Steigender Effizienzdruck
Heute ist vieles noch unkonkret. Klar ist nur, dass auf die Einrichtungen neue Anforderungen
an Dokumentation, Organisation und Wirtschaftlichkeit zukommen. Gerade unzureichend
koordinierte Abläufe rund um die Patientenversorgung zwischen dem betreuenden multiprofessionellen
Team kosten Zeit, schaffen unnötige Belastungsspitzen und sorgen künftig gegebenenfalls
sogar für Erlöseinbußen. Diese Entwicklung macht auch vor Privatkliniken nicht halt.
Im Jahr 2010 führte die Pflegedienstleitung der Privatklinik Dr. Amelung eine gezielte
Befragung des Pflegepersonals durch. Die Auswertung dokumentierte folgende Anliegen
zur Verbesserung der Rahmenbedingungen:
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Reduzierung des administrativen Aufwands und der patientenfernen Aufgaben
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Erhöhung der Kontaktzeiten mit den Patienten
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Verbesserung der Kommunikation und des patientenbezogenen Informationsflusses zwischen
den Berufsgruppen
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Stärkung der Teamidentifikation über die Berufsgruppen hinweg
Die kontinuierliche Patientenbefragung weist nach wie vor eine sehr hohe Patientenzufriedenheit
aus. Trotzdem nahm die Klinikleitung die Belastungsklagen der Mitarbeitenden im Pflegedienst
auf Station und ihre lösungsorientiert formulierten Anliegen als Anlass, das Organisationskonzept
der Klinik auf den Prüfstand zu stellen.
Individuelle Patientenbehandlung wird großgeschrieben
In der Privatklinik Dr. Amelung werden Patienten seit über 100 Jahren medizinisch
betreut. Das Wohlergehen und die Zufriedenheit des Patienten sind Maßstab und oberstes
Ziel der Privatklinik. Diagnostik, Therapie und ebenso die tägliche Betreuung sind
individuell auf jeden einzelnen Patienten ausgerichtet. Die seit Generationen gereifte
Erfahrung im Umgang mit ihren Patienten, das exklusive Ambiente und die persönliche
Art des Miteinanders bieten den Rahmen für eine hoch professionelle Behandlung. Die
familiäre Atmosphäre auf Station bedeutet den meisten Patienten genauso viel wie das
hochqualifizierte individuelle Behandlungsangebot. So wird jeder Patient stets von
der Leitenden Psychologin selbst gesehen und individuell – orientiert an den jeweiligen
ärztlichen Therapieempfehlungen und seinen eigenen Bedürfnissen – von den vielfältig
spezialisierten Psychotherapeuten dem jeweils optimal passenden zugeordnet. Die Zuordnung
richtet sich nicht nach der Station, auf welcher der Patient untergebracht ist. Vielmehr
wird durch eine stimmige Passung hochqualifiziertes Personal erst optimal zur Wirkung
gebracht. Gerade diese Kernkompetenz trägt zu einer wirksamen Behandlung bei und führt
dazu, dass die Patienten am Ende ihres Aufenthaltes sich sowie ihrer Umwelt neu gestärkt
begegnen. Diese Bandbreite an Individualität und die Vielfalt des therapeutischen
Angebots sind eine Stärke, welche die Klinik in ihrem Markt abhebt.
Ein Luxus, den sich auch Privatkliniken heute kaum noch leisten können?
Das Angebot ist gefährdet, dem wachsenden Effizienzdruck zum Opfer zu fallen. Indem
die Patienten stationsfern von ihren individuell zugewiesenen Ärzten und Therapeuten
betreut werden, entsteht enormer Koordinationsaufwand. Den Koordinationsaufwand muss
die Station – welche die temporäre Heimat des Patienten bildet – und damit zum Großteil
die Pflegekräfte ausgleichen. Patienten stellen immer höhere Ansprüche an die Betreuungsintensität.
Die Aufenthaltsdauern und die verfügbaren Mittel werden gleichzeitig immer geringer.
So war die Privatklinik gefordert, nach Lösungen zu suchen, die weiterhin genügend
Raum für ein individuell zugeschnittenes Behandlungsangebot bieten. Dabei muss dies
erlauben, dass sich hochqualifiziertes Personal auf seine Kerntätigkeit konzentriert
und Stationen administrativ entlastet werden. Denn schnell war klar, dass eine Einschränkung
des patientenindividuellen Leistungsangebotes für die Privatklinik außer Frage steht.
