Einleitung
Im Jahr 2010 lag die geschätzte globale Tuberkulose-Inzidenz bei 8,8 Millionen Neuerkrankungen.
Schätzungsweise 10 % dieser Fälle waren Kinder [1]. In Deutschland erkrankten 2009 146 Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren an einer
Tuberkulose. Dies entspricht einer Inzidenz von 1,3 pro 100 000 Kinder [2].
Nach engem Kontakt mit Personen, die an einer ansteckungsfähigen Tuberkulose erkrankt
sind, haben Kinder ein höheres Infektionsrisiko für Mycobacterium tuberculosis als Erwachsene [3]. Obwohl es in den meisten Fällen bei einer latenten Tuberkulose-Infektion (LTBI)
bleibt, beträgt die Wahrscheinlichkeit, in den ersten 2 Jahren nach Infektion eine
aktive Tuberkulose zu entwickeln, bei Kindern unter 5 Jahren bis zu 40 % [4]. Die Therapie von LTBI, insbesondere bei Personengruppen mit einem erhöhten Manifestationsrisiko,
ist essenzieller Bestandteil der Strategie zur Tuberkulose-Elimination [5].
Bekannte Probleme des Tuberkulin-Hauttests (THT) sind die Kreuzreaktivität mit dem
BCG-Impfstamm und mit nichttuberkulösen Mykobakterien. Weitere Nachteile des THT sind
ein Booster-Effekt bei wiederholter Durchführung, die Gefahr der Fehlinterpretation
des Hautbefundes und die Tatsache, dass ein zweiter Arztbesuch zur Auswertung des
THT notwendig ist.
2007 hat das Deutsche Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose die Interferon-gamma
Release Assays (IGRA) in ihre Empfehlungen zur Testung von Kontaktpersonen auf LTBI
aufgenommen und in der aktuellsten Fassung einen altersadaptierten Algorithmus für
die Umgebungsuntersuchung vorgeschlagen [6]. Aufgrund der im Vergleich zum THT höheren Spezifität und geringerer praktischer
Probleme sind IGRA bei Erwachsenen hier inzwischen fest etabliert.
Für Kinder und Jugendliche existieren zwar Daten zum Einsatz von IGRA bei der Umgebungsuntersuchung,
aber keine ausreichende Evidenz für ihre diagnostische Wertigkeit vor allem bei jungen
Kindern, die mit Verdacht auf aktive Tuberkulose in einem klinischen Setting untersucht
werden. Neben klinischer, radiologischer, mikrobiologischer und ggfs. histologischer
Untersuchung wurde daher bei Patienten unter 5 Jahren im Rahmen der Diagnostik auf
latente oder aktive Tuberkulose bislang primär die Durchführung eines THT – ggfs.
gefolgt von einem IGRA – empfohlen [7]. Ziel unserer Studie war die retrospektive Analyse von Sensitivität und Spezifität
der IGRA im Vergleich mit Tuberkulin-Hauttests bei einer lokalen Serie von Kindern
verschiedener Altersgruppen und Jugendlichen, die mit Verdacht auf Lungentuberkulose
in unserem Zentrum vorgestellt wurden.
Patienten und Methoden
Retrospektiv wurde die von 2009 – 2011 in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
des HELIOS Klinikums Emil von Behring durchgeführte Tuberkulose-Diagnostik bei stationär
und ambulant behandelten Kindern und Jugendlichen im Alter von 0 – 17 Jahren analysiert.
Für diese Auswertung wurden die Ergebnisse von IGRA und THT mit den Befunden der mikrobiologischen
und radiologischen Diagnostik korreliert.
Als Diagnosekriterium für eine aktive Tuberkulose (MTB) wurde entweder der kulturelle
Nachweis von Erregern des Mycobacterium tuberculosis-Komplexes oder das Vorliegen von typischen radiologischen Veränderungen in Kombination
mit einem positiven THT und/oder IGRA bei entsprechender Exposition festgelegt.
Als Diagnosekriterium für eine latente Tuberkulose-Infektion (LTBI) wurde ein positiver
IGRA und/oder THT ohne radiologische Veränderungen bzw. mikrobiologischen Erregernachweis
definiert bei bekannter Kontaktanamnese.
Die IGRA-Diagnostik wurde mittels des QuantiFERON-TB Gold in Tube® (Cellestis, Carnegie, Australia) nach den Produktempfehlungen des Herstellers durchgeführt.
