Am 30.12.2011 veröffentlichte GOLD (Global Initiative for Chronic Obstructive Lung
Disease) die neue, wesentlich veränderte Version des Dokuments, das häufig Leitlinie
genannt wird. Die Initiative selbst erhebt diesen Anspruch zwar nicht, die deutschen
Leitlinien (NVL http://www.copd.versorgungsleitlinien.de/ und DGP [1]), aber auch weltweite nationale Leitlinien (zum Beispiel [2]: ATS/ERS „position paper“) basieren weitestgehend auf den GOLD-Empfehlungen.
Die äußerst erfolgreiche Initiative geht auf das Jahr 2001 zurück. Die vorletzte wesentliche
Änderung von GOLD erfolgte 2006. Die GOLD-Empfehlungen zur Definition, Schweregrade
und Stufentherapie werden weltweit nicht nur in der klinischen Praxis, sondern auch
für das Design zahlreicher COPD-Studien – darunter auch aller Zulassungsstudien neuerer
Medikamente – genützt.
In der vorliegenden Überarbeitung wird anstelle der auf Basis der FEV1 durchgeführten Schweregradeinteilung eine Klassifikation mit den Komponenten Symptomatik,
Lungenfunktion und Exazerbationshäufigkeit vorgeschlagen. Hiermit verbunden werden
bisherige Empfehlungen zur Therapie modifiziert. Daher stellt sich für den deutschen
Arzt die dringende Frage: Welchen Einfluss hat die Änderung auf meine diagnostische
Einschätzung und mein Therapieverhalten?
Problematik der bisherigen Schweregrade
Problematik der bisherigen Schweregrade
Bislang erfolgte die Einteilung des Schweregrades fast ausschließlich anhand der FEV1, wenn man vom Sonderfall der sehr schweren COPD im GOLD-Stadium 4 mit FEV1 < 50 % des Sollwertes und der respiratorischen Insuffizienz absieht. Die Vorteile
dieser Klassifikation lagen auf der Hand: Da die Diagnosestellung COPD ohnehin eine
Spirometrie erfordert, lieferte diese diagnostische Spirometrie automatisch den Schweregrad
mit. Danach brauchte der Arzt (vielerorts, z. B. im Vereinigten Königreich, auch die
COPD-Nurse) nur noch in der Tabelle „Therapy at each stage of COPD“ nachzuschauen,
um die „richtigen“ Medikamente für den Patienten zu verschreiben. Obwohl die Einteilung
in die einzelnen Schweregrade keinesfalls auf klassifizierbarer Evidenz beruhte, lieferte
die Pharmaindustrie in Form von randomisierten kontrollierten Studien in den letzten
12 Jahren die Evidenz für die Wirksamkeit der wichtigsten Medikamente in diesem System,
vor allem für mittelschwere, schwere oder sehr schwere COPD. Auf die eingeschränkte
externe Validität dieser Studien für die tägliche Praxis muss allerdings hingewiesen
werden [3]
[4]. Ein weiteres Problem ist, dass diese Schweregradeinteilung den Zustand eines COPD-Patienten
nur inkomplett abbildet. Seit 2004 entstanden komplexere Schweregradeinteilungen [5]
[6], der BODE-Index (Body mass index, Obstruction, Dyspnoea, Exercise = 6 Min. Gehtest) [7] ist hierfür das bekannteste Beispiel. Er korreliert besser mit der Mortalität als
die darin enthaltene FEV1, als einzelne Kenngröße betrachtet. Auch die Korrelation zwischen FEV1 und Lebensqualität, gemessen mit dem St. George’s Respiratory Questionnaire (SGRQ),
ist zwar signifikant, aber nicht sehr eng. Mit anderen Worten: Weder SGRQ noch FEV1, charakterisieren den COPD-Patienten vollständig. Bei einer chronischen Erkrankung
wie COPD, deren Behandlung zwar eine erhebliche Symptomlinderung, aber keine Heilung
bringen kann, rücken zudem patientennahe Messparameter, „PROʼs, patient reported outcomes“,
in den Vordergrund. Nicht nur für klinische Zulassungsstudien, sondern auch für täglich
erforderliche klinische Entscheidungen [8]. Die Subjektivität ist ihr Vorteil, aber zugleich auch ihr Nachteil.
