Liebe Leserinnen und Leser,
durch die Einführung des Patientenrechtegesetzes, über das im Bundestag voraussichtlich
noch im Laufe des Jahres beraten wird, soll es dem Patienten leichter gemacht werden,
sich gegen Behandlungsfehler zu wehren. Grundsätzlich ist dieser Weg hin zur Etablierung
einer Patientensicherheitskultur zu begrüßen. Dabei darf es aber nicht um die ausufernde
Infragestellung jeglicher nicht optimaler Behandlungsergebnisse gehen. Gerade den
Kostenträgern, die mit dem Gesetz verpflichtet werden sollen, jedem Vorwurf ihrer
Mitglieder nachzugehen, kommt dabei ein hohes Maß an Verantwortung zu. Die Differenzierungsfrage
zwischen einem anzuerkennenden Behandlungsfehler und einer unvermeidbaren Komplikation
wird sicherlich häufiger als bisher die Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen
der Ärztekammern wie auch die Medizinischen Dienste der Krankenkassen (MDK) beschäftigen.
Entsprechend der Behandlungsfehlerstatistik der MDK-Gemeinschaft bearbeiteten die
MDK-Gutachter im Jahr 2011 insgesamt 12 686 Behandlungsfehlervorwürfe; im Jahr 2007
waren es noch weniger als 11 000 (Quelle: www.aerzteblatt.de/nachrichten [5. Sept.
2012]). Dabei blieb die Anerkennungsquote allerdings mit ca. 30 % weitgehend unverändert
– insgesamt wurden 4068 der Behandlungsfehlervorwürfe als gerechtfertigt angesehen.
Unser Fach Orthopädie und Unfallchirurgie steht hier – leider – im besonderen Fokus:
unter den 10 häufigsten Krankheitsbildern, bei denen Behandlungsfehler bestätigt wurden,
sind allein 6 aus unserem Gebiet zu finden. Die Kniearthrose (159) und die Hüftarthrose
(140) liegen auf Platz 1 und 2, gefolgt von Zahnkaries (134), Oberschenkelbruch (111),
Zahnnerventzündung (108), Unterschenkelbruch (85), Dekubitus (81), sonstige Zahnkrankheiten
(73), Unterarmbruch (67) und Bandscheibenschäden (58) (Quelle: Medizinischer Dienst
des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen [MDS], www.mds-ev.de)). Geht man der Frage
nach, wie hoch die Anerkennungsquote in Bezug auf die Antragsstellungen liegt, so
liegt die Orthopädie und Unfallchirurgie mit 30 % ebenfalls mit Patz 4 relativ weit
vorne, hinter der Pflege (51 %), Zahnmedizin (43 %) und Gynäkologie (34 %).
Auch wenn man der gutachterlichen Bewertung des MDK entgegenhalten kann, dass nicht
immer das Prinzip der Facharztgleichheit eingehalten wird, so decken sich die genannten
MDK-Zahlen doch weitgehend mit den Statistiken der Schlichtungsstellen der Ärztekammern.
Von den in 2011 bearbeiteten 7500 Fällen wurden etwa ein Drittel als Behandlungsfehler
anerkannt. Nach Angabe der Ärztekammer Nordrhein entfielen in 2011 von insgesamt 520
anerkannten Fällen 89 (17 %) auf das Fachgebiet Orthopädie und Unfallchirurgie (Quelle:
Bericht der Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler der Ärztekammer Nordrhein
19. 11. 2011).
