Dtsch Med Wochenschr 2013; 138(17): 874-875
DOI: 10.1055/s-0032-1329045
Referiert – kommentiert
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Invasive Therapie des Schlaganfalls besser als Lyse? – Die Zeitintervalle der Schlaganfallbehandlung müssen kürzer werden

Is invasive therapy for stroke better than lysis? – Time periods during stroke treatment have to be shortened
O. Meier
,
R. Haberl
Further Information
Oliver Meier
Prof. Dr. med. Roman Haberl
Klinikum München GmbH – Klinikum Harlaching– Klinik für Neurologie und Neurologische Intensivmedizin

Publication History

Publication Date:
16 April 2013 (online)

 

Referat

Invasive Therapie des Schlaganfalls besser als Lyse?

Hintergrund: Die kausale Therapie des ischämischen Schlaganfalls besteht in der Beseitigung des gefäßverschließenden Thrombus. Aktuell stellt die intravenöse Thrombolyse mit rekombinantem Plasminogenaktivator (rt-PA) die einzige zugelassene Option dar. So können aber nur weniger als 10% der Schlaganfallpatienten behandelt werden, da ein strikter Zeitraum von inzwischen maximal 4,5 Stunden nach Auftreten der Symptome gilt. Außerdem existieren eine Reihe von Kontraindikationen, die eine systemische Lyse verbieten. Selbst wenn die Lyse möglich ist, wird der Thrombus nur in etwa 40% der Fälle aufgelöst. Aufgrund dieser Limitationen hat die interventionelle Therapie des akuten Schlaganfalls in letzter Zeit deutlich zugenommen. Mittels Katheter wird dabei eine mechanische Thrombolyse, eine Thrombusaspiration, eine selektive arterielle Lyse oder eine Stent-gestützte Rekanalisation des verschlossenen Gefäßes durchgeführt. Die Evidenz dieser Techniken ist bislang ungeklärt. Im New England Journal of Medicine wurden jetzt gleich drei randomisierte Studien zur aktuellen Therapie des ischämischen Schlaganfalls publiziert: – Ciccone et al. verglichen die intravenöse Lyse mit einer primären endovaskulären Therapiestrategie. – Die zweite Studie von Broderick et al. untersuchte, ob eine sekundäre endovaskuläre Therapie nach primärer Lyse besser ist als Lyse allein. – Kidwell et al. gingen schließlich der Frage nach, ob durch bestimmte Bildgebungsverfahren die Patienten identifiziert werden können, die von einer Embolektomie profitieren, wenn keine Lyse mehr durchgeführt werden kann.

Methoden: In die Studie von Ciccone et al. wurden 362 Patienten mit akutem ischämischen Schlaganfall aufgenommen, deren Symptome nicht länger als 4,5 h bestanden. Sie wurden randomisiert zu einer endovaskulären Therapiestrategie oder intravenöser Lyse. Die endovaskuläre Strategie konnte aus einer selektiven intraarteriellen Lyse bestehen, einer Thrombusaspiration, einer mechanischen Zerkleinerung oder einer Kombination aller drei Verfahren. Primärer Endpunkt war das Überleben ohne Behinderungen nach 3 Monaten. Broderick et al. untersuchten einen weiteren Aspekt: Sie randomisierten 656 Schlaganfall-Patienten, die nach maximal 3 Stunden systemisch lysiert worden waren, zu einer sekundären endovaskulären Therapie oder keiner weiteren Therapie. Primärer Endpunkt war auch hier das Überleben nach 90 Tagen ohne wesentliche Behinderung (Rankin-Score <2). Die Patienten, deren Symptome schon 8 h bestanden und für die daher eine Lyse keine Therapieoption mehr darstellte, wurden schließlich von Kidwell et al. untersucht. Sie wurden mit CT oder MRT daraufhin untersucht, ob das Infarktareal eine Penumbra zeigte, also Hirngewebe, welches geschädigt, aber noch nicht untergegangen war. In Abhängigkeit eines solchen Gebiets wurden die Patienten zu einer mechanischen Embolektomie oder einer konservativen Standard-Therapie randomisiert. Endpunkt war auch in dieser Studie das Überleben ohne Einschränkungen nach 90 Tagen.

Ergebnisse: Bei Ciccone et al. wurden je 181 Patienten endovaskulär oder mit systemischer Lyse behandelt. Die Lyse begann im Mittel 2,75 h nach Symtombeginn, die Intervention eine Stunde später (p<0,001). Nach 3 Monaten überlebten in der Interventionsgruppe 30,4% ohne Einschränkungen und in der Lyse-Gruppe 34,8% (adjustierte Odds Ratio 0,71; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,44–1,14). Dieser Unterschied war statistisch nicht signifikant (p=0,16). Ebenso gab es keinen Unterschied bei tödlichen oder nicht-tödlichen Hirnblutungen als Komplikation der Therapie oder anderen schweren unerwünschten Wirkungen. Die Broderick-Studie, die eine sekundäre Intervention nach Lyse untersuchte, wurde nach 656 Patienten vorzeitig durch das Sicherheitskomitee gestoppt, da sich kein positives Ergebnis zeigte: 40,8% der Patienten erreichten den primären Endpunkt nach sekundärer endovaskulärer Therapie und 38,7% der Patienten nach systemischer Thrombolyse alleine (absolute adjustierte Differenz 1,5 Prozentpunkte, 95%-KI -6,1 bis 9,1). Auch die Mortalität war in beiden Gruppen mit 19,1% (Intervention) bzw. 21,6% (nur Lyse) gleich (p=0,52), ebenso die Rate an symptomatischen Hirnblutungen (6,2%/5,9%, p=0,83). In die Studie von Kidwell et al. wurden 118 Patienten aufgenommen. 58% hatten eine Penumbra, die als günstig für eine Rekanalisierung angesehen wurde. Bei 67% der Embolektomie-Gruppe konnte das Infarktareal revaskularisiert werden. 21% waren nach 90 Tagen verstorben. Symptomatiche Hirnblutungen traten bei 4% auf. Nach 90 Tagen gab es zwischen den beiden Behandlungsstrategien keinen Unterschied im primären Endpunkt. Die Embolektomie war der Standard-Therapie nicht überlegen, unabhängig davon, ob eine Penumbra vorlag oder nicht. Es lag keine Interaktion zwischen dem neuroradiologischen Bildergebnis und der daraufhin zugeteilten Behandlung vor (p=0,14).

