tk 2013; 9(01): 10-13
DOI: 10.1055/s-0032-1323609
Fachartikel
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Stressreaktion und Aggressivität bei Hunden

Celina del Amo

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Publikationsdatum:
28. Februar 2013 (online)

 
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Plötzliche und unerwartete Aggression von Hunden im Praxisalltag kann (lebens-)gefährlich sein. Wir zeigen Hintergründe zum Verständnis und geben Tipps zu Prophylaxe und Handling dieser Situation.

Die Redewendung „In einem gesunden Körper steckt ein gesunder Geist“ kann im Prinzip auch auf Hunde angewendet werden. Der Umkehrschluss dieses Spruches weist darauf hin, dass sich Krankheiten oder generelles Unwohlsein in einem „nicht gesunden Geist“ also in Verhaltensauffälligkeiten äußern können. Und auch dies ist bei den Tieren zu beobachten: Unkonzentriertheit, Ängstlichkeit und Aggression sind die häufigsten Auffälligkeiten, die im Zusammenhang mit gesundheitlichen Einschränkungen einhergehen. In vielen Fällen sind diese oder andere Verhaltensänderungen wie Schlappheit, Motivationslosigkeit und Leistungsschwäche sogar der Grund, weshalb der Tierhalter seinen Hund in der Praxis vorstellt. Im Berufsalltag einer Tierarztpraxis hat man es demnach häufig mit Hunden zu tun, die sich unwohl fühlen und dies ggf. auch durch eine höhere Reizbarkeit zum Ausdruck bringen. Durch einen Blick „hinter die Kulissen“ werden Zusammenhänge klar und es eröffnen sich Möglichkeiten der Prävention und des optimalen Managements von schwierigen Situationen.

Stress und Stressreaktion

Beim Erlebnis „Stress“ (sog. „Stresserleben“) reagiert der Körper auf Stressoren, also Reize, die eine Stressreaktion in Gang bringen. Stressoren können ganz verschiedener Natur sein: physikalisch (Hitze, Kälte), mechanisch (Stöße, Berührungen), sozial (Isolation, Mobbing, fehlende Rückzugsmöglichkeiten), emotional (Angst, Frust, Wut), körperlich (Krankheiten, Schmerzen, Schlafdefizit) und psychisch (Reizüberflutung, Dauerkonzentration, anhaltende Langeweile, Überforderung).

Sympathikus-Aktivierung

Bei der Stressreaktion laufen im Körper 2 Reaktionsketten gleichzeitig ab. Zum einen kommt es durch die Aktivierung des Sympathikus zur massiven Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin aus dem Nebennierenmark ins Blut. Beide Hormone haben eine zentrale Wirkung auf das Gehirn und somit auf Lernprozesse, da sie auch als Neurotransmitter wirken. Darüber hinaus haben sie aber auch eine periphere Wirkung, denn die Adrenalin-und Noradrenalin-Ausschüttung führt zu einem Anstieg des Blutdrucks und zu einer Aktivierung des Renin-Angiotensin II-Regelkreises. Dieser steuert die Ausschüttung von Mineralkortikoiden, vor allem Aldosteron, aus der Nebennierenrinde, das den Wasserhaushalt (inkl. Blutdruck, Schweißsekretion) reguliert.


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ACTH-Aktivierung

Parallel dazu wird in der Stressreaktion auch das Hormon CRH (Corticotropin-Releasing-Hormon) aus dem Hypothalamus ausgeschüttet, das wiederum die ACTH-Ausschüttung (adrenocorticotropes Hormon) aus dem Hypophysenvorderlappen aktiviert. Das ACTH regt in der Folge die mittlere Schicht der Nebennierenrinde zur Ausschüttung von Glukokortikoiden an. Die beiden wichtigsten Vertreter der Glukokortikoide sind Cortisol und Cortison. Sie steigern die Bereitstellung von Energiereserven vor allem durch die Glykogensynthese (Zuckersynthese) in der Leber, wodurch der Blutzuckerspiegel erhöht wird. Gleichzeitig wird durch die Glukokortikoide auch Energie durch Abbau von Eiweiß aus dem Muskelgewebe und durch Abbau der peripheren Fettdepots bereitgestellt.

Des Weiteren haben die Hormone entzündungshemmende, antiallergische und immunsuppressive Wirkung - das bedeutet, dass das Immunsystem unter längerer Stresseinwirkung geschwächt wird.


