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DOI: 10.1055/s-0032-1325258
Worauf müssen sich Hafengesundheitsbehörden vorbereiten? – 30 000 Kontaktpersonen auf einen Schlag
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
28. August 2012 (online)
In der aktuellen Ausgabe des Journal of Travel Medicine sind gleich 3 Publikationen zu Krankheitsausbrüchen an Bord von Schiffen veröffentlicht, bei deren Bewältigung die Hafengesundheitsbehörden eine zentrale Rolle einnahmen. Sie verdeutlichen die Bandbreite der möglichen Ereignisse und die Komplexität der Entscheidungen.
Die Ergebnisse von Cramer et al sind nicht nur für Kreuzfahrtschiffe bedeutsam, sondern auch für Frachtschiffe mit ihren ‚auf Kante’ kalkulierten Besatzungszahlen und einer oft nur teilweise immunen Besatzung aus Asien. Ein Krankheitsausbruch mit 2–9 Betroffenen kann den Schiffsbetrieb bei einer Gesamtbesatzung von 18–30 Personen empfindlich stören. Eine Reihe von Veröffentlichungen in den letzten Jahren wiesen auf die Bedeutung der Windpockenerkrankungen bei Besatzungsmitgliedern im Schiffsverkehr hin. Es ist ohne Zweifel an der Zeit, dass Hafengesundheitsämter, Betriebs- und Hafenärzte personell, fachlich und sachlich in die Lage versetzt werden, den nicht immunen Personen an Bord betroffener Schiffe eine postexpositionelle Impfung anzubieten und konkrete Hinweise zur Isolierung und Behandlung zu geben. Das oft praktizierte Abmustern von an Windpocken erkrankten Seeleuten und die Einweisung in Kliniken beziehungsweise Repatriierung ist bis auf wenige Ausnahmen nicht indiziert und aus infektionshygienischen Erwägungen zu vermeiden.
Die Fallstudie von Schlaich et al zu einem Ausbruch von Ciguatera durch vergifteten Fisch auf einem Kühlschiff in einem Auflieger im Hamburger Hafen ist ein Beispiel für eine nicht infektiöse Gruppenerkrankung, bei der der öffentliche Gesundheitsdienst die klassische Aufgabe der Koordinierung der verschiedenen Akteure, aber auch die Anordnung von Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Erkrankungen übernimmt.
Mirtuka et al beschreiben die weitreichenden Konsequenzen, die das Auftreten fieberhafter exanthematöser Erkrankungen an Bord von Kreuzfahrtschiffen haben können. Sie klassifizierten sämtliche Personen an Bord, Crew und Passagiere, als Kontaktpersonen. Während unter der Crew mehrere Fälle an ansteckenden Erkrankungen entdeckt werden konnten – offensichtlich nicht alle im epidemiologischen Zusammenhang, sondern auch sporadisch auftretend – wurde unter den 30 000 angeschriebenen Passagieren keine einzige Erkrankung festgestellt.
Thema: Über Jahrzehnte hatte sich der öffentliche Gesundheitsdienst im Rahmen des Seuchenschutzes darauf konzentriert, eine Verschleppung von Pocken, Pest, Gelbfieber, Cholera und Krankheitsvektoren durch den Schiffsverkehr zu verhindern. Die rechtlichen Grundlagen hierfür fanden sich in den internationalen Gesundheitsvorschriften der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 1969.
Mit der Expansion der Kreuzfahrtindustrie fanden zunehmend auch infektiöse Durchfallerkrankungen, wie die gefürchteten Norovirusepidemien oder durch Trinkwasser übertragene Erkrankungen, insbesondere die Legionellose, Beachtung. Als Reaktion auf diese, oft sehr intensiv durch die Presse begleiteten Ereignisse, entstand in den 80er Jahren das international sehr einflussreiche US-amerikanische "Vessel Sanitation Program" und später das Projekt "ShipSan" der Europäischen Kommission. Aber auch die Kreuzschifffahrtsindustrie selber hat in ihren Dachverbänden stringente qualitätssichernde Maßnahmen im Bereich der Schiffshygiene entwickelt.
Die globale SARS-Epidemie 2002/2003 und die Befürchtungen vor einer schweren Influenzapandemie haben weltweit zur Entwicklung von Krisenplänen geführt. Es wurde deutlich, dass auch die Schifffahrtsindustrie und die Gesundheitsbehörden in den Häfen zu neuen Algorithmen und Maßnahmenplänen kommen müssen, die Gefahren aller Art für die öffentliche Gesundheit berücksichtigen.
