Eine Reihe neuer Gerichtsurteile bringt Bewegung in die Vergabe von Rettungsaufträgen,
die bislang meistens fest in der Hand der großen Hilfsorganisationen waren. Ob und
welche Auswirkungen das auf die Qualität hat, ist offen.
Ein Krachen, ein Scheppern und hoffentlich nichts Ernstes passiert. Denn zunächst
heißt es warten, warten – bis der Rettungswagen kommt. Jeder, der einmal einen Notruf
abgesetzt hat, kennt die quälende Situation.
11,4 Millionen Rettungseinsätze im Jahr zählte die Bundesanstalt für Straßenwesen
(BASt) für 2008 und 2009 hierzulande. Und allein bei den jährlich rund 336.000 Einsätzen
zu Verkehrsunfällen dauerte es im Durchschnitt innerhalb von Ortschaften tagsüber
8,8, außerhalb 10,4 Minuten, bis ein Rettungsfahrzeug am Unfallort eintraf.
Folgt man manch Pressemeldung aus der letzten Zeit, drängt sich der Eindruck auf,
dass es bald viel länger dauern könnte.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof habe mit seinem Urteil "den Vorrang der Hilfsorganisationen
im Rettungswesen gekippt", moniert voller "Sorge" das Deutsche Rote Kreuz am 24. Mai
2012. Damit drohe Kommerz im Rettungswesen. Am Ende könnte dadurch der bislang ehrenamtlich
geprägte Katastrophenschutz in Deutschland sogar "zusammenbrechen". Denn private Rettungsdienstunternehmen
interessierten sich nur für wirtschaftlich attraktive Ballungsräume, wo doch die Versorgung
überall in Deutschland sichergestellt sein müsse.
In der Tat kippten die obersten bayerischen Verfassungshüter an jenem Tag das so genannte
Hilfsorganisationenprivileg. Wie in den meisten anderen Bundesländern bekommen bislang
die vier großen Hilfsorganisationen – Deutsches Rotes Kreuz (DRK), Johanniter Unfall-Hilfe
(JUH), Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), Malteser Hilfsdienst Deutschland (MHD) – auch
in Bayern quasi per Gesetz den Zuschlag für die Organisation der "bodengebundenen"
Rettungsfahrten. Private Anbieter kommen nur zum Zug, soweit die großen Hilfsorganisationen
"zur Übernahme des Auftrags nicht bereit oder in der Lage sind" – beschreibt es der
Bayerische Verfassungsgerichtshofs.
Doch die Zeiten dieses Privilegs gehen zu Ende. Denn das sei "mit der Berufsfreiheit
anderer privater Rettungsdienstunternehmer unvereinbar…" erklärten die obersten bayerischen
Verfassungshüter. Es ist nicht das einzige Urteil seiner Art.
"Ein pauschaler Ausschluss privater Firmen kommt nicht mehr in Frage, die Bundesländer
müssen aufgrund mehrerer höchstrichterlicher Gerichtsentscheide jetzt ihre Gesetze
anpassen", erklärt auch Michael Kuffer, Jurist bei der Unternehmensberatung KPMG in
München. Kuffer sieht Vorteile: "Die juristischen Nebel um die Vergabepraxis im Rettungswesen
lichten sich."
Und Sorge hie, Zufriedenheit dort: In manchen Bundesländern sei bereits eine erfreuliche
Tendenz zu mehr Transparenz und Wettbewerb bei den Ausschreibungen erkennbar, beobachtet
Uwe Fleischer, Präsident des Bundesverband Eigenständiger Rettungsdienste und Katastrophenschutz
e. V. (BKS). Wenngleich, leider tauchten ab und an schon neue Formulierungen in den
Ausschreibungen auf, nach denen Bewerber Nebenbedingungen erfüllen müssen, zum Beispiel
Strukturen für einen Erweiterten Rettungsdienst im Großschadensfall. Fleischer: "Das
bevorzugt eben doch wieder die Hilfsorganisationen." Man werde, so der BKS-Chef, dagegen
vor den Verwaltungsgerichten klagen.
