieht so aus, als sei die Präven-tion von Verletzungen im Profisport heute viel
besser als im Breitensport?
Korrekt, dafür haben wir bei den Profis wieder andere Probleme.
? Welche?
Viele Verletzungen im Profisport haben heute oft keine Zeit, ausreichend zu regenerieren.
Gerade das, wofür wir Sportärzte immer gerühmt werden, dass wir den Muskelfaserriss
nach zwei Wochen wieder auf dem Feld haben, ein umgeknicktes Sprunggelenk nach drei
Wochen, das ist rein medizinisch gesehen oft fraglich.
? Das machen Sie beim VFB?
Natürlich nicht. Sobald wir davon ausgehen, dass wir die Gesundheit eines Sportlers
in irgendeiner Form nachhaltig schädigen, wenn er sich vorzeitig belastet, bleibt
der draußen. Das ist bei uns die unumstößliche Linie.
? Und sonst, gibt es keine Standards?
Nein. Das berühmteste Beispiel haben wir alle 2010 erlebt. Arjen Robben hat ein WM-Finale
gespielt, die Holländer haben gesagt, er kann spielen, der FC Bayern hatte ihn hingegen
damals für ein halbes Jahr rausgenommen. Wer auch immer Recht hat, so etwas gibt es
immer wieder. Der Profisport unterliegt einem wahnsinnigen medialen und finanziellen
Druck. Wir haben als Ärzte die Athleten wie Trainer im Genick. Jeder Sportler, der
wegen Verletzung auf der Bank sitzt, ist finanziell eine Katastrophe und es gibt entsprechend
Druck, dass man ihn möglichst schnell wieder fit hat.
? Und dann gibt es Kollegen, die ihre Schützlinge zu früh wieder auf den Rasen lassen?
Gibt es. Ich möchte mich hier aber nicht als Moralapostel aufspielen. Es ist einfach
ein schmaler Grat! Es sind übrigens oft auch die Sportler selber, die aufs Feld zurückgehen
wollen, obwohl sie ihnen gerade gesagt haben, dass sie Pause machen sollen. Und oft
suchen sie sich dann auch gerne den Arzt heraus, der ihnen die Antwort gibt, die ihnen
am besten gefällt. Ich habe z. B. unlängst einen Athleten am Kreuzband operiert, der
mir erklärte, es gebe Ärzte, die schafften das in vier Monaten. Das ist nicht seriös
– sechs Monate minimum sind im Mannschaftssport nötig. Wir wissen, dass ein operiertes
Kreuzband nach etwa drei bis vier Monaten seine schwächste Zeit hat. Da tobt ein Wettkampf
um die kürzeste Versorgungszeit. Wenn Sie als Sportarzt da nicht ihre Grenze kennen,
an der sie unverhandelbar stoppen, dann verlieren Sie sich möglicherweise. Wir brauchen
meines Erachtens eine neue Debatte um internationale Standards.