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Stresswirkungen

Die Stressreaktion spricht Körper und Geist gleichermaßen an. Auf körperlicher Ebene erscheint der Hund im Stress leistungsfähiger - er läuft auf Hochtouren. Unter dem Einfluss der Stresshormone kann ein Hund daher besonders schnell und kraftvoll reagieren. Gleichzeitig kommt es aber zu Einschränkungen im geistigen Bereich. Denn auch das Gehirn wird unter Stress auf Geschwindigkeit gepolt. Entscheidungen im Stresszustand werden ohne langes Nachdenken gefällt, denn Stress dient dem Überlebenskampf. Hierfür ist vor allem das Hormon bzw. der Neurotransmitter Noradrenalin verantwortlich. Noradrenalin wird daher auch als Aktions- oder Aggressionshormon bezeichnet. Der für planvolles Handeln und Konzentration erforderliche Neurotransmitter Serotonin hingegen wird unter dem Einfluss der Stresshormone „zurückgedrängt“. Der Hund ist unter dem Einfluss von Stresshormonen - grob gesagt - auf Flucht (ggf. auch Schreckensstarre) oder Angriff programmiert. Die Fähigkeit zu „ausgefeilter“ Kommunikation im sozialen Bereich, aber auch zur Konzentration ist in diesen Momenten weitgehend lahmgelegt.

Die körperlich-geistigen Auswirkungen der Stressreaktion lassen sich wie folgt prägnant zusammenfassen:

  • Hunde können mit großer Kraft und Schnelligkeit reagieren,

  • sie tendieren zu Affekthandlungen,

  • die Reizschwelle aggressiv zu reagieren ist unter Umständen herabgesetzt,

  • sie leiden unter einer Denk- und Lernblockade und können abgespeicherte Informationen nicht in gewohnter Art und Weise abrufen. Sie erscheinen daher häufig „ungehorsam“. In Wirklichkeit sind sie jedoch nicht „ansprechbar“.

Übrigens: Die Abläufe und Folgereaktionen einer Stresskaskade sind bei Hunden und Menschen gleichartig! Auch Menschen reagieren in Stresssituationen affektartig und sind „kaum ansprechbar“. Kluges Denken oder die Aufnahme von Informationen (z. B. von Ratschlägen) ist erst wieder möglich, wenn die Stresshormone abgebaut sind. Sicher kennen auch Sie die Situation, dass man nach einem Konflikt denkt: „Warum habe ich denn eben nicht ... gesagt oder getan, das wäre doch klüger gewesen.“ Vielleicht geht es unseren Hunden auch nicht anders.


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Stresssymptome

Die Liste an möglichen Stresssymptomen ist lang und kann von Situation zu Situation bzw. von Hund zu Hund variieren. In der Tierarztpraxis kann man bei gestressten Hunden häufig folgende Symptome sehen: Hecheln, Unruhe, auffälliger Haarausfall, Schuppenbildung, schwitzige Pfoten, Zittern, körperliche Angespanntheit (hoher Muskeltonus), schlechte Konzentrationsfähigkeit, fiepen, bellen, gesteigerte Reaktions- und Angriffsbereitschaft, Futterverweigerung oder schnappende Futteraufnahme, Durchfall.

Bei länger andauerndem Stress sind auch erhöhte Infektionsanfälligkeit und dauerhafte Magen-Darm-Probleme (Durchfall und Erbrechen) häufige Symptome. Die Atemfrequenz ist ebenso wie die Herzschlagrate (und der Blutdruck) deutlich gesteigert. Die Hunde haben ein „Stressgesicht“ und weite Pupillen.


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Stressauslöser

Grundsätzlich gilt: Alle Reize, die der Hund als neu oder unangenehm empfindet, können eine Stressreaktion auslösen. Eingangs wurde schon darauf hingewiesen, dass die individuellen Stressfaktoren ganz unterschiedlicher Natur sein können. Wichtig ist zu wissen, dass auf den Hund in einer beliebigen Situation nicht ein Reiz, sondern viele verschiedene Reize einwirken. Die Summe der einwirkenden Reize spiegelt sich in der momentanen Befindlichkeit wider, die der Hund durch sein Ausdrucksverhalten zeigt.