Als Grenzwert für einen positiven Test wurde der vom Hersteller angegebene Wert von
> 0,35 IU/ml verwendet.
Die THT-Diagnostik wurde durch intrakutane Injektion von 2 Einheiten Tuberkulin RT23
(Statens Serum Institut, Kopenhagen, Dänemark) durchgeführt. Bei der Ablesung nach
72 Stunden wurde der mittlere Durchmesser der Induration in mm dokumentiert. Als positiver
Test galt (gemäß [7]
[8] und den Empfehlungen von DZK und DGPI) bei Kindern mit engem Tuberkulose-Kontakt,
HIV-Infektion oder pathologischem Röntgenbefund eine Induration von > 5 mm, bei Kindern
mit Kontakt zu Tuberkulose-Risikopopulationen, dokumentierter THT-Konversion innerhalb
der letzten 2 Jahre oder Kindern unter 4 Jahren ohne Kontaktanamnese eine Induration
≥ 10 mm und bei BCG-Geimpften sowie Kindern ab 4 Jahren ohne Exposition eine Induration
≥ 15 mm. Komplette Datensätze waren von insgesamt 80 Kindern und Jugendlichen der
folgenden Diagnose-Gruppen verfügbar: 13 Patienten mit einer aktiven Lungentuberkulose,
15 Patienten mit einer latenten Tuberkulose-Infektion, 40 Patienten mit Tuberkulose-Exposition,
zwei Patienten mit einer nichttuberkulösen Mykobakteriose (NTM) und 10 Patienten mit
anderen Lungenerkrankungen. Das Alter der Kinder und Jugendlichen lag zwischen 3 Monaten
und 17 Jahren (Median 6 Jahre), die Altersverteilung der einzelnen Diagnose-Gruppen
ist in [Tab. 1] wiedergegeben. Die Untergruppe der Säuglinge und Kleinkinder (0 – 5 Jahre) umfasste
37 Kinder.
Tab. 1
Ergebnisse von Interferon-gamma Release Assay (IGRA) und Tuberkulin-Hauttest (THT)
nach Diagnosegruppen.
|
|
|
IGRA
|
THT
|
|
N
|
Alter[1]
[Jahre]
|
Positiv
|
Negativ
|
Interferon-γ[1]
[IU/ml]
|
Positiv
|
Negativ
|
|
MTB
|
13
|
13 (1 – 17)
|
13 (100 %)
|
0 (0 %)
|
8,32
|
13 (100 %)
|
0 (0 %)
|
|
LTBI
|
15
|
8 (2 – 17)
|
14 (93 %)
|
1 (7 %)
|
3,92
|
14 (93 %)
|
1 (7 %)
|
|
Kontrollen
|
52
|
4 (0,25 – 17)
|
0 (0 %)
|
52 (100 %)
|
0,01
|
3 (6 %)
|
49 (94 %)
|
1 Median
Ergebnisse
Alle 13 Patienten mit aktiver Lungentuberkulose reagierten sowohl im IGRA als auch
im THT positiv. Der Median im IGRA lag in dieser Gruppe bei 8,32 IU/ml (Spannweite
1,09 – 21,6 IU/ml), die Einzelergebnisse sind in [Abb. 1] dargestellt. Somit betrug die Sensitivität beider Verfahren für den Nachweis einer
aktiven Lungentuberkulose in unserer kleinen Studienpopulation 100 %.
Abb. 1 Streuung der IGRA-Werte in Abhängigkeit von Alter und Diagnosegruppe.
In der Gruppe mit LTBI reagierten 14 von 15 im IGRA und 14 von 15 im THT positiv.
Die mediane Interferon-Freisetzung im IGRA betrug in der LTBI-Gruppe 3,92 IU/ml (Spannweite
0,3 – 93,8 IU/ml), es traten zwei Fälle von Diskordanz zwischen IGRA und THT auf.
Bei einem 8-jährigen Kind mit Tuberkulosekontakt betrug der IGRA-Wert 1,1 IU/ml, während
der THT negativ ausfiel. Im zweiten Fall (9 J.) wurde im THT eine Induration von 15 mm
nachgewiesen, während das Ergebnis des IGRA mit 0,3 IU/ml unterhalb des Cut-off (0,35 IU/ml)
lag.