Folgerung: Die interventionelle Therapie des akuten ischämischen Insults ist der aktuell etablierten systemischen Thrombolyse nicht überlegen. Dabei spielt es keine Rolle, ob primär interventionell therapiert wird, ob die Intervention nach rascher Lyse durchgeführt wird oder ob 8 h nach Symptombeginn interventionell rekanalisiert wird. Auch neuroradiologische Verfahren können nicht die Patienten identifizieren, die von einer Intervention profitieren werden.

N Engl J Med 2013; 368: 893–903, 904–913, 914–923

Dr. Christoph Feldmann, Köln


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Kommentar

Die Zeitintervalle der Schlaganfallbehandlung müssen kürzer werden

Die Therapie des akuten ischämischen Schlaganfalls umfasst in spezialisierten Zentren neben der etablierten systemischen Lysetherapie mit rt-PA (Alteplase) die neuroradiologischen Interventionen mit Stent-Retrievern oder die lokale rtPA-Applikation. Im Gegensatz zu der intravenösen Lysetherapie (Lees et al. Lancet 2010; 375: 1695–1703) fehlt bis zum heutigen Tage die Effizienzanalyse der neuroradiologischen Maßnahmen. Die bessere Wieder-Eröffnungsrate wurde gleichgesetzt mit einer Verbesserung der Prognose – der Nachweis darüber stand jedoch aus.

Im New England Journal of Medicine erschienen nun drei Arbeiten dazu: Ciccone et al. untersuchten die endovaskuläre Therapie im Vergleich zur systemischen i.v. Lyse, Broderick et al. den kombinierten Ansatz von endovaskulärer Therapie nach i.v. Lyse verglichen mit i.v. Lyse allein und Kidwell et al. die Selektion von Patienten für die endovaskuläre Therapie anhand einer im MRT oder CT nachgewiesenen Penumbra. Keine der beschriebenen Maßnahmen war der systemischen Lyse überlegen. Der Grund liegt möglicherweise darin, dass die Wiederherstellung der Hirndurchblutung in allen drei Arbeiten zu spät gelang. In der italienischen Arbeit von Ciccone et al. begann die Intervention im Median nach 3,75 Stunden (eine Stunde später als die i.v. Lyse), in der Penumbra-Arbeit (Kidwell et al.) sogar erst nach 5,5 Stunden. Broderick et al. zeigten in einer Subgruppenanalyse, dass Patienten von dem kombinierten i.v./endovaskulären Ansatz nur dann profitieren, wenn die i.v. Lyse innerhalb von 120 Minuten beginnt. Mit anderen Worten: die Zeit bis zur Einleitung der ersten reperfundierenden Maßnahme ist wichtiger als die Technik, mit der die Rekanalisation versucht wird, oder der Nachweis von überlebensfähigem Hirngewebe.

Dies gibt die Richtung für die weitere klinische Forschung vor: Alles, was den Beginn der reperfundierenden Therapie verzögert (Patiententransporte, Notaufnahmediagnostik, komplizierte venöse oder arterielle Zugänge, Perfusions- oder Penumbrabildgebung, zeitaufwendige Kernspintomographie) ist kontraproduktiv. Die derzeit in den internationalen und nationalen Richtlinien angegebenen Zeitintervalle der Schlaganfallbehandlung, wie eine „door-to-CT“-Zeit von 25 Minuten, eine CT-Analyse-Zeit von 20 Minuten, eine Zeit bis zum Erhalt der Laborergebnisse von 45 Minuten und eine „door-to-treatment“-Zeit von 60 Minuten (Alberts et al. Stroke 2011; 42: 2651–2665) sind zu lang. Alle Anstrengungen müssen darauf gerichtet sein, die Lyse-Therapie innerhalb von 90–120 Minuten nach Auftreten der ersten Schlaganfallzeichen zu beginnen. Um dies zu erreichen, ist es auch erlaubt, über prähospitale Lyse nachzudenken (Weber et al. Neurology 2013; 80:163–168). Andere Fortschritte in der akuten Schlaganfallbehandlung sind nicht in Sicht.


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Interessenkonflikte: keine

Oliver Meier
Prof. Dr. med. Roman Haberl
Klinikum München GmbH – Klinikum Harlaching– Klinik für Neurologie und Neurologische Intensivmedizin