Rund 2.300.000 Verkehrsunfälle gibt es jährlich auf deutschen Straßen.(Foto: ccvision)
Viele Schlüsselfragen zur optimalen Versorgung im Rettungswesen sind mangels Daten
offen. So kann das DGU-Traumaregister z. B. keine sichere Aussage über die Rolle der
Rettungszeit für das Überleben eines Verkehrsopfers machen, weil es nur die Daten
jener Verkehrsopfer erhält, die noch lebend in der Klinik eintreffen.(Foto: Fotolia/Harald
Söhngen)
Keine Frage: In der Branche tobt eine heftige Fehde darum, wer Rettungsfahrten in
Zukunft leistet und wer nicht. Ob die je nach Standpunkt gefürchtete oder ersehnte
Marktöffnung tatsächlich kommt, ist dabei ebenso offen, wie die Frage, welche Auswirkungen
das auf die Qualität der Versorgung haben könnte.
Historisch gewachsene Dominanz
Historisch gewachsene Dominanz
Noch wird der Markt von den großen Hilfsorganisationen dominiert. Das DRK schätzt
den Jahresumsatz im bundesdeutschen Rettungswesen auf zwei Milliarden Euro, hält davon
nach eigener Kalkulation gut die Hälfte. Weiter hinten folgen Johanniter, ASB, MHD.
Den Gesamtumsatz seiner 263 Mitgliedsfirmen bezifferte der BKS in 2010 hingegen auf
380 Millionen Euro. Und während das DRK an die 20.000 haupt- und 180.000 ehrenamtliche
Mitarbeiter zählt, verfügen alle Firmen im BKS zusammen über rund 6.000 Mitarbeiter.
Rettungsfahrt als "Hoheitliche Aufgabe"
Rettungsfahrt als "Hoheitliche Aufgabe"
Dass es überhaupt solch Streit gibt, liegt an juristischen Besonderheiten des Rettungswesens,
die es vom Rest des Gesundheitssystems unterscheidet. Für den Gesetzgeber ist eine
Rettungsfahrt keine medizinische Leistung. Das Sozialgesetzbuch V (SGBV) kennt Rettungsdienst
nur als einen Posten "Fahrtkosten" und legt fest, dass die Krankenkassen die Bezahlung
übernehmen müssen (§60 SGBV).
Doch die Finanziers sind in diesem Fall gar nicht die Organisatoren. Das ist vielmehr
der Staat selber – Rettungswesen ist im Juristendeutsch eine "Hoheitliche Aufgabe".
"Das Rettungswesen ist juristisch Teil des Sicherheitsrechts und das ist wiederum
klassische Angelegenheit der Bundesländer", erklärt Anwalt Kuffer. Damit steht der
Rettungsdienst dem Polizeirecht näher als der Behandlung im Krankenhaus oder in der
Arztpraxis. Der Staat regelt, wer für die Fahrten zuständig sein soll.
Die Dominanz der Hilfsorganisationen ist vielerorts erst nach dem zweiten Weltkrieg
entstanden. "Die Briten haben in ihrer Besatzungszone aufgrund ihrer eigenen Historie
die Feuerwehr befördert, die US-Amerikaner eher die Hilfsorganisationen", erläutert
Michael Kuffer. Dementsprechend dominierten in den südlichen Bundesländern noch heute
besonders die Hilfsorganisationen. In Berlin übernimmt bis heute die Feuerwehr.
Formalisiert wurde das Rettungswesen erst ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre.
Von Kiel bis Stuttgart legten die Länder damals in jeweils eigenen Rettungsdienstgesetzen
Spielregeln fest. "Die meisten Bundesländer haben dann zusätzlich in den letzten zehn
Jahren gesagt, dass es beim Krankentransport, der oft etwas mehr Zeit hat, weiterhin
auch Verträge mit Privaten Firmen geben kann", erklärt Kuffer. In der Notfallrettung
hingegen, einem besonders sensiblen Bereich, wurden die Privaten quasi per Gesetz
ausgeschlossen.