Die neue GOLD-2011-Lösung für die Schweregrade
Die neue GOLD-2011-Lösung für die Schweregrade
Um der Komplexität der Schwere der Erkrankung besser Rechnung zu tragen, hat GOLD
2011 eine Kombination von 4 Kenngrößen eingeführt:
Es erwies sich als schwierig, die klinische Vielfalt in kurze, übersichtliche Schemata
zu drängen. Denn selbst wenn die klinische Wirklichkeit in binäre Antworten von kategorischen
Variablen (schwer oder leicht, ja oder nein) subsummiert wird, obwohl es sich um kontinuierliche
Variablen handelt, gäbe es in diesem System 16 Schweregrade (A-P)!
Aspekte der Praktikabilität führten daher zu der vorliegenden vierstufigen klinischen
Schweregradeinteilung der COPD (A-D), die auf der Kombination der Ausprägung der Symptome
und des Risikos zukünftiger (zu vermeidender) Exazerbationen basiert. Sie sollen auch
die erforderliche Therapie bestimmen.
-
Zwei validierte Fragebögen (mMRC, modified Medical-Research-Council-Dyspnoe-Fragebogen
mit 0 – 4 Punkten, oder CAT, COPD assessment test mit 8 Fragen, je 0 – 5 Punkte) sollen
zur „objektiven“ Beurteilung des subjektiven Befindens des Patienten dienen. 0 – 1
Punkte in mMRC und 0 – 9 Punkte in CAT stehen für wenig ausgeprägte Symptome, höhere
Scores für stärker ausgeprägte Symptome.
-
Wer mehr als eine Exazerbation im vergangenen Jahr gehabt hat, weist ein hohes Risiko
für Exazerbation auf. Das Exazerbationsrisiko steigt aber, wie lange bekannt, auch
mit zunehmender Flusslimitierung. In der neuen GOLD-Empfehlung dient die spirometrische
Klassifizierung der Schwere der Obstruktion (die bisherigen Kategorien leicht, mittelschwer, schwer und sehr schwer bleiben unverändert)
nicht mehr zur Einschätzung des Schwergerades der Erkrankung, sondern im vierstufigen
System A–D ausschließlich zur Einschätzung des Exazerbationsrisikos. Im Gegensatz
zu der Symptommessung, wo ausdrücklich nur eines der empfohlenen Messinstrumente (CAT
oder mMRC) eingesetzt werden sollte, soll das Exazerbationsrisiko sowohl anhand der spirometrischen
als auch der anamnestischen Methode beurteilt werden. Der klinische Schweregrad der
COPD wird dann anhand des schlechteren Wertes beurteilt. Durch diesen „Kunstgriff“
gelang es, die alte spirometrische Schweregradeinteilung in die neuen Empfehlungen
zu integrieren: Patienten mit schwerer und sehr schwerer Obstruktion gelangen – unabhängig
von dem im individuellen Fall gelegentlich abweichendem Exazerbationsrisiko – in die
Kategorien GOLD C und D.
Der klinische Schweregrad wird wie folgt beurteilt: A (wenig Symptome, geringes Risiko),
B (ausgeprägte Symptomatik, geringes Risiko), C (geringe Symptomatik, hohes Risiko)
und D (ausgeprägte Symptomatik, hohes Risiko). ([Tab. 1] und [Abb. 1])
Tab. 1
Kombinierte klinische Schweregradeinteilung der COPD.
Typ
|
Charakteristika: Symptome Exazerbationen
|
Spirometrische Klassifikation der Obstruktion
|
Exazerbationen pro Jahr
|
Symptome
|
CAT
|
mMRC
|
A
|
niedriges Risiko wenig Symptome
|
GOLD 1 /GOLD 2
|
≤ 1
|
< 10
|
≤ 1
|
B
|
niedriges Risiko mehr Symptome
|
GOLD 1 /GOLD 2
|
≤ 1
|
≥ 10
|
2 +
|
C
|
hohes Risiko wenig Symptome
|
GOLD 3 /GOLD 4
|
2 +
|
< 10
|
≤ 1
|
D
|
hohes Risiko mehr Symptome
|
GOLD 3 /GOLD 4
|
2 +
|
≥ 10
|
2 +
|
Abb. 1 Die neuen GOLD-2011-Schweregrade.
