? Patienten mit chronischer Nierenerkrankung haben ein besonders hohes Risiko für
eine Mangelernährung. Welche Faktoren bedingen das? Warum sind die individuellen Anforderungen
an die Ernährungstherapie so speziell?
Dr. med. Dr. troph. Jörg Ferber: Das Risiko für eine Mangelernährung ist bei Patienten mit chronischer Nierenerkrankung
tatsächlich sehr hoch: Auswertungen von BIA-Messungen (BIA: bioelektrische Impedanzanalyse)
in unserer Praxis über mehrere Jahre haben die Angaben in der Literatur bestätigt.
Die Prävalenz der Mangelernährung beträgt bei dialysepflichtigen Patienten 20–70 %
[
2
]. Die Schwankung ist durch die unterschiedlichen Bestimmungsmethoden zu erklären.
Bis zu 10 % aller Patienten sind sogar hochgradig mangelernährt [
3
]. Die Ursachen sind sehr vielfältig, meist gibt es auch mehrere Gründe [
3
]. Das Auftreten einer Urämie führt häufig zu Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. Dazu
kommt oft eine Appetitlosigkeit, die unter anderem durch die Anhäufung urämischer
Toxine hervorgerufen wird. Auch Veränderungen des Geschmacksinns, die Einnahme vieler
Medikamente sowie Depressionen tragen zum verminderten Appetit bei.
An der Entstehung einer Mangelernährung ist zudem eine metabolische Azidose bei ungenügender
Pufferung ganz entscheidend beteiligt. Sie führt zu einem gesteigerten Proteinkatabolismus,
einer vermehrten Oxidation verzweigtkettiger Aminosäuren und verminderter Synthese
viszeraler Proteine [
4
]. Zudem muss beachtet werden, dass bei jeder Dialysesitzung Eiweiße und andere wichtige
Nährstoffe wie Glukose, wasserlösliche Vitamine, Spurenelemente und Carnitin verloren
gehen. Der Nährstoffbedarf kann im Krankheitsverlauf sehr variieren, sodass die Anforderungen
individuell sehr verschieden sind. Kritische Substanzen müssen je nach Bedarf zusätzlich
aufgenommen werden. Verwirrend für den Patienten ist dabei, dass in der prädialytischen
Phase eine Reihe von ernährungs-bedingten Verhaltensweisen umgekehrt praktiziert werden
mussten. Daher ist es von hoher Bedeutung, sich mit den Patienten sehr intensiv über
ihr früheres und jetziges Ernährungsverhalten in gut verständlicher Form auseinander
zu setzen.
? Welches sind die Hauptprobleme Ihrer Patienten in Bezug auf Ernährung und was können
Sie dagegen tun?
Ferber: Die Hauptprobleme für die Patienten sind Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall
und daraus resultierend die massive Gefahr der Mangelernährung. Sie zu vermeiden,
ist ein wichtiges Ziel der Therapie. Deshalb ist eine frühzeitige Diagnose der Mangelernährung,
eine Ernährungsberatung sowie eine ernährungstherapeutische Betreuung gemäß dem Stufenschema
und den Empfehlungen der "Leitlinien für Enterale und Parenterale Ernährung für Patienten
mit Nephrologischen Erkrankungen" [
2
], [
5
], [
6
] ganz wichtig. Zeigt sich ein reduzierter Ernährungszustand, besteht die Indikation
für eine unterstützende Ernährungstherapie.
Im ersten Schritt sollte angestrebt werden, durch entsprechende diätetische Maßnahmen
die Nährstoffzufuhr zu verbessern. Ist dies nicht erfolgreich, sollte eine enterale
Ernährung in Betracht gezogen werden. Zunächst können orale Trinksupplemente hilfreich
sein. Zur ergänzenden Ernährung von Dialysepatienten ist Trinknahrung mit hohem Energie-
und Eiweißgehalt geeignet. Wenn möglich, sollten die Patienten immer zumindest eine
partielle orale oder enterale Ernährung erhalten.