Mit dem Inkrafttreten der revidierten Internationalen Gesundheitsvorschriften 2005 der WHO wurde diesen Erfahrungen der letzten Dekaden Rechnung getragen und insbesondere auch ein rechtlicher Rahmen und Strukturen geschaffen, die eine schnelle und konzertierte Reaktion der Staatengemeinschaften auf gravierende grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren und auch bisher nicht bekannte Gefährdungen ("emerging infections") erlaubt.
Dieser neue Ansatz bei der Seuchenbekämpfung im internationalen Reiseverkehr stellt die Gesundheitsbehörden, die Hafen- und Terminalbetreiber und Schiffseigner, die nach den internationalen Gesundheitsvorschriften 2005 zur Mitwirkung in der Gefahrenbekämpfung verpflichtet sind, vor die Frage, auf welche Szenarien man sich denn nun organisatorisch, personell und sachlich sinnvollerweise vorbereiten sollte. Erschwerend kommt hinzu, dass die Hafengesundheitsämter ihre Risikoeinschätzungen oft unter Zeitdruck, mit beschränkten diagnostischen Möglichkeiten und unter Abwägung möglicher wirtschaftlicher und/oder gesundheitlicher Konsequenzen und meist begleitet von einem regen Medieninteresse fällen müssen.
Projekt: Elaine Cramer und ihre Kollegen geben eine Übersicht zu den Meldungen, die in den Jahren 2005 bis 2010 im "Electronic Maritime Ilnness and Death Reporting System" der amerikanischen Centers for Disease Control (CDC) eingingen.
Ergebnisse: An erster Stelle der Meldestatistik standen die Windpocken. Von besonderem Interesse ist, dass über 70 % der gemeldeten Fälle an Windpocken in Clustern von mehr als 2 Erkrankungen auftraten. Die Zahl der Erkrankungen im epidemiologischen Zusammenhang lag zwischen 2 und 9 Fällen. Infektionsketten über 2 und mehr Inkubationsintervalle waren häufig.
Fazit: Die Autoren nehmen an, dass die Bekämpfungsmaßnahmen nach den Vorgaben der Centers of Disease Control die Infektketten effektiv unterbrechen konnten.
Projekt: Die Fallstudie von Clara Schlaich et al. ist zu einem Fall von Ciguatera, eine Erkrankung, bei der es durch den Verzehr von bestimmten tropischen Fischen zu gastrointestinalen und neurologischen Symptomen kommt. Eine Schiffsmannschaft hatte in der Karibik gefischt und dann bei einem Barbecue an Bord den Fisch verzehrt.
Ergebnisse: Alle Personen, die von dem Fisch aßen, erkrankten. Noch 93 % der Mannschaft waren 14 Tage später, beim Eintreffen im Hamburger Hafen, symptomatisch erkrankt. Zwei Personen waren nicht mehr arbeitsfähig und mussten abmustern.
Fazit: Durch die Sicherung der Diagnose in Zusammenarbeit zwischen dem niedergelassenen Hafenarzt, dem Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin, dem Zoo Hagenbeck und dem Bundesinstitut für Risikobewertung in Berlin konnten die sehr beunruhigten Seeleute und die Reederei fachkundig beraten werden. Wichtigste Maßnahme war jedoch die Anordnung der Vernichtung des noch vorhandenen eingefrorenen, toxinhaltigen Fisches.
Projekt: Im Jahr 2006 wurden fieberhafte Erkrankungen zweier Crewmitglieder, eines Ukrainers und eines Philippiners, an die amerikanischen Gesundheitsbehörden gemeldet Diese führten dann über 36 (!) Tage eine umfangreiche Untersuchung an Bord durch, in deren Verlauf sie den Immunstatus von allen 1197 Crewmitgliedern, die als Kontaktpersonen klassifiziert wurden, und deren Impfpässe überprüften. Weiterhin erfolgte eine aktive und passive Kontrolle für exanthematöse Erkrankungen. Darüber hinaus wurden 30 000 (!) Passagiere als potenzielle Kontaktpersonen angeschrieben.
Ergebnis: Sie entdeckten in der Crew 1 Fall von Röteln, 3 Fälle von Masern und 11 Fälle von Windpocken. Nur 3 Crewmitglieder hatten in ihrem Impfpass einen Nachweis über die Impfungen gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken. Alle anderen Personen wurden geimpft. Unter den angeschriebenen Passagieren wurde keine einzige Erkrankung festgestellt.