Je nach Sicht entstand so ein "Beispiel für anachronistische Planwirtschaft" (BKS)
oder ein "komplexes Hilfeleistungssystem", das eine effektive Versorgung sicherstellt
(DRK). Die Details sind in der Tat oft nur schwierig zu überschauen.
Für Baden-Württemberg etwa regelt sie neben dem Gesetz auch noch ein Rettungsdienstplan.
Er teilt das Land in 37 Rettungsdienstbereiche, meist decken sich die Grenzen mit
denen der Kreise. In jedem Bezirk ist ein Bereichsausschuss zuständig für die konkrete
Planung, legt zum Beispiel fest, wo Leitstellen errichtet werden und wie viel Personal
dort tätig ist. Zumeist agieren hier heute in integrierten Leitstellen Feuerwehr und
Rettungsdienste zusammen. Auch Stuttgart legt aber bislang gesetzlich fest, dass beim
Rettungsdienst die großen Hilfsorganisationen vorrangig den Zuschlag erhalten sollen.
Konkret verantwortlich und damit auch zuständig für die Vergabe sind aber in den meisten
Bundesländern die Landkreise und kreisfreien Städte. Sie schließen die Verträge für
die Rettungsfahrten ab. Nur noch einige Kreise leisten den Rettungsdienst bis heute
sogar in Eigenregie.
Verschlungene Pfad zum Geld
Verschlungene Pfad zum Geld
Für die Infrastruktur, für den Bau und Unterhalt von Leitstellen, für den Kauf und
Unterhalt von Fahrzeugen, gibt es staatliche Zuschüsse oder gar weitgehende Kostenübernahme.
Einzelne Rettungsfahrten werden hingegen fast immer nach Rechnung vergütet. Grundlage
ist eine komplizierte Hochrechung für das, was die Vertragspartner in den einzelnen
Rettungsdienstbezirken an Gesamtfahrtkosten für das kommende Jahr erwarten. Dieser
Plankostenansatz, dividiert durch die Zahl der erwarteten Rettungsfahrten, gibt einen
Pauschalpreis, den am Ende die Krankenkassen für die einzelne Fahrt begleichen werden.
Wer einmal den Zuschlag in einem Rettungsdienstbezirk bekommen hat, trägt kaum ein
Betriebsrisiko. Denn Abweichungen zwischen der prognostizierten und der tatsächlichen
Zahl an Einsätzen und den Kosten werden schlicht ins nächste Jahr geschoben. "Verluste
oder Überschüsse werden so mittelfristig ausgeglichen", erläutert Kuffer.
Die Rechtssprechung
Um dieses wohl austarierte System hat es schon vor dem Machtwort des Bayerischen Verfassungsgerichtshof
in den letzten Jahren heftige juristische Scharmützel gegeben. Sie kreisten um zwei
Fachbegriffe aus der Verwaltungssprache: Submissions- und Konzessionsmodell.
Vor allem in nördlichen Bundesländern werden die Aufträge bislang meist nach dem Submissionsmodell
vergeben. Der Süden – Bayern, Baden-Württemberg, Hessen – setzt hingegen auf das Konzessionsmodell.
Der Unterschied: Beim Submissionsmodell schließt die staatliche Stelle Verträge direkt
mit den Leistungserbringern, bezahlt auch zunächst dafür, refinanziert sich dann aber
bei den Krankenkassen. Beim Konzessionsmodell legen die Konzessionäre ihre Rechnung
hingegen direkt den Kassen vor. Der Staat entscheidet nur, wer die Konzession erhält.
Vor allem die EU macht Druck, fordert seit Jahren bei der Vergabe mehr Wettbewerb.