Reicht diese nicht aus, wird die Initiierung einer intradialytischen parenteralen
Ernährung (IDPE), also eine Ernährung während der Dialyse, empfohlen. Wichtig ist
es, die parenterale Ernährungstherapie immer individuell an die Situation des Patienten
und dessen Nährstoffbedarf anzupassen. Die Mehrzahl der Patienten benötigt eine elektrolytfreie,
volumenminimierte und sehr proteinhaltige Nährlösung. Der besondere Bedarf an wasserlöslichen
Vitaminen wird durch eine Zugabe spezieller flüssiger Vitaminpräparate in die Nährlösung
zur IDPE erst kurz vor der Verabreichung gedeckt. Standardprodukte zur parenteralen
Ernährung, die diese Zusammensetzung aufweisen, sind nicht im Markt erhältlich.
? Wie entscheiden Sie, ob ein Patient eine Ernährungstherapie erhält?
Ferber: Wichtige Hinweise auf den Ernährungszustand und somit auf den Bedarf einer Ernährungstherapie
geben die Anamnese und ein Screening mithilfe des Subjective Global Assessments (SGA).
Dies wird bei uns durch speziell geschultes Fachpersonal durchgeführt. Aussagekräftig
ist auch die BIA-Messung, die bioelektrische Impedanzanalyse, welche eine Ernährungsberaterin
mithilfe eines versorgenden Unternehmens auswertet. Zudem führen wir ein regelmäßiges
Monitoring bestimmter Blutparameter (wie das Präalbumin und Albumin) durch. Alle Untersuchungen
zusammen ergeben ein umfassendes Bild des Risikopotenzials eines Patienten, auf dessen
Basis Arzt und Ernährungsberaterin gemeinsam über ernährungstherapeutische Maßnahmen
entscheiden können.
? Sie haben eine Ernährungsberaterin (Ökotrophologin) in Ihrer Praxis zur unterstützenden
Beratung und Aufklärung Ihrer Patienten etabliert. Welche Erfolge können Sie durch
die Ernährungsberatung verzeichnen und wie wirkt sich dies auf die Kostensituation
aus?
Ferber: Die Lebensqualität der chronischen nephrologischen Patienten in unserer Praxis (und
sicher auch in anderen nephrologischen Praxen) ist meist sehr eingeschränkt. Zunehmend
werden die zu behandelnden Menschen älter und ihre Krankheitsbilder komplexer. Es
ist bekannt, dass eine Mangelernährung als unabhängiger Prognosefaktor für die Morbidität
und Mortalität von Dialysepatienten eingestuft wird [
2
]. Deshalb zahlt sich die Ernährungsberatung aus unserer Sicht für die Patienten auf
jeden Fall aus. Supplementierende Maßnahmen werden oft nur für eine bestimmte Zeit
und nicht dauerhaft benötigt. In der Regel kann es gelingen, den Ernährungszustand
zu stabilisieren oder sogar zu verbessern. Das führt zu weniger Komplikationen, einer
Minderung der Häufigkeit stationärer Aufenthalte oder deren Verweilzeit, einer Verbesserung
der Langzeitprognose und vor allem der Lebensqualität. Zudem wird den Patienten durch
Anregung des Appetits wieder eine orale Ernährung ermöglicht. Für Transplantationen
kann mithilfe der Ernährungstherapie eine verbesserte Ausgangslage geschaffen werden.
Dies alles kann sich positiv auf die Behandlungskosten auswirken.
? Rechnen Sie die Ernährungsberatung ab und wenn ja, bei welchen Patienten?
Ferber: Bislang sind diese Leistungen in unsere Praxisarbeit implementiert und haben noch
zu keiner Belastung der Kostenträger geführt. Investieren bedeutet unternehmerisch
auch profitieren. Diese oftmals nicht so ohne Weiteres messbare Größe finden wir in
einem weniger belasteten Patienten wieder, der mit ebenso weniger negativen Kenngrößen
seiner Erkrankung ein höheres Maß an Wohlbefinden rückmeldet. Gleichsinnig dazu ist
auch eine Psychologin im Team tätig.
? Anhand welcher Parameter messen und dokumentieren Sie diese Erfolge?
Ferber: Wir dokumentieren beispielsweise die BIA-Messungen als Verlaufsreihen sowie
die Präalbumin- und Albuminwerte. Dazu benutzen wir unsere Praxissoftware, in der
die Patientendaten gespeichert sind. Ganz wichtig ist es, die Berechnung für den individuellen
Nährstoffbedarf des Patienten bei einer IDPE festzuhalten. Somit sind alle Daten verfügbar
und für Anfragen dokumentiert. Wenn auch noch keine Marker im Sinne ernährungstherapeutischer
Qualitätssicherung in den nephrologischen Systemen vorgeschrieben sind, wie beispielweise
in der Qualitätssicherung bei den Dialyseverfahren, sollte man nicht vergessen, dass
eine exakte Dokumentation der Vorgehensweise im Bereich der Ernährungsanalyse und
der daraus resultierenden Therapie selbstverständlich zu fordern ist. Dies gibt im
Praxisalltag auch Sicherheit für den Fall von Anfragen durch die Kostenträger.