Die neuen GOLD-2011-Empfehlungen für die Therapie
Die neuen GOLD-2011-Empfehlungen für die Therapie
Es wurden Medikamente der ersten und zweiten Wahl sowie alternative Medikamente definiert
([Tab. 2]). Die Übersetzung „first choice“ als erste Wahl ist irreführend. Es handelt sich
hier nicht um die besten („first line“) Medikamente, sondern um solche, die bei der
ersten Konsultation eingesetzt werden können. Wenn sie nicht ausreichen, greift man
in einer zweiten Auswahl (zweite Konsultation) auf die wortwörtlich zu nehmenden „Zweite-Wahl“-Medikamente.
Die alternativen Therapien werden als die verfügbare Alternative verstanden, wenn
erst- oder zweitrangige Medikamente nicht vorhanden oder nicht erreichbar („unavailable
or unaffordable“) sind. Sie können laut GOLD auch mit den Medikamenten der ersten
oder zweiten Wahl kombiniert werden. Diese Alternativen tragen der Situation in Entwicklungsländern
Rechnung.
Tab. 2
Das neue GOLD-Stufenschema für die initiale Therapie.
Typ
|
Erste Wahl
|
Zweite Wahl
|
Alternative
|
A
|
SABA oder SAMA bei Bedarf
|
SABA + SAMA LABA oder LAMA
|
Theophyllin
|
B
|
LABA oder LAMA
|
LABA + LAMA
|
Theophyllin, SABA und/oder SAMA
|
C
|
LABA/ICS oder LAMA
|
LABA + LAMA ICS + LAMA
|
Theophyllin SABA und/oder SAMA Roflumilast[1]
|
D
|
LABA/ICS oder LAMA
|
LABA/ICS + LAMA LABA/ICS + Roflumilast[1]
LAMA + Roflumilast[1]
|
Theophyllin SABA und/oder SAMA Carbocystein
|
SABA: kurz wirksamer Beta2-Agonist; SAMA: kurz wirksames Anticholinergikum; LAMA: lang wirksames Anticholinergikum;
LABA: lang wirksamer Beta2-Agonist; ICS: inhalatives Kortikosteroid
1 Nur bei Bronchitis-Phänotyp (Husten und Auswurf)
Kommentar zum Stufenschema
Kommentar zum Stufenschema
-
Es muss festgestellt werden, dass für die Einteilung in die alten, uns lieb gewordenen
rein spirometrischen COPD-Schweregrade 1 – 4 ebenso wenig Evidenz gibt, wie für das
neue Konstrukt A-D, dass auf der Meinung ausgewiesener internationaler Experten beruht.
Nach dem von der ATS adaptierten GRADE-System [9] bedeutet dies: Keine Evidenz.
-
Die zur Schweregradeinteilung nun obligate Beurteilung der Symptome anhand von Fragebögen
(CAT oder mMRC) entspricht nicht der täglichen Praxis in Deutschland und könnte ein
Hindernis zur Implementierung einer solchen Empfehlung darstellen. Nun hat das GOLD-Komitee
anlässlich der internationalen Konferenz in San Francisco (Mai 2012) diese Empfehlung
in einem Vortrag „relativiert“: Die Fragebögen seien nur ein fakultatives Hilfsmittel
zur Erhebung der Symptome.
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Die Empfehlungen zur medikamentösen Therapie stützen sich – soweit vorhanden – auf
Evidenz aus klinischen Studien. Es gibt starke Evidenz aus zahlreichen großen Studien,
dass lang wirksame Bronchodilatatoren, inhalative Kortikosteroide und PDE4-Hemmer
und, weniger gut belegt, auch als Mukopharmaka verwendete Antioxidanzien das Exazerbationsrisiko
senken und vor allem die lang wirksamen Bronchodilatatoren die Symptome lindern. Es
ist nicht die Aufgabe dieser Stellungnahme, die vorhandene Evidenz zu sichten. Über
die additiven Effekte kombinierter Pharmakotherapien für die einzelnen neuen Schweregrade
A–D ist die Evidenzlage bereits deutlich schwächer. Der Preis für die „heimliche“
Einbindung der spirometrischen Schweregrade der Obstruktion ist eine Ausdünnung der
Evidenzbasis für die neue abgestufte Therapieempfehlung, da sie auch für in Wirklichkeit
nicht exazerbierenden Patienten diejenige Therapie empfiehlt, die nach Studienlage
auf die Prävention der Exazerbationen ausgerichtet ist (ICS, Roflumilast, teilweise
auch Tiotropium, um über die „alternative Empfehlung“ Carbocystein ganz zu schweigen).