Fazit: Die Kosten der Maßnahmen bezifferten die Autoren mit 67 000 US-Dollar.
Welche Konsequenzen ergeben sich für den öffentlichen Gesundheitsdienst aus diesen Veröffentlichungen? Sind Kreuzfahrtschiffe relevante Vektoren für die weltweite Ausbreitung impfpräventabler Erkrankungen, wie zum Beispiel Masern, deren Elimination angestrebt wird?
Eine spezifische Surveillance von Infektionskrankheiten auf Schiffen gibt es nicht. Die Veröffentlichungen von Mitruka und Cramer sowie die persönlichen Erfahrungen der hafenärztlichen Dienste in Deutschland weisen daraufhin, dass impfpräventable Erkrankungen unter den oft nur zum Teil immunen Crewmitgliedern häufiger sind, als bisher angenommen.
Und es ist sicherlich unstrittig, dass ein ausreichender Impfschutz für Crewmitglieder im internationalen Schiffsverkehr und insbesondere auch im Personenverkehr sinnvoll ist. Es ist deshalb nicht nachvollziehbar ist, dass in der gängigen Praxis ausgerechnet Seeleuten weder Vorsorgeuntersuchungen nach dem Grundsatz G 35, noch ein Impfschutz im Rahmen der regelmäßigen Seediensttauglichkeitsuntersuchungen für die indizierten Reiseimpfungen und Routineimpfungen durch den Arbeitgeber angeboten werden. Üblicherweise beschränken sich die Reeder auf die Gelbfieber- und eventuell noch die Choleraimpfung.
Impfungen gegen Hepatitis A und B, gegen Influenza oder auch Auffrischungsimpfungen gegen Tetanus und Diphtherie, Masern, Mumps und Röteln führen Seeleute oft auf eigene Kosten bei ihrem Hausarzt durch. Nur ganz vereinzelt bieten Reedereien betriebsärztliche Impfsprechstunden an.
Eine verpasste Gelegenheit ist sicherlich auch, dass die regelmäßig durchgeführten Seediensttauglichkeitsuntersuchungen nicht als Anlass genutzt werden, die notwendigen Impfungen durchzuführen. Es ist ein Beispiel mangelnder Fürsorge und Ignoranz aller Beteiligten, das auf die Tagesordnung jedes Arbeitsschutzausschusses und Betriebsratssitzung der Reedereien gehört.
Ein allen Hafenärzten bekanntes Ärgernis ist außerdem, dass üblicherweise die allgemeinen Impfpässe gar nicht an Bord mitgeführt werden, sondern nur der Nachweis über Cholera- und Gelbfieberimpfungen. Das erklärt, warum in der Veröffentlichung von Mitruka et al. nur 3 von 1197 Crewmitgliedern in ihrem Impfpass einen Nachweis über die Impfungen vorweisen konnten und so fast die gesamte Crew geimpft werden musste.
Für die Klassifikation von Personen an Bord von Schiffen als Kontaktpersonen gibt es keine international gültigen Empfehlungen. Nach den Erfahrungen unseres Hafenärztlichen Dienstes in Hamburg werden regelmäßig fieberhafte Erkrankungen von Kreuzfahrtschiffen gemeldet. In Hamburg klassifizieren wir üblicherweise die direkten Kabinenmitbewohner und die Personen, die im selben Bereich arbeiten, als Kontaktpersonen und beschränken die aktiven Maßnahmen auf diese. Die sonstigen Personen an Bord werden informiert, beispielweise in einem Rundschreiben der Schiffsleitung. Ein Sonderbereich sind die Kindergärten an Bord, die je nach den speziellen Umständen zu weitreichenderen Maßnahmen führen.
Auf Frachtschiffen klassifizieren wir üblicherweise alle Personen an Bord als enge Kontaktpersonen, da Lebens- und Arbeitsbedingungen mit denen eines Haushalts vergleichbar sind. Dies ist vor allem bei den immer wieder auftretenden Tuberkuloseerkrankungen für das weitere Vorgehen von Bedeutung.
Die hier vorgestellten Veröffentlichungen verdeutlichen, dass es zur Praktikabilität und Effizienz des "Contact Tracing" im Schiffsverkehr immer noch offene Fragen gibt. Hoffentlich unstrittig ist dagegen, dass ein ausreichender Impfschutz für Seeleute und Passagiere eine kostengünstigere Maßnahme ist, als über 30 000 potenzielle Kontaktpersonen zu überprüfen.
Dr. Clara Schlaich, Lilongwe / Malawi
Deutsche Gesellschaft für Maritime Medizin
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