? Wie setzen Sie die Ernährungstherapie trotz des großen Zeitdrucks in Ihrem Praxisalltag
um?
Ferber: Das Screening und die Dokumentation übernehmen Mitarbeiter, die speziell im Themenfeld
Ernährungstherapie fortgebildet sind. Den Ablauf haben wir inzwischen fest in den
Praxisalltag implementiert. Die Ernährungsberaterin übernimmt die Beratung der Patienten
und trifft eine Vorauswahl der Maßnahmen. Sie bietet auch eine Ernährungssprechstunde
für die Patienten an. Als Nephrologe und Ökotrophologe leite ich dann die ernährungstherapeutischen
Maßnahmen in die Wege. Wir nutzen zudem die Unterstützung von externen Versorgern,
mit denen unsere Praxis eine vertrauensvolle Zusammenarbeit pflegt. Wir erhalten zum
Beispiel Unterstützung bei der BIA-Messung, der patientenindividuellen Verlaufsdokumentation,
werden in der Praxis auf den Umgang mit Produkten und Pumpen geschult und haben die
Option, an verschiedenen Fortbildungsveranstaltungen teilzunehmen.
? Sie haben eben den individuellen Bedarf dieses Patientenklientels betont und uns
Ihre Therapieentscheidung transparent gemacht. In letzter Zeit gibt es verstärkt kassengetriebene
Bestrebungen, diesen Entscheidungsablauf und Versorgungsprozess zu automatisieren.
Können diese Systeme der komplexen Thematik gerecht werden?
Ferber: Diese Systeme wurden in erster Linie dafür entwickelt, Kosten im Gesundheitssystem
einzusparen, was grundsätzlich wichtig ist. Dennoch können diese Systeme nicht die
ganze Komplexität des Bedarfs und der Versorgung von Patienten mit chronischen Nierenerkrankungen
erfassen. Ihr spezieller Bedarf an Nährstoffen erfordert in der Regel auch eine sehr
individuelle Produktauswahl. Diese Anforderungen und darüber hinaus der Bedarf der
Praxis (wie z. B. die Notwendigkeit, die Ernährungstherapie über ein Pumpensystem
zu verabreichen) werden beim automatisierten Versorgungsprozess nicht berücksichtigt.
Darüber hinaus prüfen die Systeme nicht, ob eine parenterale Ernährung die einzige
Therapieoption für den Patienten ist.
Man sollte auch beachten, dass es sich bei der Ernährungstherapie nicht um generische
Produkte handelt, die über einen Preisvergleich ausgewählt werden können. Die ausgewählten
Produkte verschiedener Hersteller unterscheiden sich meist in ihrer Zusammensetzung,
was vor allem vor dem Hintergrund, dass das Programm keine Kompatibilitäts- und Stabilitätsaussagen
trifft, ungünstig ist. Die komplexe Therapieentscheidung bei nephrologischen Patienten
kann in solch einem System somit nicht zufriedenstellend abgebildet werden. Obwohl
der Arzt keinen großen Einfluss mehr auf die Therapie hat, trägt er dennoch nach wie
vor die volle Verantwortung.
Nephrologische Patienten weisen eine Mangelernährung nicht erst zum Zeitpunkt der
Dialyse auf, sondern entwickeln diese auf dem oft langen, komplexen Weg ihrer Nierenerkrankung.
Internistisches und chirurgisches Fachwissen haben in den letzten Jahren die am Ende
der Erkrankung stehende Nierenersatztherapie erfolgreich reifen lassen. Als eine dritte
Säule sollte nunmehr die Ernährungstherapie hinzu konzentriert und ausgebaut werden.
Dabei sollte der Qualitätsanspruch dem Begriff "billig" überlegen sein. Wir sind es
unseren Mitmenschen schuldig.
! Herr Dr. Dr. Ferber, ich danke Ihnen für das Gespräch!