Schon 2001 zog der Europäische Gerichtshof (EuGH) erstmals eine Summe von 206.000
Euro als Grenzwert im Submissionsmodell ein. Liegen Aufträge im Rettungswesen darüber,
so die EU-Richter damals, müssten sie europaweit ausgeschrieben werden. Und dann gilt,
streng genommen, die so genannte Vergabekoordinierungsrichtlinie der EU, deren Ziel
der freie Wettbewerb am Markt ist. Doch Papier ist geduldig.
2008 leitete die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland
ein, um zu klären, ob Deutschland beim Submissionsmodell im Rettungswesen womöglich
weiterhin gegen diese EU-Richtlinie verstößt. Die Bundesregierung vertrat die Ansicht,
dass Rettungsdienst als Hoheitliche Aufgabe nicht unter die Richtlinie fällt. Die
Entscheidung des EuGH unter dem Aktenzeichen C-160/08 vom April 2010: Wer mit dem
Submissionsmodell arbeitet, muss EU-weit ausschreiben, es gilt das Vergaberecht. Michael
Kuffer hat keine Zweifel: "Wer heute im Rettungswesen nach dem Submissionsmodell ausschreibt,
muss das EU-weit tun." Eine Möglichkeit dazu bietet die so genannte TED-Datenbank
der EU (http://ted.europa.eu/TED/main/HomePage.do).
Andererseits legte der EuGH im März 2011 in einem anderen Streitfall C-274/09 aber
auch fest, dass Kommunen den Rettungsdienst nicht ausschreiben müssen, solange sie
Aufträge als Dienstleistungskonzession vergeben. Für viele Kommunale Träger sei es
generell leichter nach diesem Konzessionsmodell zu arbeiten, meint Kuffer: "Sie sind
dabei formal nicht an das kompliziertere Korsett des Vergaberechts gebunden." Allerdings
muss es auch hier in Zukunft mehr Transparenz geben. Auch eine Neuvergabe von Konzessionen
im Rettungsdienst müssen die Auftraggeber in Zukunft zumindest EU-weit bekannt machen,
was zum Beispiel Unternehmen aus Portugal zumindest theoretisch eine Chance gibt,
sich um eine Konzession in einem hiesigen Rettungsdienstbereich zu bemühen.
Der Auftraggeber steuert weiterhin über Vergabekriterien
Der Auftraggeber steuert weiterhin über Vergabekriterien
Womöglich sind diese Urteile für Private Anbieter dennoch nur ein Pyrrhussieg. Denn
den Auftraggebern bleibt freigestellt, Kriterien vorzuschreiben, die am Ende weiterhin
vor allem die Hilfsorganisationen erfüllen können: Etwa eine Mindestgröße, Mindestanforderungen
an die Ausstattung, Präsenz auch in ländlichen Gebieten, nebst ehrenamtlichen Ressourcen
für Großschadensereignisse. "Die Auftraggeber können damit über die Vergabekriterien
weiterhin dafür sorgen, dass die großen Organisationen den Zuschlag bekämen", erklärt
Kuffer, der auch keine Zweifel daran lässt, dass er den Vorrang der Hilfsorganisationen
befürwortet: "Es ist für den Staat ein Vorteil, dass er sich hierzulande auch für
größere Katastrophenfälle und auch beim erweiterten Rettungsdienst auf gut etablierte
Strukturen der Hilfsorganisationen verlassen kann – wenn die fehlen, muss man überall
mit hauptamtlichen Kräften nachsteuern und das ist am Ende deutlich teurer."
Anders sieht man das naturgemäß beim BKS. Katastrophenschutz sei zum einen gar kein
Alleinstellungsmerkmal für Hilfsorganisationen, in mehreren Bundesländern seien der
BKS oder Unterorganisationen auch als Katastrophenschutzorganisation anerkannt, erklärt
der Verband in seinen so genannten "Göttinger Positionen" 2011.