Auch soziale Reize (Führungsmanagement durch den Halter, andere anwesende Menschen, Artgenossen), Umweltreize (alle Reize wie z. B. Bodenuntergrund, Gerüche, Geräusche der Praxisumgebung, des Behandlungsraums, der Station) und der Gesundheitszustand (z. B. Schmerzen, anderweitiges Unwohlsein) spielen eine Rolle. In der tierärztlichen Untersuchung kommen weitere Stressfaktoren hinzu, denn der Hund interpretiert auch eine Vielzahl von Handlungen, die wir nett gemeint haben, die wir als „normal“ erachten oder die in der Untersuchung/Behandlung einfach erforderlich sind, häufig als bedrohlich. Hierzu zählen - je nach Gewöhnungsgrad und der individuellen Vorgeschichte des Hundes - ggf. sogar schon die Nähe und Ansprache, häufiger aber Anfassen (speziell, wenn es plötzlich oder von oben erfolgt), Fixieren und festes Angucken sowie alle schmerzhaften oder anderweitig unangenehmen Manipulationen.


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Warnzeichen

Bis auf wenige Ausnahmen warnen Hunde mittels körper- und lautsprachlicher Ausdruckselemente (Mimik, Gestik und beispielsweise Knurren) vor einem Angriff. Neben den „Klassikern“ wie hochgezogene Lefzen und Blickfixieren können einem Angriff aber auch nur subtile Gesten wie etwa eine kurze Steifigkeit vorausgehen. Ein Problem stellt die Fülle an unterschiedlichen Hundetypen und auch das individuelle Sozialisations- und Erfahrungsmaß der jeweiligen Patienten dar. Nicht jeder Hund ist gleich gut lesbar. Dies kann an der Ruten- oder Ohrenform, der Felllänge oder -farbe und an Hautfalten liegen oder weil es zuchtbedingt zu einer Verarmung des Ausdrucksverhaltens gekommen ist.

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Abb. 1 Durch Übungsbesuche kann ein Welpe mit der Tierarztsituation vertraut gemacht werden.

Auch Hunde, die für das Zeigen aggressiver Kommunikation (Drohverhalten) in der Vergangenheit bestraft worden sind, halten sich mit Drohgesten häufig sehr zurück. Dies macht sie unberechenbarer, da man ihnen im Einzelfall kaum mehr ansehen kann, wann die Situation zu eskalieren droht.

Aufgrund dieser Schwierigkeit gilt es, die unten aufgeführten allgemeinen Sicherheitsmaßnahmen generell sehr ernst zu nehmen. Spätestens beim Erkennen von Drohverhalten und im Grunde auch bei einem „unguten Bauchgefühl“ gilt es auf mehr Sicherheit in Form des Maulkorbs zu bestehen.


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Sicherheitsregeln

Aus den aufgeführten Informationen wird klar, weshalb sich ein Hund, der sonst ggf. umgänglich ist, unter bestimmten Voraussetzungen (Belastung durch Stressoren) auch plötzlich unkontrolliert und/oder aggressiv verhalten kann. Im Umgang mit den Hundepatienten ist es daher sinnvoll, routinemäßig verschiedene Punkte zur Gefahrenprophylaxe umzusetzen:

  1. Fragen Sie beim Tierhalter ab: Hat der Hund schon einmal nach einem Menschen geschnappt/gebissen? Falls ja, sind hierbei Verletzungen entstanden? Tipp: Diese Frage kann auch in den Anmeldungsbogen aufgenommen werden. Da es sich leider gezeigt hat, dass einige Tierhalter hier nicht ehrlich antworten, lohnt es sich zudem auf dem Anmeldebogen folgenden Passus einzufügen: Mit meiner Unterschrift bestätige ich, alle Fragen wahrheitsgemäß und nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet zu haben. Management: Hunde, die schon einmal geschnappt/gebissen haben, sollten während der Untersuchung mit einem Maulkorb gesichert werden. Dies gilt speziell, wenn in der Untersuchung Maßnahmen erforderlich sind, die der Hund als stressig oder unangenehm empfindet.

  2. Im Schmerz blitzartig aggressiv zu reagieren ist keine Charakterfrage, sondern ein nicht nur für Hunde gültiger „Reflex“ zum Selbstschutz. Management: Bei schmerzhaften Manipulationen sollte jeder Hund immer ausreichend gesichert werden. Die beste Option ist auch bei nur geringgradiger Schmerzhaftigkeit über den Einsatz eines Maulkorbes gegeben (s. u.). Bei starken akuten oder zu erwartenden Schmerzen sollte hingegen eine schmerzausschaltende Narkose angesetzt werden.