Also war die Devise, der ”Verschwendung“ von Arbeitszeit genauer auf die Spur zu kommen
und damit den formulierten Anliegen der Mitarbeiter näher zu rücken. In einer besseren
organisatorischen Koordination der Berufsgruppen und der verzahnten Zusammenarbeit
der Bereiche sollten diese schlummernden Potenziale gehoben werden. Sind z. B. die
Pflegenden unnötig einen hohen Anteil ihres Tages telefonisch mit Koordinationsaufgaben
gebunden oder damit beschäftigt, Informationen ”hinterherzueilen“, dann fehlt diese
Zeit für den direkten Kontakt mit dem Patienten. Gerade die Stärken der Mitarbeiter
auf Station entfalten sich meist in der direkten Arbeit mit dem Patienten. In den
Zeiten massiver Leistungsverdichtung sind sie die größten Schätze einer Klinik.
So entwickelte die Klinikleitung die Vorstellung, die Organisation auf ein Stationsarztsystem
umzustellen, indem die behandelnden Ärzte – anders als die Psychologen – fest auf
einer Station eingesetzt werden. Da auf eine individuell stimmige Arzt-Patienten-Zuordnung
nicht verzichtet werden soll, müssen Patienten so bereits bei der Einbestellung nach
Abstimmung mit Einweiser oder nach Kenntnis der Vorgeschichte der am besten geeigneten
Station zugewiesen werden. Bei Vollauslastung des Hauses ist dieses Belegungsmanagement
keine einfache Aufgabe. Den Ärzten wird es dadurch jedoch möglich, ihren Arbeitstag
fest auf ihrer jeweiligen Station zu verbringen, und damit unmittelbarer Ansprechpartner
für das Stationsteam zu sein – bzw. wesentlich stärker als in der Vergangenheit selbst
Teil des Stationsteams zu werden. Dadurch kann sich der patientenbezogene Informationstausch
wesentlich vertiefen und die Organisationsverantwortung für die Station können von
Arzt und Pflege unmittelbar gemeinsam und auf Augenhöhe ausgeübt werden.
Projektumsetzung
In einem von Ruhl Consulting extern begleiteten Pilotprojekt wurde nach dieser Grundsatzentscheidung
in mehreren Sitzungen unter Beteiligung beider Leitenden Ärzte und der Pflegedienstleitung
ein Konzept ausgearbeitet, welches dezidiert die wesentlichen Anliegen auf Station
aufgriff. Gleichzeitig sollte die Chance der Veränderung genutzt werden, bewusst klare
Führungsstrukturen und schnelle Entscheidungen und damit die Entwicklung von Stationsteams
zu fördern.
Die Umsetzung kann nicht über die Köpfe der Mitarbeiter hinweg erfolgen. Um eine starke
Identifikation der Mitarbeiter der unterschiedlichen Berufs- und Interessengruppen
mit ihrem jeweiligen Stationsteam zu erreichen, ist der Prozess der Teamentwicklung
eine wichtige Phase. Diese braucht vor allem Zeit. Zentraler Erfolgsfaktor ist hierbei
eine wertschätzende berufsgruppenübergreifende Zusammenarbeit. Die gegenseitige Ergänzung
und das Miteinander auf Augenhöhe fördern die Identifikation und die Zufriedenheit
innerhalb der Stationsteams. Im Rahmen des Projektes wurde zusammen mit den Mitarbeitern
der verschiedenen Berufsgruppen ein Stationshandbuch erarbeitet – zunächst für die
Pilotstation, beim späteren Projekt-Rollout dann auch für die restlichen Stationen
– in welchem Verbindlichkeiten und Regelungen zum strukturierten Tagesablauf auf Station
vereinbart wurden. Im Ergebnis des Pilotprojektes zeigte sich, dass eine hohe Disziplin
bei den beteiligten Ärzten und Pflegekräften vorhanden war, die gemeinsamen Vereinbarungen
einzuhalten. Insbesondere die Einführung der Regelkommunikation im Stationsteam (morgendliche
Kurzübergabe, wöchentliche Kurvenvisite) wird sehr wertgeschätzt. Die Ärzte konzentrierten
sich auf die geplanten Zeitfenster mit ihren Patienten und konnten so die gewünschte
hohe Frequenz von Arzt-Patienten-Kontakte einhalten und teilweise sogar übertreffen.
Die Entlassungen der Folgewoche werden zuverlässig vorher besprochen. Auch die wöchentliche
Kurvenvisite wird gewissenhaft durchgeführt, um so den patientenbezogenen Informationsaustausch
im Stationsteam zu festigen, die Übergänge der Therapiephasen zu besprechen und die
Entlassungen vorzubereiten. Nach Abschluss der Evaluation der Pilotphase wurde der
Rollout auf die anderen Stationen gestartet. Die Schwerpunkte in den anschließenden
Workshops wurden nach den Themen ausgerichtet, die den jeweiligen Stationsteams am
meisten ”unter den Nägeln brannten.“ Grundsätzlich war in allen Sitzungen ein hoher
Wille aller mitarbeitenden Ärzte und Pflegekräfte zur aktiven Beteiligung am Veränderungsprozess
spürbar.