Ehrenamtliche Helfer "untauglich"
Ehrenamtliche Helfer "untauglich"
Vor allem aber hätten Ehrenamtliche im Medizinischen Rettungswesen, anders als im
Katastrophenschutz, gar nichts zu suchen. Uwe Fleischer: "Die Ausbildung eines ehrenamtlichen
Rettungssanitäters dauert 48 Stunden, das ist für den rettungsdienstlichen Einsatz
völlig untauglich". Im Rettungswesen sei Professionalität entscheidend.
Im Rettungswesen ist Professionalität entscheidend: der Patient muss im Mittelpunkt
stehen.(Foto: MEV)
Außerdem bedeute ein Katastrophenfall hierzulande heute zum Glück nur noch sehr selten
ein Medizinisches Großschadensereignis – sondern oft eine Naturkatastrophe, wie etwa
eine Überschwemmung, wo dann in der Tat auch Feuerwehr und THW nötig seien. Fleischer:
"Da sind Ehrenamtliche hochwillkommen und wir wollen ihre Leistung überhaupt nicht
schmälern, im medizinischen Rettungswesen aber sind sie fehl am Platz."
Der BKS plädiert deshalb dafür, durch mehr Wettbewerb auch mehr Professionalität und
auch Wirtschaftlichkeit in das System zu lassen. Das derzeitige Rettungswesen mit
seinen Budgets und theoretisch errechneten Bedarfsplänen böte keinerlei Anreiz zum
Ausschöpfen von Wirtschaftlichkeitsreserven. "Inzwischen überzieht ein chaotischer
Flickenteppich an Begrifflichkeiten, Hilfsfristen, Einsatzstrategien, Qualifikationsanforderungen
und Systemen die Rettungsdienstlandschaft der Bundesrepublik Deutschland", erklärt
der BKS. Nur eines sei in allen Bundesländern gleich. Fleischer: "Die Patienten spielen
lediglich eine untergeordnete Rolle."
Fehlende Parameter für die Qualitätsmessung
Fehlende Parameter für die Qualitätsmessung
Womöglich überdeckt der Streit um die Vergabepraxis im Rettungswesen am Ende die Suche
nach mehr Qualität der Versorgung aber mehr, als er sie fördert.
"Der Patient muss im Mittelpunkt stehen", mahnt Dr. Christoph Wölfl, stellvertretender
Vorsitzender bei der Sektion Notfall- und Intensivmedizin, Schwerverletztenversorgung
bei der DGU. Dabei sei ihm bei der Gleichsetzung Wettbewerb und Qualität "nicht geheuer".
Wölfl: "Es muss viel mehr professionelles Handeln erreicht werden – egal, wer dann
die Qualität bietet." Wichtig sei, dass Mitarbeiter gut ausgebildet und ausgerüstet
sind, wichtig sei ein internes und externes Qualitätsmanagement mit Komponenten wie
einem Crew-Ressources-Management (CRM) und Critical Incident Reporting (CIRS). Wölfl:
"Solche Qualitätsmerkmale müssen bei Ausschreibungen angesetzt werden und wer dann
diese Standards erreicht, kann mitmachen." Dass eine größere Anzahl von Rettungsdienstleistern
im System alleine nicht automatisch verbesserte Versorgung bedeute, verstünde sich
hingegen von selbst.
Die großen Hilfsorganisationen machten einen guten Job und die Qualität der präklinischen
Versorgung in Deutschland sei hoch, meint Professor Sascha Flohé vom Universitätklinikum
Düsseldorf. Diese Qualität könnten Private Träger sicher auch erbringen, doch sieht
Flohé keinen Grund durch Konkurrenz die Qualität zu erhöhen. Aus medizinischer Sicht
der Unfallchirurgen sei vor allem eine standardisierte Ausbildung auch für das schwere
Trauma wichtig. Flohé: "Da gibt es viele teilweise auch zertifizierte Kurse wie zum
Beispiel PHTSL."
Und dennoch gibt es eine Reihe von Aspekten, wo die Qualitätssicherung im Rettungswesen
weit hinter der in Arztpraxis und Krankenhaus hinterherhinkt. Erst in Ansätzen werden
überhaupt Qualitätsparameter erfasst und veröffentlicht.