Aufgrund dieser Datenlage sind wir als Orthopäden und Unfallchirurgen ganz besonders
gefragt, die „Fehlervermeidung“ als integralen Bestandteil unseres täglichen Handelns
anzusehen. Fehler dürfen dabei nicht nur als Fehlverhalten Einzelner aufgefasst werden,
sondern vielmehr als Versagen im System. Ein System, das zunehmend geprägt wird von
Arbeitsverdichtung, Ökonomisierung und Arbeitsdelegation, muss kritisch hinterfragt
und gegebenenfalls verändert werden. Es gilt daher herauszufinden, wo und weshalb
sich Fehler häufen und wie diese künftig vermieden werden können. Unser Fach wird
sich künftig ganz besonders und intensiv den Fragen der Struktur- und Qualitätsverbesserung
stellen müssen. Diese Aufgabe wollen und müssen wir angehen. Deshalb ist es aber auch
wichtig, sich nicht nur auf der rein medizinischen Ebene zu bewegen. Der fachverantwortliche
Arzt muss in Klinik und Praxis mit einem entsprechenden Wissen und Verantwortungsbewusstsein
sowohl die Struktur- als auch Organisationsdirektive besitzen. Wenn von Einkäufern
oder Einkaufsverbünden aufgrund ausschließlich wirtschaftlicher Überlegungen die zu
verwendenden Implantate vorgeschrieben werden, diese aber möglicherweise mit einer
höheren Versagerquote versehen sind (wie bei der aktuellen Diskussion bei bestimmten
Metall-Metall-Gleitpaarungen evident), so darf berechtigterweise die Frage gestellt
werden: wer ist verantwortlich für den beim Patienten entstandenen Schaden?
Auch ein weiterer Aspekt wird uns in diesem Zusammenhang künftig immer mehr beschäftigen:
da es in vielen Kliniken durch das Gebot der Wirtschaftlichkeit zunehmend zur Neuverteilung
von Aufgaben kommt, sich neue Gesundheitsfachberufe etablieren und die Profile der
Berufsgruppen verschwimmen, entsteht die Frage, wer die Organisationsverantwortung
trägt. Während Ärzte weiterhin kodieren, Briefe schreiben, Reha-Anträge stellen und
Krankenkassenanfragen beantworten, stehen zunehmend Nichtärzte im OP. Meist gehören
diese jedoch unter die Personalhoheit der Pflegedirektion. Auch wenn das konkret durchgeführte
Handeln einer auch rechtlich eindeutig zu bewertenden ärztlichen Delegationsleistung
entspricht, wird es doch immer schwieriger, gerade für dieses „den Arzt entlastenden
Personal“ die Organisationsverantwortung zuzuordnen und letztendlich zu übernehmen.
Wir als Orthopäden und Unfallchirurgen wollen und sollen diese vielfältigen Verantwortungsbereiche
mittragen bzw. beibehalten. Patientensicherheit und ergebnisorientierte Behandlungsqualität
müssen oberste Priorität besitzen. Das Unternehmen Krankenhaus bedarf der ethischen
Verantwortung des Arztes. Ihm darf auch mal ein Fehler unterlaufen, aber durch eine
möglichst optimale Organisations- und Weiterbildungsstruktur sollte alles dafür getan
werden, solche zu vermeiden. Fehlervermeidung bedeutet daher stetige und durchaus
selbstkritische Hinterfragung des eigenen Handelns, aber auch die aktive Mitgestaltung
des täglichen – und insbesondere dem Wirtschaftlichkeitsgebot unterliegenden – Arbeitsumfelds.
Deshalb ist es wichtig, die verschiedenen Qualitätsinitiativen unserer Fachgesellschaften,
wie z. B. die Etablierung von Traumanetzwerk und Endoprothesenregister, fest in die
Versorgungsstruktur unseres Gesundheitssystem zu integrieren. Auch wenn Zertifizierungsmaßnahmen
zur Bildung von Trauma- und Endoprothesenzentren kosten- und zeitaufwendig sind und
von dem ein oder anderen der Kritik der „Zertifizitis“ unterzogen werden, so tragen
diese Strukturmaßnahmen sicherlich zur verbesserten Versorgungsqualität und Patientensicherheit
bei. Jedes Krankenhaus, welches die geforderten Voraussetzungen in personeller und
struktureller Hinsicht erfüllt, soll und darf das Qualitätssiegel des „zertifizierten
Zentrums“ tragen. Kliniken, die ihre Schwerpunktausrichtung in anderen Struktur- oder
Fachbereichen sehen, müssen dies akzeptieren und damit auch ehrlich umgehen. Das schafft
Vertrauen zwischen Klinik, Arzt und Patient.
Ein Gut, das wir künftig pflegen sollten und müssen.
Ihre
Prof. Dr. med. Ulrich Stöckle[]
Prof. Dr. med. Dieter C. Wirtz[]