Der Klinikarzt 2012; 41(08): 379
DOI: 10.1055/s-0032-1325278
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Interview mit Prof. Jörg Wissel – Komplexproteinfreies Botulinum Neurotoxin A ermöglicht Patienten-optimierte Spastiktherapie nach Schlaganfall

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Publication Date:
22 August 2012 (online)

 
 

Für das Beschwerdebild der fokalen Spastik der oberen Extremität nach Schlaganfall ist Botulinumtoxin die Behandlung der Wahl – und ein Therapieversagen für die Patienten oft eine persönliche Katastrophe. Prof. Jörg Wissel, Berlin, spricht über den evidenzbasierten Einsatz von Xeomin® in der Spastiktherapie und die Herausforderungen der Zukunft.

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Prof. Dr. Jörg Wissel, Berlin

? Worin sehen Sie die besondere Herausforderung der Botulinumtoxin-Therapie?

Prof. Jörg Wissel: Botulinumtoxin (BoNT) stellt heute einen nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil der Spastiktherapie dar. Die lokale intramuskuläre Verabreichung des Toxins kann mit einer Latenz von wenigen Tagen zuverlässig, dosisabhängig und nebenwirkungsarm den spastischen Muskeltonus senken und damit Pflege- und Hygieneprobleme wie auch Schmerzen mindern. Zulassungsstatus und geringe Honorierung erschweren allerdings die Anwendung. Um einem größeren Kreis von Patienten den Nutzen der BoNT-Therapie zukommen zu lassen, wäre eine eigene Abrechnungsziffer eine unabdingbare Voraussetzung. Neue Finanzierungskonzepte für die Therapie mit BoNT werden also dringend benötigt – stationär wie ambulant.

? Wo liegen die Vorteile des komplexproteinfreien Xeomin®?

Prof. Wissel: Bezogen auf die zugelassene Gesamtdosis und die zur Behandlung zugelassenen Muskeln lassen sich mit Xeomin® auch bei schweren ausgedehnten spastischen Syndromen der oberen Extremität die meisten Muskeln in einer ausreichenden Dosierung sicher behandeln. Nach meiner Kenntnis hat bisher kein einziger de-novo-Patient im Verlauf ein antikörpervermitteltes Therapieversagen unter Xeomin® entwickelt, auch nicht bei Langzeitanwendungen von bis zu 89 Wochen, sodass Xeomin® als komplexproteinfreies BoNT A offensichtlich eine sehr geringere Antigenität aufweist. Demnach lässt sich eine potenziell höhere Flexibilität der BoNT-Therapie bezüglich der Injektionsintervalle und Dosis im Vergleich mit anderen BoNT A-Präparaten diskutieren.

? Worin sehen Sie noch Potenzial für die Botulinumtoxin-Therapie?

Prof. Wissel: Auf der Grundlage der Empfehlungen des Deutschen Konsensus-Statements zur Behandlung der fokalen Spastizität kann heute bei sachgerechter Applikation eine Dosis von bis zu 600 Units Xeomin® pro Sitzung als sicher eingeschätzt und empfohlen werden. Auch für Dosierungen über 600 Units Xeomin® pro Anwendung finden sich in der Literatur positive Fallberichte. Meine eigenen Erfahrungen bestätigen dies, allerdings ist es notwendig, sich auch für die Frage einer höheren als zugelassenen Dosierung von 400 Units Xeomin® pro Injektion auf gute Daten beziehen zu können. Ich bewerte es deshalb als positiv, dass Merz Pharmaceuticals nun mit der multizentrisch-multinationalen TOWER-Studie eine kontrollierte prospektive Datenerhebung zur Sicherheit und Wirksamkeit in diesem sogenannten Hochdosisbereich durchführt. Neben den offenen Fragen bei der Dosierung sehe ich auch noch Potenzial in der Wertigkeit der Injektionskontrolle und der begleitenden Therapien. Es gibt viele neue Daten, aber wir brauchen auch hier weitere Studien, um unsere Patienten angemessen versorgen zu können.

? Eine spekulative Frage: Kann Botulinumtoxin bei einer sich entwickelnden Spastik, z. B. nach Schlaganfall, Sekundärschäden vermeiden?

Prof. Wissel: Eine spannende Frage: Ja, dies ist denkbar. Natürlich sollte die lokale Behandlung der fokalen Spastik nach Schlaganfall mit BoNT A bei Patienten dann zum Einsatz kommen, wenn die Tonuserhöhung entsteht und zum relevanten behindernden Faktor wird. Es ist aber auch vorstellbar, dass die negativen Einflüsse der Spastik auf den Krankheitsverlauf und den Rehabilitationsprozess durch präventive Injektionen verhindert werden können. Patienten mit einem sehr hohen Risiko eine relevante Spastik zu entwickeln, oder jene mit einer beginnenden Spastik mit erhöhtem Risiko einer zunehmenden Tonusstörung, könnten im Frühstadium oder auch präventiv von BoNT A-Injektionen profitieren. Möglicherweise können sie so dem Teufelskreis von Spastizität, Muskelverkürzung, Schmerzen und zunehmender Behinderung entgehen.

Das Interview führte Dr. Kirsten Schuster, Frankfurt a.M.

Besonderheiten und Studiendaten

Xeomin® enthält nur das Botulinum Neurotoxin des Typs A, bei dessen Herstellung bakterielle Fremdproteine wie die Komplexproteine technisch aufwändig entfernt werden. Bisherige Studiendaten ergeben, dass dies keinen Einfluss auf Stabilität und Diffusionsverhalten des Neurotoxin-Präparates hat. Tierexperimentelle Daten und die Ergebnisse bisheriger klinischer Studien deuten jedoch darauf hin, dass die Komplexproteine das antigene Potenzial erhöhen könnten [ 1 ]. Hierzulande ist Xeomin® zugelassen zur symptomatischen Behandlung von Blepharospasmus und zervikaler Dystonie mit überwiegend rotatorischer Komponente (Torticollis spasmodicus) sowie der Spastik der oberen Extremitäten nach Schlaganfall (mit Handgelenkbeugung und gefausteter Hand) bei Erwachsenen. Als einziges Botulinumtoxin-Präparat ist es bei Raumtemperatur bis zu 25° C lagerbar (Fachinformation Xeomin® 50 LD50-Einheiten, April 2012; Xeomin® 100 LD50-Einheiten, Mai 2011).


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Prof. Dr. Jörg Wissel, Berlin