  3. Für die meisten Hunde stellt sich der Tierarztbesuch insgesamt als stressreiches Erlebnis dar. Dies hat neben der als eigenständiger Stressfaktor wirkenden Erkrankung auch mannigfaltige weitere Gründe (s. o.). Management: Im Umgang mit dem Hund sollte strikt darauf geachtet werden, das Stresserleben so weit wie möglich zu reduzieren. Dies kann auch über folgende Maßnahmen erreicht werden:

    • Verkürzung der Wartezeiten durch optimales Zeitmanagement,

    • rechtzeitige Vorbereitung der erforderlichen Untersuchungsmaterialien,

    • zügiges, zielorientiertes Arbeiten nach optimaler Vorbereitung (ggf. Sicherung des Hundes durch Maulkorb, Sedation, Narkose),

    • Verzicht auf unnötige Körperberührungen und Zuwendung, d. h. keine unnötige Kontaktaufnahme, kein Streicheln, kein Zureden, aber auch keine Einschüchterungen oder Bedrohungen.

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Abb. 2 Dieser Hund hat Angst. Ein Bedrängen in der Ecke würde das Stresserleben steigern.

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Maulkorbeinsatz

Viele Tierhalter lehnen den Einsatz eines Maulkorbes für ihren „lieben“ Hund zunächst rundweg ab. Sie glauben, dass der Maulkorb nur für „Beißer“ angebracht ist und möchten nicht, dass ihr Hund auf diese Art und Weise „abgestempelt“ wird. Hier tut Aufklärung not! Nicht zuletzt durch den unabstreitbaren Sicherheitsvorteil haben alle an der Untersuchung und Behandlung beteiligten Personen bei einem mit Maulkorb gesicherten Hund eine selbstsichere und damit auch positive Ausstrahlung. In aller Regel kann die Arbeit auch besonders zügig umgesetzt werden, da keine stark belastenden Fixierungsmaßnahmen oder unnötigen „Streits und Diskussionen“ mit dem Tier erforderlich sind. Die ausgestrahlte Ruhe wirkt sich extrem positiv auf den Hund aus. Negative Erlebnisse und unerwünschte Verknüpfungen für die Zukunft können so auf ein Minimum reduziert werden. Wichtiger Hinweis: Die Akzeptanz eines Maulkorbes sollte im Idealfall schrittweise und über Verknüpfungen mit Belohnungen im Vorfeld vom Tierhalter geübt werden. Am wenigsten belastend für das Tier sind Gittermaulkörbe, da sie das Hecheln nicht einschränken.

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Abb. 3 Hat ein Hund bereits einmal geschnappt, ermöglicht ein Gittermaulkorb einen weiterhin ruhigen Umgang mit dem Tier.

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Weitere Tipps

  • Bereiten Sie eine Infomappe mit Gesundheits-, Erziehungs-, und Literaturtipps sowie möglichen Empfehlungen guter Hundeschulen vor.

  • Stellen Sie die Regel auf, dass alle Hunde in Ihrer Praxis stets an kurzer Leine und mit größtmöglichem Abstand zu anderen Tieren zu führen sind.

  • Lassen Sie alle Hundepatienten prophylaktisch (mittels belohnungsbasierter Übungen) mit dem Tragen eines Maulkorbes und Halskragens vertraut machen.

  • Weisen Sie die Besitzer von Hunden mit schmerzhaften Erkrankungen an, das Tier stets liebevoll aber unaufdringlich zu umsorgen. Vor plötzlichen Berührungen oder anderen „Übergriffen“ (durch körperliches Bedrängen) sollte es auch im privaten Rahmen geschützt werden.

  • Ermuntern Sie die Tierhalter langfristig erforderliche Manipulationen, die der Hund ablehnt, zum Wohle aller zielgerichtet und in einem kleinschrittigen und emotional positivem Kontext vermittelt, mit dem Hund zu trainieren.

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http://dx.doi.org/10.1055/s-0032-1323609


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Celina del Amo

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Abb. 1 Durch Übungsbesuche kann ein Welpe mit der Tierarztsituation vertraut gemacht werden.
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Abb. 2 Dieser Hund hat Angst. Ein Bedrängen in der Ecke würde das Stresserleben steigern.
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Abb. 3 Hat ein Hund bereits einmal geschnappt, ermöglicht ein Gittermaulkorb einen weiterhin ruhigen Umgang mit dem Tier.