Die Kombination „alternativer“ Medikamente wie Theophyllin mit einigen Medikamenten
der zweiten Wahl (Roflumilast) ist ebenfalls ohne Evidenz, in diesem Extremfall wahrscheinlich
auch ohne wissenschaftliche Rationale.
Was hat sich mit GOLD 2011 geändert für die praktische Therapie?
Was hat sich mit GOLD 2011 geändert für die praktische Therapie?
Die bisherige starre Therapieempfehlung ist deutlich aufgelockert worden; dies ist
aber für den deutschen Leser auf den ersten Blick möglicherweise nicht offensichtlich.
Betreffend die „Erste Wahl“, handelt es sich um eine initiale Therapie, die nach dem Verbrauch der ersten N1-Packung angepasst werden sollte. Nur
so ist es verständlich, dass zum Beispiel eine Monotherapie mit Tiotropium sowohl
für den leichtesten (A als 2. Wahl) als auch für den höchsten Schweregrad (D als 1. Wahl)
empfohlen wird. Nach dieser initialen Therapie, die eine Überbehandlung auf jeder
Stufe vermeidet, ist dann praktisch bei der zweiten Auswahl der Medikamente jede erdenkliche
Kombination möglich. Die Medikamente bleiben ohnehin dieselben. Das neue Schema erhöht
somit unsere Therapiefreiheit in der Behandlung.
So ist für die schweren Fälle C + D (Patienten mit stark eingeschränkter Lungenfunktion
und/oder häufigen Exazerbationen) praktisch jede Kombination möglich (und kann auch
im individuellen Fall sinnvoll sein). Es verstößt auch nicht mehr gegen die Leitlinie,
für den jüngeren Patienten mit wenig Symptomen (Schweregrad A) einen lang wirksamen
Bronchodilatator zu verordnen, wenn er zum Beispiel Ausdauersport treibt.
Die erweiterte Therapiefreiheit ist für den Pneumologen ein Gewinn, kann aber für
den Allgemeinarzt, der die Mehrzahl der COPD-Patienten behandelt, eher ein Problem
bei der Auswahl der Medikamente darstellen. Die klaren Empfehlungen für eine Therapieeskalation
nach dem alten Stufenschema wurden der Therapiefreiheit geopfert. Eine Therapieeskalation
(horizontal von der 1. Wahl zur 2. Wahl; oder vertikal von Stufe A zu Stufe B, C oder
D) macht keinen Sinn mehr.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die Verordnungsfähigkeit der Medikamente zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen und eigentlich auch der privaten Krankenversicherungen (zugelassene Indikation, „label“)
selbst dann nicht geändert wäre, wenn die neuen GOLD-Empfehlungen in die nationale(n)
Leitlinie(n) übernommen werden würden. So bleibt zum Beispiel eine ICS/LABA-Kombination
für GOLD-C- und D-Patienten, die nicht anhand der Zahl der Exazerbationen, sondern
alleine durch den hohen Schweregrad in diese Kategorie gelangten, „off label“. Nicht
einmal alle verfügbaren ICS/LABA-Kombinationen und -Dosierungen sind für COPD zugelassen;
zu den Kuriositäten gehört, dass Fluticason/Salmeterol als Discus zugelassen, jedoch
als Dosieraerosol in der gleichen Dosierung „off label“ ist.
Es ist ein großer Verdienst des neuen GOLD-Reports, dass entgegen dem bisherigen Trend
der Umfang gegenüber 2009 um 20 % abgenommen hat (74 Druckseiten gegenüber 90 Druckseiten).
Die neue Schweregradeinteilung A–D muss sich in der Praxis noch bewähren. Sie hat
aber zwei unübersehbare Vorteile:
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Die Sicht des stark beschäftigten Arztes, der sich häufig auf die zwei wichtigsten
Abbildungen einer Leitlinie beschränkt (Schweregrade und medikamentöse Therapieempfehlung)
– wird mit dem neuen Schema ([Abb. 1]) auf die Beschwerden des Patienten fokussiert.
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GOLD 2011 gibt das starre, der Individualität des Patienten nicht immer gerecht werdende
FEV1-abhängige „Therapiediktat“ zugunsten einer flexiblen, mehr individualisierbaren Therapieempfehlung
auf; selbst dann, wenn diese Liberalisierung eindeutig zu Lasten der statistischen
Evidenz und der klaren Anweisung zur ggf. notwendigen Empfehlung zur Therapieeskalation
geht.