In der mitanalysierten Vergleichsgruppe von 52 Patienten mit Tuberkulose-Exposition
ohne Hinweis auf Infektion, NTM-Infektionen oder anderen Lungenerkrankungen reagierte
keiner im IGRA positiv (Median 0,01 IU/ml, Spannweite 0,00 – 0,21 IU/ml), während
drei Patienten einen positiven THT zeigten. Dies betraf zwei Kinder mit dokumentierter
BCG-Impfung und einen Patienten mit nachgewiesener NTM-Infektion, der IGRA-Wert lag
in diesen drei Fällen bei 0,00 IU/ml. Die Spezifität in dieser Studie betrug für den
IGRA somit 100 %, für den THT 94,2 % (vgl. [Tab.1]).
Betrachtet man gesondert die Gruppe der jungen Kinder von 0 – 5 Jahren (n = 37), so
reagierten alle 5 Patienten mit aktiver oder latenter Tuberkulose-Infektion im IGRA
positiv. Dies betraf sowohl die MTB-Gruppe (n = 3, Interferon-Werte 6,2 – 10,0 IU/ml)
als auch die LTBI-Gruppe (n = 2, Interferon-Werte 18,0 – 93,4 IU/ml). Die übrigen
32 Kleinkinder gehörten der Vergleichsgruppe an.
In unseren Studiendaten zeigte sich kein signifikanter Unterschied im IGRA-Ergebnis
zwischen den Patientengruppen mit aktiver Tuberkulose oder latenter Tuberkuloseinfektion.
Die Einzelwerte in Relation zum Patientenalter sind in [Abb. 1] wiedergegeben, ein systematischer Zusammenhang zwischen Alter und Interferon-gamma-Freisetzung
war – auch aufgrund der geringen Fallzahl – nicht ersichtlich.
Diskussion
In unserer Lungenklinik mit Spezialambulanz wurden innerhalb von 2,5 Jahren insgesamt
80 Kinder und Jugendliche aufgrund ihrer Kontaktanamnese, klinischer Symptome oder
auffälliger Vorbefunde auf das Vorliegen einer latenten oder aktiven Tuberkulose-Infektion
untersucht. Diese unselektierte Serie mit breitem Altersspektrum bot die Möglichkeit,
die Ergebnisse der parallel durchgeführten Hauttests und IGRA vergleichend auszuwerten
und mit der abschließenden diagnostischen Zuordnung im Sinne von Sensitivität und
Spezifität zu korrelieren.
Dabei zeigten beide Verfahren in der Gruppe der MTB-Patienten (n = 13) eine hohe Sensitivität,
analog zu den Ergebnissen früherer Studien bei Kindern und Jugendlichen [9]
[10]
[11].
In der LTBI-Gruppe sahen wir 2 Fälle mit diskordantem Ergebnis. Beim ersten Patienten
(enger Kontakt, THT negativ, IGRA positiv, Röntgen unauffällig) haben wir dies als
falsch negativen Hauttest gewertet. Im zweiten Fall (enger Kontakt, THT positiv, IGRA
0,3 IU/ml) war eine spezifische Interferon-Freisetzung messbar, die jedoch unter dem
vom Hersteller angegebenen cut-off lag. Wie alle anderen Biomarker zeigen auch IGRA-Ergebnisse
eine stetige Verteilung, sodass Grenzwerte naturgemäß mit dem Risiko von α- und β-Fehlern
behaftet sind. Dies muss bei der individuellen Interpretation und Therapieentscheidung
berücksichtigt werden.
Aus den Ergebnissen unserer Vergleichsgruppe errechnete sich eine Spezifität des IGRA
von 100 % gegenüber 94 % für den THT. Ursächlich hierfür waren, wie in anderen Studien
beschrieben [12]
[13]
[14]
[15], positive Hautteste bei Kindern mit Zustand nach BCG-Impfung (n = 2) oder nichttuberkulöser
Mykobakteriose (n = 1).
Obwohl die BCG-Impfung von der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Institut
seit 1998 nicht mehr empfohlen wird, ist ein relevanter Anteil der aus Tuberkulose-Hochprävalenzregionen
stammenden Kinder dort geimpft worden. Die BCG-Impfung ist in vielen Ländern noch
Teil des jeweiligen nationalen Impfprogrammes, da die Impfung Kleinkindern einen gewissen
Schutz vor der tuberkulösen Meningitis, der Miliartuberkulose und der nichttuberkulösen
Lymphadenitis bietet [16]
[17]. Die Tuberkulose-Inzidenz war 2010 in Deutschland bei Kindern mit ausländischer
Staatsangehörigkeit etwa 7-mal höher als bei deutschen Kindern (6,3 vs. 0,9 pro 100 000)
[2]. Da die Spezifität des THT in dieser zum größten Teil BCG-geimpften Bevölkerungsgruppe
deutlich niedriger ist, sollten IGRA bei ihnen parallel zu Diagnostik und Screening
und auf jeden Fall zur Verifizierung eines positiven THT eingesetzt werden [6].