Die Hilfsfrist als Qualitätsparameter
Die Hilfsfrist als Qualitätsparameter
Noch am bekanntesten ist die Hilfsfrist – in der Regel definiert als die Zeit zwischen
Absetzen eines Notrufs und dem Eintreffen eines Rettungsfahrzeugs am Ort des Geschehens.
Jedes Bundesland hat seine eigenen Werte im jeweiligen Rettungsdienstgesetz fixiert:
NRW fordert 5–8 Minuten in Zentren, 12 Minuten im ländlichen Raum, Mecklenburg-Vorpommern
fordert 10 Minuten im Jahresdurchschnitt. Baden-Württemberg verlangt 10 bis 15 Minuten.
Erst seit kurzem gibt es aber etwa im Südwesten überhaupt öffentlich zugängliche Zahlen.
2009 beschloss der Landesausschuss für den Rettungsdienst in Baden-Württemberg erstmals
eine umfassende Qualitätssicherung. Prompt beeilten sich DRK; ASB, Johanniter und
Malteser Mitte 2010 einen Qualitätsbericht für 2009 vorzulegen. Der fokussiert auf
die Hilfsfrist, die für den Einsatz von Rettungswagen in 2009 auch den Vorgaben genügte:
95 Prozent aller Fahrten hielten die geforderte Frist von maximal 10 Minuten ein.
Bei der "notärztlichen Hilfsfrist" (maximal 15 Minuten für das Eintreffen eines Notarztes
am Ort) schafften den Wert hingegen nur 4 von 37 Rettungsdienstbereichen. Immerhin
registriert das Stuttgarter Innenministerium für 2011 "Verbesserungen". Zufrieden
könne man damit nicht sein, solange die Fristen nicht überall eingehalten würden,
so das Ministerium .
Auch zeigen sich schon bei den unterschiedlichen Definitionen die Probleme der föderalen
Regelung. "Es gibt einzelne Bundesländer, die schreiben sich ganz schlanke Hilfszeiten
von acht Minuten in ihr Gesetz, was natürlich entsprechend teuer wird", erklärt Michael
Kuffer. Letzten Endes finanzierten dann alle Bundesländer den Luxus einzelner Länder
bei den Hilfsfristen eben über die GKV mit.
Vor allem aber: Alleine für sich reicht dieser Parameter kaum aus, um die Qualität
der Versorgung zu messen. Bei Verkehrsunfällen etwa scheint die Hilfsfrist alleine
keine valide Größe, um Qualität zu bewerten.
Das deuten neue Ergebnisse des Traumaregisters der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie
aus diesem Jahr an. Ausgewertet wurden dafür die Daten von 20.078 Patienten, die zwischen
1999 und 2008 binnen drei Stunden nach einem Unfall lebend in einer der 139 bei dieser
Auswertung berücksichtigten Kliniken ankam. Das Ergebnis: Rund 85 Prozent der Betroffenen
überlebte – und zwar völlig unabhängig davon, ob jemand binnen 30 Minuten oder erst
nach eineinhalb Stunden im Krankenhaus eingetroffen war. Das bleibt nur schwer interpretierbar.
Relevante Daten fehlen
Ein großer Haken ist die sehr wackelige Datenbasis. Zum einen kann das DGU-Register
die Werte zur Rettungszeit nur mühsam indirekt anhand der Angaben erfassen, die meistens
die einliefernden Notärzte in der Klinik machen. "Wir sind auf die Qualität dessen
angewiesen, was die Ärzte schreiben", berichtet Ulrike Nienaber, zuständig für Datenqualität
im DGU-Traumaregister. Meist folgen die Angaben der Ärzte bereits einem ersten "Standard",
dem Notarztprotokoll der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und
Notfallmedizin (DIVI). Es gebe aber, so Nienaber, durchaus auch noch schlichte Handzettel.
Wenn Angaben zum Patienten fehlen, versuchen Register-Mitarbeiter nachzurecherchieren.