Eine verbindliche Grundstruktur im Tagesablaufschema der Station in der koordinierten
Zusammenarbeit der Berufsgruppen und die gegenseitige Organisationsverantwortung verringern
den Absprachebedarf und helfen somit täglich Zeit zu sparen. In Psychiatrien mit einer
hohen Schlagzahl an Behandlungen, wie in der Privatklinik Dr. Amelung, ist vor allem
die Koordination der vielfältigen Behandlungen durch Ärzte und Therapeuten ein wichtiges
Thema. Das Stationsarztsystem basiert auf der Idee, dass die Ärzte auf festen Stationen
eingesetzt werden, welche wiederum den Leitenden Ärzten der Klinik zugeordnet sind.
Diese Zuordnung ermöglicht, klare Führungsstrukturen zu etablieren und schnelle Entscheidungen
möglichst nah an der Basis zu treffen – ohne den Blick für das Ganze zu verlieren.
Innerhalb der jeweiligen Arztgruppe entscheiden die Leitenden Ärzte autonom – übergreifende
Entscheidungen werden jedoch nach wie vor gemeinsam getroffen. Durch den räumlich
konzentrierten Einsatz der Ärzte werden die Laufwege der Ärzte verringert, die Entwicklung
von Stationsteams und die Übernahme von Organisationsverantwortung gefördert. Der
Stationsarzt ist der zentrale Wissensträger über die Behandlungsprozesse der Patienten
auf der Station und trägt Verantwortung für die tägliche Informationsweitergabe an
das Pflegeteam seiner Station ebenso wie an die behandelnden Psychologen. Eine zielgerichtete
Kommunikation ist zentral für das Management der Station. So ist es gelungen, einen
Lösungsansatz zu finden, der nicht davon abhängt, die Therapeuten den Stationen zuzuordnen
und dennoch stationsspezifischen Informationsrückfluss zu liefern. Das Behandlungsteam
tauscht sich in strukturierten Klinikkonferenzen patientenbezogen aus. Über diesen
und verschiedene andere Kommunikationskanäle soll sichergestellt sein, dass die Station
über die Besonderheiten der jeweiligen Therapeuten informiert ist. Für die Information
der Patienten sind Informationsgruppen organisiert.
4 Monate nach dem Rollout zeigt eine erste Evaluation einen extrem hohen Zuspruch
der Mitarbeiter aller Berufsgruppen zur neuen Organisationsform. Die Zufriedenheitswerte
mit dem Stationsarztsystem sind exzellent – und das in Wochen, die durch hohe Ausfallquoten
in der Pflege einerseits und durch hohe Anforderungen der Ärzte an die Individualität
der Patientenbehandlung andererseits geprägt sind. Die Evaluation ergab, dass die
neu definierte Regelkommunikation (morgendliche Kurzübergaben und Kurvenvisiten) zu
100 % eingehalten wird. Auch in der Mitarbeiterbefragung wird diesem geregelten Informationsaustausch
eine große Bedeutung zugesprochen. Durch dieses Instrument wird sichergestellt, dass
zentrale Patienteninformationen zwischen Arzt und Pflege übergeben werden.
Allerdings sehen nicht alle Mitarbeiter durch das Stationsarztsystem frei gewordene
Kapazitäten, welche unmittelbar der Patientenversorgung zu Gute kommt. Dies ist jedoch
nach Aussage der Mitarbeiter eher auf die hohen Ausfälle im Pflegedienst zurückzuführen,
als auf das eingeführte Stationsarztsystem. Zudem konnten im Rahmen des Projekts nicht
alle Schnittstellen bearbeitet werden, wodurch es in diesen Bereichen teils zu einem
höheren Koordinationsaufwand insbesondere für die Pflege kommt.
Die Mitarbeitenden arbeiten trotz mancher Schwierigkeiten äußerst konstruktiv an der
weiteren Verbesserung der berufsgruppenübergreifenden Ablauforganisation und den diesbezüglichen
Rahmenstrukturen weiter.
Gelebte Organisationsentwicklung
Ein Zusammenwachsen als Team ist auf allen Stationen deutlich wahrnehmbar. In den
Teams herrscht eine z. T. sehr harmonische, konstruktive Arbeitsatmosphäre. Durch
strukturierte Abläufe zwischen den Berufsgruppen und den Abbau an Schnittstellen konnten
Redundanzen vermieden und dadurch Raum in Zeiten hoher Arbeitsverdichtung geschaffen
werden. Der Projekterfolg ist auf den Einsatz der Führungskräfte für das Stationsteam
und die damit verbundene Würdigung der Mitarbeitenden zurückzuführen. Durch den offenen
Dialog zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden wird – bei allen Höhen und Tiefen
– auch eine deutliche Effizienzsteigerung bei weiterhin höchst individueller Patientenbehandlung
tatsächlich erlebbar.