Seitdem die BCG-Impfung in Niedrigprävalenzregionen nicht mehr Teil der nationalen
Impfprogramme ist, ist es in diesen Ländern zu einem Anstieg der nichttuberkulösen
Mykobakteriosen gekommen [18]
[19]
[20]. Auch in der sehr kleinen Population (n = 2) von NTM-Patienten in unserer Studie
beobachteten wir einen positiven THT.
Die diagnostische Wertigkeit von IGRA bei jungen Kindern bis 5 Jahren ist weiterhin
nicht eindeutig geklärt. Hier gibt es kontroverse Ergebnisse: Einzelne Studien zeigten
ein geringeres Ansprechen bei Kleinkindern [8]
[12]
[21], andere fanden keinen signifikanten Einfluss des Patientenalters auf die Interferon-Freisetzung
[7]
[11]. Soweit der begrenzte Umfang unserer Studie eine Beurteilung zulässt, zeigten die
Ergebnisse des IGRA keine systematische Altersabhängigkeit (vgl. [Abb. 1]). Alle 5 Kinder mit MTB oder LTBI in der Altersgruppe von 0 bis 5 Jahren zeigten
hohe Interferon-Werte, die Zahlen sind jedoch eindeutig zu gering, um eine Aussage
über den diagnostischen Nutzen von IGRA in der Tuberkulose-Diagnostik von Kleinkindern
ableiten zu können.
In Bezug auf die latente Tuberkuloseinfektion (LTBI) beeinträchtigt das Fehlen eines
unabhängigen diagnostischen Goldstandards die Formulierung einer Aussage bezüglich
Sensitivität und Spezifität von THT und IGRA. Die Zahlen aus unserer Kohorte wurden
dennoch präsentiert, da das Risiko einer aktiven Tuberkulose und somit der Nutzen
einer Chemoprävention bei infizierten Kindern höher ist als bei Erwachsenen.
Insbesondere bei spezifischen Risikofaktoren und Tuberkulose-Exposition sollten sowohl
THT als auch IGRA angewandt werden. Bei inkongruenten Ergebnissen zwischen beiden
Testverfahren, insbesondere wenn nur der THT positiv ausfällt, müssen bekannte Einflussfaktoren
wie BCG-Impfung oder NTM-Infektion ausgeschlossen und eine unnötige Therapie vermieden
werden, wie bereits für die Umgebungsuntersuchung empfohlen [6]. Unklar ist weiterhin, ob bei Kindern auch eine erneute IGRA-Testung im Verlauf
sinnvoll sein kann.
Zusammenfassend fanden wir in der untersuchten gemischten Population eine hohe Übereinstimmung
zwischen IGRA und THT. In einigen Fällen mit positivem THT aufgrund von BCG-Impfung
oder NTM-Infektion zeigte der IGRA eine höhere Spezifität. Die Ergebnisse unserer
lokalen Kohorte im Setting einer spezialisierten Abteilung sind somit gut vereinbar
mit aktuellen Metaanalysen [22]
[23]
[24]
[25] und den DZK-Empfehlungen zur Umgebungsuntersuchung [6]. In Niedrigprävalenzländern kann die höhere Spezifität der IGRA für den Nachweis
einer LTBI von Vorteil sein, ihr Stellenwert in der Diagnostik einer aktiven Tuberkulose
ist weiterhin nicht hinreichend geklärt [26]. Die Rolle der IGRA in der parallelen oder alternativen Tuberkulose-Testung von
Kindern und Jugendlichen sollte daher in weiteren und größeren prospektiven Studien
näher untersucht werden.
Im individualmedizinischen klinischen Kontext stellt die immunologische Testung immer
einen diagnostischen Mosaikstein dar [27]. Die Indikation zur Therapie von Kindern mit Verdacht auf LTBI oder MTB muss dabei
im Einzelfall durch pädiatrische Pneumologen und/oder Infektiologen mit spezieller
Erfahrung in der Tuberkulose-Behandlung gestellt werden.