Nienaber: "Mitunter kann der Unfallzeitpunkt aber auch nur geschätzt werden, und meistens
erfahren wir auch nicht, ob es eine technische Rettung gab." So gern die Statistiker
des Registers ihn hätten – ein Datenaustausch mit der Leitstelle, wo genauere Angaben
sofort zu haben wären, ist ihnen dafür untersagt. Nienaber: "Das ist falsch verstandener
Datenschutz und eine Katastrophe, denn unsere Statistiken könnten den Menschen viel
besser helfen, wenn wir die gesamte Rettungskette abbilden könnten."
Obendrein kann das Register eine sichere Aussage über die Rolle der Rettungszeit für
das Überleben eines Verkehrsopfers deshalb nicht leisten, weil es nur die Daten jener
Verkehrsopfer erhält, die noch lebend in der Klinik ankommen. Professor Rolf Lefering,
der an der Uni Witten / Herdecke Daten des Registers auswertet: "Für weitergehende
Aussagen über die Qualität im Rettungsdienst bräuchten wir Daten von einem gesamten
Kollektiv aller Unfallopfer."
Viele Schlüsselfragen zur optimalen Versorgung im Rettungswesen sind mangels Daten
offen. Systematische externe Qualitätssicherung finde bislang kaum statt, meint auch
der Rettungsassistent Marco Schmolinske aus Hamburg, der die Sachlage in einer Bachelor-Arbeit
zusammengestellt hat (Siehe Links in der Online-Ausgabe).
Nur einige Bundesländer machten bislang überhaupt stringentere Vorgaben zur Einführung
von Qualitätsmanagementsystemen und zur Qualitätssicherung. Doch Prozessqualität werde
dabei kaum gemessen. "Mit der Hilfsfrist wird zum Beispiel überprüft, wann ein Fahrzeug
vor Ort ist", erklärt Schmolinske. Doch was dann dort passiert, bleibe weitgehend
unbekannt: "Für das bestehende Qualitätsmanagement bleibt die medizinische Versorgung
vor Ort im Ergebnis oft eine Black-Box." In Baden-Württemberg hat jetzt eine "Stelle
zur trägerübergreifenden Qualitätssicherung im Rettungsdienst (SQE-BW)" vom Landesausschuss
für das Rettungswesen den Job bekommen, neue Qualitäts-Indikatoren zu entwickeln.
Hamburg und Berlin, so Schmolinske, hätten hingegen noch nicht einmal Vorgaben zur
Dokumentation. Die "Zersplitterung der Trägerverantwortung" sei ein weiteres Problem
für Qualitätsmanagement, so seine Analyse. Am Ende würden die Rettungsdienste bei
der Qualitätssicherung von Staat und Trägern weitestgehend sich selber überlassen.
Eine alte Forderung erlebt daher gerade eine gewisse Renaissance: Den Rettungsdienst
als eigenständige medizinische Leistung im SGBV verankern. So fordern es seit Jahren
viele Hilfsorganisationen, die Bundesarbeitsgemeinschaft Notärzte Deutschlands (BAND)
und auch die Gesundheitsminister der Länder. Dadurch würde es auf einen Streich möglich,
bundesweit einheitliche Qualitätsvorgaben im Rettungswesen einzuziehen, wie bei Arztpraxis
und Krankenhaus heute schon der Fall.
Doch mancher sieht auch genau in der anderen Richtung eine bessere Lösung. Die artifizielle
Trennung in Finanziers, alias Kassen, und in Qualitätskontrolleure, alias am Ende
die kommunalen Behörden, stört auch Michael Kuffer. Sein Diskussionsvorschlag: Darüber
nachdenken, das Rettungswesen nicht mehr über die Krankenversicherung sondern über
eine Steuer zu finanzieren – eine eigene Landessteuer. Kuffer: "Als guter Föderalist
finde ich, auch so wären Finanzierung und Qualitätskontrolle wieder in einer Hand."
Bernhard Epping (BE)